Die Westbalkanstaaten sind traditionell Auswanderungsländer mit großen Diasporagemeinschaften. Umfassende Strategien, um ihr entwicklungspolitisches Potenzial zu nutzen, befinden sich noch im Entwicklungsstadium – genau wie die Politik zum Umgang mit Einwanderung.
Kurze Geschichte der Auswanderung aus den westlichen Balkanstaaten
Die Westbalkanstaaten haben eine lange Auswanderungstradition. Die erste große Abwanderung aus der Region erfolgte zwischen 1880 und 1921, als Tausende Menschen in die USA auswanderten. Im gleichen Zeitraum führte der Interner Link: Zerfall des Osmanischen Reiches und die anschließende Vertreibung der Bevölkerung (hauptsächlich Muslim/-innen) zu einer erheblichen Abwanderung in die Interner Link: Türkei. Die Auswanderung setzte sich in der Zwischenkriegszeit und während des Zweiten Weltkriegs fort. Nach dem Interner Link: Zweiten Weltkrieg unterzeichnete Interner Link: Jugoslawien mehrere bilaterale Abkommen zur Anwerbung von Arbeitskräften mit westeuropäischen Ländern, die ausländische Arbeitskräfte benötigten. Dies führte zu Auswanderungsbewegungen aus der Region des westlichen Balkans nach Westeuropa, insbesondere nach Deutschland. In den 1990er Jahren führten die Auflösung Jugoslawiens und die nachfolgenden Kriege in Verbindung mit dem recht schmerzhaften Übergang von einem kommunistischen zu einem kapitalistischen Wirtschaftssystem zu einer Massenauswanderung aus dem Westbalkan: Verschiedenen Quellen zufolge wanderten zwischen 1990 und 1996 etwa 27 Prozent der albanischen Bevölkerung aus und im Zeitraum 1992 bis 1995 suchten rund 25 Prozent der bosnischen Bevölkerung Zuflucht im Ausland. Im Gegensatz zur Arbeitsmigration von überwiegend männlichen Einzelpersonen vor 1990, war die Auswanderung ab den 1990er Jahren durch die Abwanderung ganzer Familien gekennzeichnet. Zudem zeigt sich ein Trend zu einem Wechsel von dauerhafter zu temporärer Migration , da die Globalisierung und technologische Entwicklungen Mobilität erleichtert haben und Reisen für große Teile der Bevölkerung zugänglich und erschwinglich geworden sind. Die Abwanderung junger Menschen und die Abwanderung von Fachkräften sind heute die heikelsten Themen, mit denen sich politische Entscheidungsträger/-innen in den westlichen Balkanstaaten, die sich mit Migration beschäftigen, auseinandersetzen müssen. Laut einer Umfrage unter Jugendlichen aus dem Jahr 2018 hegen 33 Prozent der jungen Bevölkerung in der Region den starken Wunsch, auszuwandern.
Infolge der Abwanderung großer Bevölkerungsteile haben die Länder der Region heute große Interner Link: Diasporagemeinschaften in der ganzen Welt (siehe Abbildung 1). Seit 1990 hat sich die Zahl der im Ausland lebenden Migrant/-innen aus den westlichen Balkanländern verdoppelt und lag 2019 bei fast 3,8 Millionen. Da alle Länder der Region (mit Ausnahme von Kosovo) unterdurchschnittliche Interner Link: Geburtenraten aufweisen – Bosnien und Herzegowina zählt mit einer Fertilitätsrate von durchschnittlich 1,2 Kindern pro Frau zu den Ländern mit den niedrigsten Fertilitätsraten der Welt –, trägt die Auswanderung erheblich zum Bevölkerungsrückgang bei.
Abbildung 1: Ausgewanderte Bevölkerung aus den Westbalkanstaaten 2019
*Der Abbildung liegen Daten der UN zu Auswanderung zugrunde. Diese weisen das Kosovo nicht gesondert aus.
Land
Gesamtzahl der Ausgewanderten
Anteil der Ausgewanderten an der Gesamtbevölkerung
Es wird davon ausgegangen, dass sich der Rückgang und die Alterung der Bevölkerung negativ auf das Wirtschaftswachstum in den Staaten des westlichen Balkans auswirken wird, weil sie trotz weiterhin hoher Arbeitslosenquoten den in einigen Sektoren bestehenden Mangel an Arbeitskräften verschärfen dürfte. Die demografische Entwicklung setzt auch die bereits schwachen Sozialsysteme zunehmend unter Druck.
Abbildung 2 zeigt, dass die EU-27 das Hauptziel von Auswanderer/-innen aus den westlichen Balkanländern ist, wobei sich albanische Migrant/-innen auf Italien und Griechenland konzentrieren, während Migrant/-innen aus anderen Westbalkanländern hauptsächlich in Österreich, Deutschland, der Schweiz und den skandinavischen Staaten leben. Migration innerhalb der Region (intraregionale Migration) ist ebenfalls weit verbreitet, insbesondere unter Migrant/-innen aus Bosnien und Herzegowina sowie Montenegro. Ab den frühen 1970er Jahren gab es infolge der in westeuropäischen Ländern verhängten Anwerbestopps für Arbeitskräfte kaum noch legale Wege für die (zirkuläre) Migration. Daher wählten viele Emigrant/-innen aus den Ländern des westlichen Balkans irreguläre Möglichkeiten für die Einreise und den Aufenthalt oder stellten Asylanträge, da dies die einzige Möglichkeit zu sein schien, andernorts eine bessere Zukunft zu suchen. Jüngste Entwicklungen wie die Einführung der sogenannten Interner Link: Westbalkanregelung in Deutschland und bilaterale Beschäftigungsprogramme mit Arbeitsagenturen in den westlichen Balkanstaaten trugen zu einem Rückgang der Asylanträge aus der Region bei. Gleichzeitig führte dies aber auch zu einer zunehmenden Auswanderung von Arbeitskräften aus bestimmten Sektoren wie dem Baugewerbe oder der Pflege, was den Fachkräftemangel in diesen Sektoren in den Westbalkanstaaten verschärfte.
Die Diaspora und die Entwicklung der Westbalkanstaaten
Die Interner Link: Diaspora der westlichen Balkanstaaten ist eine wichtige, aber noch nicht ausreichend genutzte Ressource für die Entwicklung ihrer Herkunftsländer. Die Interner Link: Rücküberweisungen der Migrant/-innen sind eine wichtige Einkommensquelle in der Region. Abbildung 3 zeigt den jährlichen Zufluss von Rücküberweisungen seit 2007. Die meisten Länder auf dem Westbalkan verzeichneten über die Jahre einen relativ stabilen Zufluss von Rücküberweisungen, wobei Serbien (in absoluten Zahlen) die größte Summe an Rücküberweisungen erhielt.
Es bleibt abzuwarten, wie sich die Interner Link: Corona-Pandemie langfristig auf die Rücküberweisungen in diese Länder auswirken wird. Nach Angaben der Interner Link: Weltbank verzeichneten Serbien, Bosnien und Herzegowina sowie Albanien den stärksten Rückgang der Überweisungen aus dem Ausland, da sie die größte Diaspora haben und viele ihrer Bürger/-innen in europäischen Ländern leben, die aufgrund der Pandemie und der Maßnahmen zu ihrer Eindämmung eine wirtschaftliche Rezession erleben. In Montenegro, Kosovo und Nordmazedonien stiegen die offiziell registrierten Rücküberweisungen im Jahr 2020 an. Dies könnte jedoch darauf zurückzuführen sein, dass Migrant/-innen für Rücküberweisungen verstärkt formelle Kanäle (Banküberweisungen) nutzten, da Grenzschließungen nicht-formelle Rücküberweisungen (Geld, das von Verwandten und Freunden oder den Migrant/-innen selbst in die Herkunftsländer transportiert wird) erschwerten. Daher könnte der Betrag der Rücküberweisungen trotz eines Anstiegs in den offiziellen Statistiken dennoch gesunken sein. Einige Lehren aus der Interner Link: Weltwirtschaftskrise 2008-2012 können bei der Abschätzung der Auswirkungen der aktuellen Pandemie hilfreich sein. So hat eine Analyse der Daten aus einer Erhebung des Haushaltsbudgets in Bosnien und Herzegowina aus dem Jahr 2011 gezeigt, dass während der Wirtschaftskrise zwar die Zahl der Empfänger/-innen von Rücküberweisungen zurückging, der durchschnittliche Betrag der Rücküberweisungen, der weiterhin überwiesen wurde, jedoch anstieg. Eine mögliche Erklärung liefern Oruc und Tabakovic (2016). Sie argumentieren, dass die antizyklische Natur von Rücküberweisungen zu einem bestimmten Muster führt, das bei globalen Wirtschaftskrisen erwartbar ist: Wenn im Herkunftsland der Migrant/-innen eine Wirtschaftskrise auftritt, steigt der durchschnittliche Betrag der Rücküberweisungen, weil die Migrant/-innen das Bedürfnis haben, ihre Familien und Verwandten stärker zu unterstützen. Eine Wirtschaftskrise im Aufnahmeland wiederum verringert die Zahl der Migrant/-innen, die Rücküberweisungen tätigen können, weil auch sie unter erhöhter Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit oder Lohnkürzungen leiden und möglicherweise kein Geld sparen können, das sie an Familienmitglieder im Herkunftsland schicken könnten.
In allen westlichen Balkanländern, mit Ausnahme von Nordmazedonien, machen Rücküberweisungen etwa zehn Prozent im Verhältnis zum BIP aus (siehe Abbildung 4).
Rücküberweisungen gelten als informeller Mechanismus sozialer Sicherung für vulnerable Gruppen in den Westbalkanstaaten. Im Kosovo bilden Rücküberweisungen mit rund 20 Prozent des monatlichen Gesamteinkommens die zweitgrößte Einkommensquelle von jenen Haushalten, die Rücküberweisungen erhalten. Der Beitrag der Rücküberweisungen für diese Haushalte ist größer als alle formellen Leistungen sozialer Sicherung, die aus nicht dauerhaften Beschäftigungsverhältnissen resultieren. Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass Rücküberweisungen dazu beitragen, einen großen Teil der Empfängerhaushalte aus der Armut herauszuführen. Rücküberweisungen werden hauptsächlich für den unmittelbaren Konsum, aber auch für Ersparnisse und die Ausbildung der Kinder verwendet. Nur ein kleiner Teil der Rücküberweisungen fließt in langfristige Investitionen, die das Wirtschaftswachstum und das Wohlergehen großer Teile der Bevölkerung in den Empfängerländern substantiell verbessern könnten.
Zwar erkennen politische Entscheidungsträger/-innen in den Westbalkanstaaten die Bedeutung von Rücküberweisungen an. Anderen möglichen Interner Link: Beiträgen der Diaspora zur Entwicklung – wie z.B. Investitionen zu tätigen oder anzulocken, den Transfer von Wissen zu erleichtern, den Tourismus zu stärken sowie die eigenen Gemeinden beim Bau von Straßen, Schulen, Kirchen oder anderer kommunaler Infrastruktur zu unterstützen – schenken sie jedoch bislang kaum Beachtung. Die Regierungen bemühen sich noch nicht ausreichend darum, ein Umfeld zu schaffen, das diese Beiträge zur Entwicklung begünstigt und erleichtert. So schneiden beispielsweise alle Länder in der Region bei der Anwerbung ausländischer Direktinvestitionen schlecht ab. Die große Diaspora-Gemeinschaft, die oft aus patriotischen Gefühlen heraus und nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen Interesse an Investitionen in der Region zeigt, sollte das Hauptziel staatlicher Bemühungen um ausländische Investitionen sein. Die für die Anwerbung ausländischer Investitionen zuständigen staatlichen Einrichtungen (wie z.B. die Agentur für die Förderung ausländischer Investitionen in Bosnien und Herzegowina; Englisch: Foreign Investment Promotion Agency) sind auf diesem Gebiet bislang jedoch kaum aktiv geworden: Es gibt keine politischen Maßnahmen, die eine bevorzugte Behandlung von Investor/-innen aus der Diaspora vorsehen. Darüber hinaus wurden aus den Reihen der Diaspora sowie für ausländische Direktinvestitionen im Allgemeinen administrative Hindernisse, staatliche Ineffizienz und Korruption als Haupthindernisse für effiziente und nachhaltige Investitionen identifiziert.
Diasporapolitiken der Westbalkanstaaten
Nach jahrzehntelanger politischer Untätigkeit haben alle Länder des Westbalkans in den letzten zehn Jahren Institutionen und politische Maßnahmen eingeführt, um die Diaspora in ihre Entwicklungsstrategien einzubeziehen. Die Wirkung dieser Bemühungen muss jedoch noch evaluiert werden, insbesondere angesichts einer wenig effektiven und verzögerten Umsetzung der im Rahmen der Diaspora-Kooperationsstrategien geplanten Maßnahmen.
Albanien
In Albanien wurde die Bedeutung der Diaspora in der Nationalen Strategie für Entwicklung und Integration (National Strategy for Development and Integration 2014-2020) anerkannt. Zudem wurde die Notwendigkeit betont, Mechanismen und Dienstleistungen zu schaffen, um Rücküberweisungen zu erleichtern, albanische Staatsangehörige von irregulärer Migration und dem Überziehen ihrer Visa abzuhalten sowie die Möglichkeiten für die Reintegration von zurückkehrenden albanischen Migrant/-innen zu verbessern. In der Strategie werden drei spezifische Ziele genannt: (1) die stärkere Einbindung der Diaspora in die Entwicklung Albaniens, (2) die Ermöglichung transnationaler unternehmerischer Aktivitäten, Investitionen der Diaspora und innovativer Geschäftsaktivitäten und (3) die Stärkung der Ausgewanderten im Hinblick auf den Transfer von Fähigkeiten und Wissen. Die Strategie wurde durch eine neue Entwicklungsstrategie für den Zeitraum 2021-2030 abgelöst. In der Zwischenzeit hat Albanien auch die Nationale Migrationsstrategie (National Strategy on Migration 2019-2022) und die Nationale Diaspora-Strategie (National Diaspora Strategy 2021-2025) verabschiedet. Ziel dieser Strategien ist es, eine wirksame Migrationssteuerung zu gewährleisten, den Zufluss von Rücküberweisungen zu regulieren und die Nutzung dieser Überweisungen zu verbessern sowie die Verbindung zwischen Migration und Entwicklung durch eine stärkere Einbindung der Diaspora-Gemeinschaften in Entwicklungsstrategien zu stärken.
Bosnien und Herzegowina
Bosnien und Herzegowina hat mehrere vierjährige Aktionspläne im Bereich Migrationen und Asyl (Action Plans in the Area of Migrations and Asylum) verabschiedet (2008-2011, 2012-2016 und 2016-2020). Diese behandelten jedoch keine Themen, die sich explizit auf Auswanderung und die Diaspora beziehen, obwohl dies angesichts der großen bosnischen Diaspora von großer Bedeutung sein sollte. Allerdings wurde 2017 eine erste Strategie zur Zusammenarbeit mit der Diaspora (Policy on Cooperation with Diaspora) angenommen. Es folgte die Verabschiedung der Strategie für die Zusammenarbeit mit der Diaspora für den Zeitraum 2020-2024 (Strategy on Cooperation with Diaspora) – die aber lediglich für die Föderation Bosnien und Herzegowina gilt, welche nur eine von zwei Verwaltungseinheiten von Bosnien und Herzegowina bildet (die andere Verwaltungseinheit ist die Republika Srpska). Die Strategie umfasst zentrale Bereiche der Zusammenarbeit mit der Diaspora, einschließlich des Aufbaus institutioneller Kapazitäten, der Anziehung von Investitionen, des Wissenstransfers und des kulturellen Austauschs.
Kosovo
Im Kosovo hat die Regierung eine Staatliche Strategie und einen Aktionsplan Migration (State Strategy on Migration and Action Plan 2013-2018) verabschiedet. Beide zielten darauf ab, zirkuläre Migration, Saisonarbeit, legale Migration und Migration zu Bildungszwecken zu fördern, thematische Schulungen anzubieten und den Erfahrungsaustausch zu stärken.
Montenegro
In Montenegro enthielt die Strategie für integriertes Migrationsmanagement (Strategy for Integrated Migration Management 2017-2020) einen Aktionsplan. Allerdings wurde hierin der Auswanderung wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Dennoch gab es im Anschluss an ihre Verabschiedung einige positive Schritte in diese Richtung, wie die Verabschiedung des Gesetzes über die Zusammenarbeit mit der montenegrinischen Diaspora (Law on Cooperation of Montenegro with Diaspora) im Jahr 2018, die Verabschiedung der Strategie für die Zusammenarbeit mit der Diaspora (Strategy for Cooperation with the Diaspora 2020-2023) und die Einrichtung der Direktion für die Zusammenarbeit mit der Diaspora (Directorate for Cooperation with Diaspora).
Nordmazedonien
In Nordmazedonien nahm die Regierung zunächst einen Entschluss zur Migrationspolitik (Resolution on Migration Policy 2009-2014) an, der sich auf eine effektivere Steuerung der legalen Migration – sowohl der Einwanderung als auch der Auswanderung – konzentrierte. Der darauffolgende Entschluss zur Migrationspolitik 2015-2020 schuf den Rahmen für die Unterstützung einer breiten Palette von Aktivitäten, die auf Migration abzielten, wie etwa die Förderung temporärer Migration, die Kartierung der Diaspora und die Einrichtung einer Datenbank für verschiedene Arten von Migrant/-innen sowie die Ausarbeitung einer Politik zur Förderung der Rückkehr hochqualifizierter Arbeitskräfte.
Serbien
In Serbien ist eine umfassende nationale Migrationspolitik noch im Entstehen begriffen. Die Strategie und Politik zur industriellen Entwicklung der Republik Serbien für den Zeitraum 2011-2020 (Strategy and Policy of Industrial Development of the Republic of Serbia) und die Strategie zur wissenschaftlichen und technologischen Entwicklung der Republik Serbien für den Zeitraum 2016-2020 (Strategy on Scientific and Technological Development of the Republic of Serbia) unterstrichen jedoch die Bedeutung einer verbesserten Kooperation mit der Diaspora, insbesondere mit serbischen Wissenschaftler/-innen, um das Innovationspotenzial des Landes zu erhöhen und ihre Rückkehr zu fördern.
Der Westbalkan als Transitzone
Zwei Jahrzehnte nach den 1990er Jahren, als die Westbalkan-Region aufgrund der Auflösung Jugoslawiens die massive Abwanderung von Flüchtlingen erlebte, wurde die Region selbst zu einer Transitzone für Flüchtlinge und Migrant/-innen aus dem Nahen Osten, West- und Südasien sowie Afrika. In den Jahren 2015/2016 durchquerten fast eine Million Menschen die westlichen Balkanländer, Interner Link: um in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union Zuflucht zu suchen. Diese Zahlen sind reine Schätzungen, da sich nur etwa zwei Drittel dieser Menschen in den Transitländern des Westbalkans offiziell erfassen ließen. Die Westbalkanstaaten sahen sich bei der Bewältigung dieser "Krise" mit großen Herausforderungen konfrontiert, da sie weder über die erforderlichen Ressourcen noch über einschlägige Rechtsvorschriften und Strategien verfügten, um den großen Zustrom von Asylsuchenden angemessen zu bewältigen. Infolgedessen entwickelte sich die Transitmigration bald zu einer humanitären Krise. Dabei konzentrierte sich die Hauptlast auf mehrere lokale Gemeinden (wie den an der kroatischen Grenze gelegenen Kanton Una-Sana im Nordwesten von Bosnien und Herzegowina), die nicht in der Lage waren, die Krise wirksam zu bewältigen. Der Druck auf die kleinen Gemeinden führte in der lokalen Bevölkerung zu Frustration und zog Proteste gegen Migrant/-innen und einige kleinere Zusammenstöße zwischen Einheimischen und Migrant/-innen nach sich. All diese Ereignisse fanden in den Medien große Beachtung und führten zu einem vorherrschenden Narrativ über Migrant/-innen als "Unruhestifter" – ein ähnliches Narrativ, mit dem Asylsuchende aus der westlichen Balkanregion in ihren Aufnahmeländern konfrontiert waren, als sie in den 1990er Jahren vor den Jugoslawienkriegen flohen.
Solche negativen Wahrnehmungen von Migrant/-innen verbreiteten sich schnell, insbesondere in Ländern mit rechtsgerichteten Regierungen, die bereits eine negative Wahrnehmung von Menschen muslimischen Glaubens und ein negatives Narrativ über Migrant/-innen schürten. Ein Beispiel: Obwohl nur einige hundert Migrant/-innen tatsächlich Asyl in Bosnien und Herzegowina beantragten, stellten die Behörden im politischen Teilgebiet Republika Srpska Transitmigrant/-innen als Zeichen einer als bedrohlich empfundenen muslimischen Vorherrschaft dar; sie zwangen sie, ihr Gebiet zu verlassen und in andere Teile von Bosnien und Herzegowina auszuweichen.
Von der Europäischen Union ergriffene Maßnahmen wie die Interner Link: EU-Türkei-Erklärung im März 2016 sowie Grenzschließungen in Ländern entlang der sogenannten Westbalkan-Migrationsroute führten dazu, dass immer mehr Migrant/-innen in den Westbalkanstaaten "strandeten". Die umfangreiche Ankunft von Migrant/-innen und ihr längerer Aufenthalt in diesen Ländern war für die traditionellen Auswanderungsländer eine neue Erfahrung.
Die meisten Migrant/-innen und Asylsuchenden, die infolge der Grenzschließungen in den Westbalkanländern festsaßen, wollen nicht dort bleiben (z.B. beantragten weniger als drei Prozent der 2019 nach Bosnien und Herzegowina eingereisten Migrant/-innen dort Asyl ). Daher betrachten die Regierungen der Westbalkanstaaten sie weiterhin als vorübergehende Belastung, die sie loswerden, sobald die EU-Mitgliedstaaten ihre Grenzen (wieder) öffnen. Tatsächlich ist die Westbalkanroute nach wie vor ein wichtiger Route für Asylsuchende und Migrant/-innen, die versuchen, Westeuropa zu erreichen. Nach Angaben der Interner Link: Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) wurden in den ersten sieben Monaten des Jahres 2021 22.613 illegale Grenzübertritte in der Westbalkanregion registriert. Vor dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie dokumentierte das Interner Link: UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) steigende Zahlen von Neuankömmlingen in den Ländern des westlichen Balkans. Von den rund 78.000 Migrant/-innen, die 2018 in eines der sechs Westbalkanländer einreisten, stellten dort etwa 27 Prozent (21.000 Personen) einen Asylantrag. Obwohl der Westbalkan für die meisten Asylsuchenden und Migrant/-innen eine Transitroute bleibt, ist die Zahl der registrierten Migrant/-innen und Flüchtlinge in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Ungeachtet dieser Entwicklung haben die Regierungen der Westbalkanstaaten aber weder Integrationsmaßnahmen ergriffen noch eine Diskussion über die möglichen Vorteile einer Bleiberechtsregelung für zumindest einige dieser Menschen begonnen. Kurz- bis mittelfristig werden Engpässe mit Blick auf Arbeitskräfte und Qualifikationen die Aussichten auf ein Beschäftigungs- und Wirtschaftswachstum in den Balkanländern trüben. Für die meisten Länder der Region wird bis 2050 ein erheblicher Bevölkerungsrückgang prognostiziert. Angesichts der alternden Bevölkerung könnten Migrant/-innen, wenn sie gut integriert sind, einen wichtigen wirtschaftlichen Beitrag leisten.
Dr. Nermin Oruč ist Gründer und Forschungsdirektor des Centre for Development Evaluation and Social Science Research in Bosnien und Herzegowina. Außerdem koordiniert er das Externer Link: Western Balkans Migration Network (WB-MIGNET). Seine Forschung konzentriert sich auf die sozialen Auswirkungen von Migration und Rücküberweisungen in den Ländern des westlichen Balkans.
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