Frauenlager Ravensbrück – Selbstbehauptung zwischen Leben und Tod
Constanze Jaiser
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Etwa 123.000 Frauen waren im Lager Ravensbrück inhaftiert. Nach ihrer Ankunft wurden ihnen die Haare geschoren, sie bekamen Häftlingsnummer und -kleidung. Constanze Jaiser beschreibt den Lageralltag: die Ankunft, das Appellstehen, den Hunger und die Krankheiten. Ebenso die medizinischen Experimente, die Folter und die Tötungen. Aber es gab auch die Versuche der Selbstbehauptung der gefangenen Frauen in Form von Gedichten.
Ankunft
Der Eintritt in das Frauenlager des KZ-Ravenbrück bedeutete für die weiblichen Häftlinge einen Übertritt in eine fremde Welt – einen gewaltsamen. Stand am Anfang die Einzelne, mit ihrem Namen und ihrer Persönlichkeit, so fand sich am Ende der Aufnahmeprozedur eine Gestalt, die sich nur noch in der Nummer und der Häftlingskategorie von den anderen unterscheiden sollte. Von 1939 bis 1945 waren rund 120.000 Frauen im Frauenlager des Interner Link: KZ Ravensbrück inhaftiert, neben dem in Auschwitz-Birkenau war es das größte Frauenlager des nationalsozialistischen KZ-Systems. Tausende gefangene Frauen haben die Befreiung nicht erlebt.
Die Lageraufnahme hatte die systematische Erniedrigung der Frauen zum Ziel. Das SS-Personal handelte gemäß dem System, das sie vertraten, in militärischer Präzision und Disziplin gepaart mit Willkür und Gewalt. Sie wollten die ankommenden Frauen durch ihr Verhalten einschüchtern: Beleidigungen, Schreie und Flüche, Tritte und Schläge gehörten dazu. Die äußere Entstellung der Häftlinge durch die Rasur der Kopf- und Schamhaare sowie die Häftlingsuniformen waren ein nächster Schritt, um die Frauen ihrer sozialen und kulturellen Identität zu berauben.
Ankunft
Sie beraubten uns ganz und gar: Der Kleider, des letzten Hemdes, Und entzogen uns das Recht auf den eigenen Körper, Hatten alles beherrscht. Abgemagert, blau vom Foltern Standen wir als wehrlose Schar In einem großen Saal, Wie die Tiere hinter Gittern Zur Schau gestellt.
Wie ein Sinnbild des restlosen Elends Sind uns die kahlen Köpfe schwer, Die Gedanken irren umher, Schwarz, schläfrig und abgezehrt, Am Flügel verletzt. Der Blick, zu Boden geschlagen, Sieht lediglich, wie sich die Beine Auf dem elenden Weg In die neue Wohnstätte wagen, Eng wie ein Netz. Die Schenkel, Leiber und Brüste Brennen vor vergeblicher Scham, Gelächter, brutal und infam, Taxieren bei jeder Geste Das, was deines war. Diese Schau – ha, wie bedauerlich, Sie nicht zu sehen, mein Ehrenretter! Entblößt und erzittert Erkennst Du mich? Ich gebe Dir die Hand nicht, Sie ist meine nicht mehr. Für den gestohlenen Besitz Geben sie uns ein dunkles Leinenkleid. Ärmlig und voller Leid, Mit dem zur Maske erstarrten Antlitz Geh´ ich mit der Masse von dannen. Sollst Du meiner ansichtig sein, Erkennst mich nicht, da ich so verwandelt bin – Wie ein herabgestürzter Stern, Wie ein gestoßener Stein, Der nichts fühlen kann.
Gedicht von Maria Rutkowska Ravensbrück, Ankunft 20.06.1942
Vom Namen zu Winkel und Nummer
Die ankommenden Frauen wurden namentlich registriert, sie erhielten eine Häftlingsnummer und einen so genannten Winkel – ein farbiges Stoffdreieck, das sie zur äußerlichen Kennzeichnung auf ihrer Kleidung tragen mussten. Der Winkel wies ihnen innerhalb der "Häftlingshierarchie" sichtbar ihre Stellung zu. Zeuginnen Jehovas mussten einen lila Winkel tragen, "Asoziale" einen schwarzen, "Politische" einen roten Winkel und jüdische Häftlinge über dem jeweiligen Winkel einen weiteren, gelben, sodass ein Davidstern entstand. Auf den Winkeln der ausländischen Häftlinge, die meistens als "Politische" geführt wurden, wurde zusätzlich ihr Herkunftsland mit dem jeweiligen Anfangsbuchstaben vermerkt. Diese Einteilung, stets durch das Rassenkriterium dominiert, entschied darüber, wie viel ein Menschenleben wert war. Ganz oben innerhalb der Häftlingshierarchie standen die deutschsprachigen "Politischen" und "Kriminellen", in der Mitte die so genannten slawischen Rasse Zugehörigen, weiter unten, hinter den "Asozialen", die Jüdinnen sowie Sinti- und Roma-Frauen.
Zwang und Folter
In Ravensbrück herrschte eine komplexe Lagerordnung, gegen die die Häftlinge zwangsläufig verstoßen mussten. So konnten verdreckte Schuhe oder Hosen als Verstoß gelten. Solche geringfügigen Vergehen – manchmal auch lediglich die Laune einer Aufseherin – konnten drakonische Strafen zur Folge haben. Prügelstrafe, also 25 oder 50 Peitschenhiebe auf das nackte Gesäß, Bunkerhaft, also Einsitzen im Lagergefängnis, zusätzlich verbunden mit Nahrungsentzug oder Dunkelhaft sowie die Versetzung in den Strafblock, eine Art Strafkompanie innerhalb des Lagersystems, gehörten dazu.
Neben willkürlichen Strafen und Gewalt war das Appellstehen ein maßgebliches Folterinstrument. Mehrmals täglich mussten die Frauen zum Appell antreten. Sie mussten bei Wind und Wetter im Freien stehen, ohne sich zu bewegen und zu reden, wurden dabei gezählt und von dort in Arbeitskommandos eingeteilt. Stundenlanges Appellstehen mit Nahrungsentzug setzte die SS auch als Kollektivstrafe ein.
Leben auf engstem Raum
Die Häftlinge waren in Holzbaracken untergebracht, in denen sie auf überfüllten Pritschen teils zu Hunderten zusammengepfercht leben mussten. Die räumliche Enge, der Gestank, die permanente Nähe zu Hunderten von Menschen und die mit Scham und Ekel verbundenen Erfahrungen riefen bei vielen eine Sehnsucht nach Einsamkeit und nach Schönheit hervor. Maria Elżbieta Jezierska, die vor ihrer Deportation nach Ravensbrück in Auschwitz inhaftiert war, beschreibt:
"[...]Nicht einmal im WC konnte man allein sein. Man konnte nicht klagen und seine Schmerzen verbergen, wenn man krank war; jeder sah den nackten Leib des anderen und wusste um seine Krankheiten und ob der Nachbar unter sich gemacht´ hatte. Weder konnte man sich allein eines Briefes freuen, noch weinen – oder sterben. Sogar dieses letzte Recht war uns genommen! Alle abstoßenden Erscheinungen des Todes waren bloßgelegt. Der Hunger nach Schönheit ließ mich fast wahnsinnig werden, denn alles, was uns umgab – die Erde, die Architektur, die Menschen, die Kleidung – war schmutzig und widerlich."
Das Zelt
Ab 1943 stieg die Zahl der Häftlinge in Ravensbrück rapide an. Wegen der Überfüllung des Stammlagers stellte die SS im Spätsommer 1944 zwischen den Baracken ein etwa 50 Meter großes Zelt als provisorische Unterbringung auf - vor allem für die in Massen ankommenden Frauen aus Auschwitz, Warschau und Ungarn. Teils mussten bis zu 4.000 Häftlinge im Zelt leben. Durch Überbelegung, Unterkühlung, kaum Nahrung und fehlende hygienische Bedingungen führte die SS jeden Tag den Tod Dutzender Häftlinge herbei. Kató Gyulai, als junge Ungarin jüdischer Herkunft nach Ravensbrück getrieben und die ersten Tage in dieses Zelt verdammt, erinnert sich an die dortigen Frauen und Mädchen:
"Sie glichen schon keinen menschlichen Gestalten mehr, sie waren nur noch in Lumpen gehüllte barfüßige Phantome, die umfielen wie die Fliegen. Wenn sie krank waren, kümmerte sich niemand um sie, und wenn sie starben, wurden sie von ihren Gefährtinnen hinausgetragen. Das Zelt hatte einen Ziegelfußboden. Auf dem standen oder kauerten wir, von Hinsetzen oder Liegen konnte keine Rede sein. Nachts saßen wir buchstäblich auf den Köpfen oder Rücken anderer."
Krankheiten und Verelendung
Vielfältige Krankheiten aufgrund von anhaltender Auszehrung, Ungeziefer, Wetterbedingungen sowie Epidemien schwächten die inhaftierten Frauen und führten oft zum Tod. So verursachte Krätze einen fürchterlichen Juckreiz und damit weitere Bakterieninfektionen. Phlegmone, also Eiterbeulen, die im Lager eine weitverbreitete Plage waren, wurden ebenso wie Krätze und andere Hautkrankheiten mit Speichel und Harn oder, soweit möglich, durch Kräuter behandelt. Es konnte lebensentscheidend sein, die nach außen sichtbaren Krankheiten zu bekämpfen, um nicht von der SS selektiert zu werden. Läuse waren gefährlich, weil sie den tödlichen Flecktyphus übertrugen. Diese Ungezieferplage war nur notdürftig einzudämmen, und so gehörte es zum täglichen Ritual der Häftlinge, am Körper und in den Kleidersäumen nach Läusen zu suchen. Frauen und Mädchen, die unter den physischen und psychischen Belastungen zusammenbrachen, erhielten meistens keinerlei medizinische Behandlung. Das so genannte Revier, die Krankenstation im KZ, war eher ein Ort des Sterbens.
Der anhaltende Hunger führte zur totalen Auszehrung, zum Muskelschwund, aber auch zu psychischen Veränderungen wie Gleichgültigkeit, Apathie und Schläfrigkeit. Die körperlichen Reaktionen und Aktivitäten wurden langsamer und vom Wachpersonal oft als passiver Widerstand interpretiert und geahndet. Blutdruck und Körpertemperatur nahmen ab, die Häftlinge zitterten beständig vor Kälte. Am Ende stand eine ausgemergelte KZ-Gefangene, die "Schmuckstück" genannt wurde – Männer wurden als "Muselmann" bezeichnet: Menschen zwischen Leben und Tod.
Medizinische Experimente und Mordaktionen
Von Juli 1942 bis August 1943 wurden unter der Leitung von Prof. Dr. Karl Gebhardt an insgesamt 74 jungen polnischen Frauen und einem Dutzend Frauen unterschiedlicher Herkunft pseudo-medizinische Experimente durchgeführt. Zum einen dienten diese Misshandlungen der Beweisführung, dass der Einsatz von Sulfonamid bei Gasbrand – eine häufig bei Kriegsverletzungen auftretende Entzündung – nicht erfolgreich sei. Den Frauen wurden hierfür Bakterien, Glassplitter, Holzspäne und anderes in absichtlich zugefügte Beinverletzungen implantiert, um den Wund- bzw. Heilungsverlauf beobachten zu können. Für dreizehn, zumeist junge Frauen endeten die Qualen mit dem Tod, sechs wurden erschossen, weil sie "potentielles Beweismaterial" darstellten. Diejenigen, die dank der organisierten Hilfe von Kameradinnen versteckt werden konnten und überlebten, leiden bis heute an den Folgen dieser Verstümmelungen. Zum anderen wurden in Ravensbrück Knochen-, Muskel- und Nerventransplantationen durchgeführt sowie an Frauen und Mädchen Zwangssterilisationen vorgenommen.
Eine Mordaktion im größeren Stil stellte die so genannte Euthanasie-Aktion "14 f 13" dar, im Zuge derer die SS 1942 rund 1.600 Frauen, die meisten jüdischer Herkunft, selektierte, um sie in der Heil- und Pflegeanstalt Bernburg in den Gastod zu schicken. Seit 1941 fanden in Ravensbrück immer wieder Erschießungen statt, denen insgesamt 143 polnische Frauen und Mädchen ohne jegliche Vorwarnung zum Opfer fielen. Später kamen Hinrichtungen von sowjetischen, französischen, britischen und anderen Gefangenen hinzu.
Versuche der Selbstbehauptung
Mühsam versuchten sich die Häftlinge gegen die Qualen des Lagerlebens aufzulehnen. Die Gefangenschaft, als Bannkreis der Hölle empfunden, bedeutete nicht nur eingeschlossen zu sein, sondern auch eine unendliche Monotonie, die in den Wahnsinn treiben konnte. Die empfundene Sinnlosigkeit des eigenen Daseins korrespondierte mit einem Zustand von grenzenloser Apathie. Die Tschechin Anička Kvapilová benennt in Versform mutig diesen Zustand. Und das Sprechen solcher Gedichte vermochte vielen Gefangenen dabei zu helfen, für Augenblicke die empfundene Starrheit im Inneren zu lösen.
Der Tag
Wir stehen morgens nur deshalb auf, um abends wiederum schlafen zu gehen. Vielleicht bringt die Nacht uns dann im Traum, was die Wirklichkeit nicht zu geben vermag.
Wir stehen auf, erwarten den nächsten Tag, ein Meer ungeweinter Tränen rinnt hernieder. An uns bricht sich der Sturm der Zeit. Worauf wartet ein jeder von uns?
Eine treue Wiederholung des Gestern nur, wieder Not und Erniedrigung, alles ist so zum Verrücktwerden gleich, nur Wandel prägt ins Gesicht uns die Zeit.
Gedicht von Anička Kvapilová (Ravensbrück 1944) Nachdichtung: Jan-Peter Abrahami
Einige der gefangenen Frauen begannen ihre Gefühle und Gedanken in Gedichten und Gebeten auszudrücken. Gegenseitig erzählte man sich ganze Romane, schilderte einst unternommene Reisen; imaginäres Kochen und das Austauschen von Rezepten war eine groteske wie beliebte Realität. Anderen gelang es, mit heimlich organisierten Materialien das Lagerleben in Zeichnungen festzuhalten. Es entstanden illegale Chöre. Professorinnen, Künstlerinnen, Lehrerinnen hielten heimlich Vorlesungen über verschiedene Themen. Vor allem die Polinnen begannen im Verborgenen mit Unterricht der Jüngeren, in Klassen mit drei, vier, fünf Kindern, die – ungeachtet der Frage, ob sie jemals wieder nach Hause zurückkehren würden – während des Appells oder am Abend auf der Pritsche in der Baracke auf einen Schulabschluss vorbereitet wurden.
Immer wieder gewannen die Frauen kämpferische Kraft zum Durchhalten aus den mitgebrachten Liedern aus dem slowenischen Partisanenkampf, dem spanischen Bürgerkrieg, der französischen Résistance. Und sie beschworen, wie die Belgierin Felicie Mertens in ihrem 1942 entstandenen Text "Traumbild", die Hoffnung auf eine Zukunft – wenigstens für die zurückgelassenen Kinder.
Traumbild
Im Schatten der Fahne, rot von unserm Blut, nehmt ihr euch an der Hand. Singend zieht ihr voran.
Und unter euren Schritten tauchen riesige Kornfelder auf, in die Luft steigt der Rauch aus Fabriken. Unter der Erde hört man die dumpfen Schläge der Pickel. Und, immer noch singend geht ihr weiter voran.
Euer gesunder Atem fegt fort die Asche der alten Welt, und das Leben erwacht erneut, aufs Neue erwacht die Liebe!
Felicie Mertens Nachdichtung: Elfriede Czurdai
Constanze Jaiser, geb. 1964, studierte Literaturwissenschaft, evangelische Theologie und Psychologie. Sie promovierte über KZ-Lyrik, arbeitete als Lehrbeauftragte an der Freien Universität Berlin sowie als verantwortliche Redakteurin der Online-Rezensionszeitschrift Quer/elles/-Net. Sie ist heute freiberufliche Publizistin, Dozentin und Moderatorin. Ihre letzte Ko-Publikation war: "Europa im Kampf 1939-1944. Internationale Poesie aus dem Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück".
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