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Dokument 2.4 Eingabe der Schauspieler und Mitarbeiter des Deutschen Dramatheaters in Temir-Tau, Kasachstan, an den 27. Parteitag der KPdSU, Ende 1985 – Angang 1986 | Russlanddeutscher Samisdat | bpb.de

Russlanddeutscher Samisdat Abschnitt I: Einführung A. Deutsche Dissidenten, Oppositionelle und Nonkonformisten im sowjetischen Unrechtsstaat (1950er–1980er Jahre) B. Russlanddeutscher Samisdat und das Umfeld seiner Entstehung C. Anmerkungen zu den Quellen Abschnitt II: Quellenteil Teil 1: Der Kampf um die Autonomie und für nationale und bürgerliche Gleichberechtigung Dokument 1.1: Brief von Viktor Schneider an Stalin und an die Zeitung "Prawda", April 1951 Dokument 1.2: Brief von Therese Chromowa an Nikita Chruschtschow über die Frage der Wiederherstellung der Autonomen Republik der Wolgadeutschen, 15. September 1961 Dokument: 1.3 Brief von Reinhardt Köln an Nikita Chruschtschow über die Rehabilitierung der Wolgadeutschen, 8. April 1963 Dokument 1.4: Die Orenburger Initiative: Ein Appell an die deutsche Bevölkerung der Sowjetunion, August 1964 Dokument 1.5: Erste Delegation der Deutschen in Moskau in Fragen der Wiederherstellung der Autonomie. Informationsbericht über historische Hintergründe und gegenwärtige Lage der deutschen Bevölkerung in der UdSSR, 9. Januar 1965 Dokument 1.6: Erste Delegation der Deutschen in Moskau in Fragen der Wiederherstellung der Autonomie. Empfang der Teilnehmer durch den Staatspräsidenten Anastas Mikojan, 12. Januar 1965 Dokument 1.7: Zweite Delegation der Deutschen in Moskau in Fragen der Wiederherstellung der Autonomie. Verkürzte Niederschrift des Gesprächs beim Empfang der Teilnehmer durch den Staatspräsidenten Anastas Mikojan, 7. Juli 1965 Dokument 1.8: Zweite Delegation der Deutschen in Moskau in Fragen der Wiederherstellung der Autonomie. Eine kritische Bestandsaufnahme der Ergebnisse des Treffens mit dem Staatspräsidenten Anastas Mikojan, 9. Juli 1965 Dokument 1.9: Dritte Delegation der Deutschen in Moskau in Fragen der Wiederherstellung der Autonomie. Aufzeichnung der Unterredung von vier Vertretern der Delegation mit dem Leiter des Empfangsbüros des ZK der KPdSU, 15. Juli 1967 Dokument 1.10: Appell der in der Sowjetunion lebenden Bürger deutscher Nationalität an die Organisation der Vereinten Nationen, 18. Mai 1973 Dokument 1.11: Inhaltsverzeichnis und Vorwort der Herausgeber des Samisdat-Sammelbandes "Re Patria", 1974 Dokument 1.12: Antrag der Eheleute Ruppel für den Austritt aus der sowjetischen Staatsbürgerschaft, aus "Re Patria", 1974 Dokument 1.13: Die Begründung des Auswanderungsbegehrens durch den Bürger Jakob Damm, aus "Re Patria", 1974 Teil 2: Intellektueller Samisdat Dokument 2.1: Brief der deutschsprachigen Schriftsteller, März 1965 Dokument 2.2: Konstantin Wuckert über das Alltags- und Berufsleben der Deutschen in Zentralasien und Beziehungen zu der einheimischen Bevölkerung, Juni 1976 Dokument 2.3 Ein Appell und offener Brief an die sowjetischen Wissenschaftler. Gewidmet der Wiedergeburt der deutschen Nation in der UdSSR, 1982 Dokument 2.4 Eingabe der Schauspieler und Mitarbeiter des Deutschen Dramatheaters in Temir-Tau, Kasachstan, an den 27. Parteitag der KPdSU, Ende 1985 – Angang 1986 Teil 3: Kampf um die Ausreise aus der UdSSR nach Deutschland (BRD und DDR) Dokument 3.1: Flugblatt, geschrieben von Wladimir Hoffmann, in dem zur Ausreise in die Bundesrepublik aufgerufen wird, 1957 Dokument 3.2: Lage der Deutschen in der Unionsrepublik Estland, 1974 Dokument 3.3: "Fremdes Brot." Valentin Wiens über die Verfolgung der deutschen Aktivisten, die für das Recht auf Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland kämpfen, 1975 Dokument 3.4: Brief von Konstantin Wuckert an die Staatschefs der UdSSR, BRD und DDR über das Recht der deutschen Sowjetbürger auf Ausreise in die BRD oder in die DDR, Juni 1976 Dokument 3.5 Verzweifelter Hilferuf von 583 Deutschen aus der Sowjetunion, 1976 Teil 4: Künstlerische und volkskundliche unzensierte Werke Dokument 4.1: "Wiegenlied einer sowjetdeutschen Mutter in der sibirischen Verbannung" von Dominik Hollmann Dokument 4.2: Liedertextsammlung "Unsere Stimme", Typoskript, Oktober 1965 Abschnitt III: Lebensläufe einiger nonkonformer Aktivisten und Dissidenten Erich (Erhard) Abel Therese Chromowa Eduard Deibert Wjatscheslaw Maier Andreas (Andrej) Maser Ludmilla Oldenburger Friedrich Ruppel Friedrich Schössler Konstantin Wuckert Abkürzungsverzeichnis

Dokument 2.4 Eingabe der Schauspieler und Mitarbeiter des Deutschen Dramatheaters in Temir-Tau, Kasachstan, an den 27. Parteitag der KPdSU, Ende 1985 – Angang 1986

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An den 27. Kongress der KPdSU
VON KOMMUNISTEN, KOMSOMOLZEN UND PARTEILOSEN
SOWJETISCHEN BÜRGER DEUTSCHER NATIONALITÄT

[…] Es handelt sich um die nationale und kulturelle Wiederbelebung des mehr als zwei Millionen Menschen zählenden Volkes der Sowjetdeutschen, das sich der Zahl nach auf dem 14. Platz in der UdSSR [d.h. 14. größtes Volk in der UdSSR], auf dem achten Platz in der RSFSR und auf dem dritten Platz in Kasachstan befindet. Aufgrund des fast 45jährigen Fehlens der eigenen Staatlichkeit [d.h. der Autonomie] der Sowjetdeutschen und wegen ihrer gegenwärtigen Zerstreuung durch das ganze Land, findet allerorts der Prozess des Niedergangs der nationalen Kultur der sowjetdeutschen Bevölkerung und ihrer Muttersprache statt.

Mehr als zwei Jahrzehnte sind es seit der Veröffentlichung des Erlasses des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 29. August 1964 her, der unbegründete Anschuldigungen der Komplizenschaft der Sowjetdeutschen mit den deutschen–faschistischen Eindringlingen im Großen Vaterländischen Krieg aufgehoben und sie damit politisch rehabilitiert hat. Jedoch wurde die grundlos liquidierte Autonome Republik der Wolgadeutschen nicht wiederhergestellt. […] Der legitimen Bitte von zwei repräsentativen Delegationen der Sowjetdeutschen im Januar und im Juni – Juli 1965, die Wolgadeutsche ASSR wiederherzustellen, erteilten das Zentralkomitee der KPdSU und der Obersten Sowjet der UdSSR eine Absage. Die Verbesserung der Situation der sowjetischen Deutschen beschränkte sich auf kleine Veränderungen im kulturellen Bereich, und die seither verflossenen 20 Jahre haben gezeigt, dass die Lage der Sowjetdeutschen bei weitem nicht zufriedenstellend ist.

Eine Kommission des ZK der KPdSU im September und Oktober 1985 weilte in den Siedlungsgebieten der Sowjetdeutschen und stellte eine Reihe von schweren Missständen und Mängel bei der Umsetzung des Beschlusses des ZK der KPdSU über die Verbesserung der ideologischen Arbeit unter den Bürgern deutscher Nationalität. Ein Empfang im November 1985 der aus 21 Personen bestehenden Delegation vom Genossen DENJAKIN K.S., dem Instruktor der Abteilung für Organisations- und Parteiarbeit [beim ZK der KPdSU] ließ die Hoffnung aufkeimen, dass die Frage der Wiederherstellung der nationalen Staatlichkeit der Deutschen [i.S. der Autonomen Republik] gelöst wird. In der Rede des Genossen SIMJANIN M.W. bei einer Beratung im Dezember I985 im Zentralkomitee der KPdSU, worüber wir vom ZK der Kommunistischen Partei Kasachstans informiert wurden, kam das Hauptproblem nicht zur Sprache: das der Staatlichkeit [autonome Republik] der Deutschen. Es handelte sich um einige Maßnahmen im Bereich der Bildung und Kultur (Verlängerung der Fernseh- und Radiosendungen, Erweiterung des Almanachs "Heimatliche Weiten" etc.).

[…] Die Arbeit des am 26. Dezember 1980 in Temirtau, Gebiet Karaganda eröffneten deutschen Dramatheaters wird durch eine geringe Zahl der deutschen Bevölkerung in der Stadt und fast vollständige Fehlen der deutschsprachigen Zuschauer äußerst erschwert. Das Theater hat kaum Kontakte zu anderen deutschsprachigen Kulturinstitutionen. Beim weiteren Verbleiben in der Stadt Temirtau, ohne eine radikale Lösung der deutschen Frage, ist das Theater dem Untergang geweiht. Die Ausbildung der Kader für das Theater, für [deutschsprachige] Zeitungen, Schulen [mit dem muttersprachlichen Deutschunterricht] usw. befindet sich in einem unbefriedigenden Zustand.

Eine geistige Unzufriedenheit der sowjetischen Deutschen, die unvollständige Rehabilitierung, die vor allem in der Ablehnung der Wiederherstellung ihrer rechtswidrig und unbegründet liquidierten Republik besteht, hat eine für unsere sozialistische Gesellschaft unerwünschte Kampagne zur Ausreise nach Deutschland verursacht. Die Ausreisebestrebungen und religiöse Gefühle bei einem beträchtlichen Teil der deutschen Bevölkerung wurden durch einen erfolglosen Versuch, im Juni 1979 im Norden Kasachstans ein Deutsches Autonomes Gebiet zu gründen, noch zusätzlich verstärkt. Dazu trugen vor allem grobe nationalistische Ausfälle während der Demonstrationen kasachischer Jugend am 16., 19. und 22. Juni in Zelinograd, Atbasar und Koktschetaw gegen die Gründung der deutschen Autonomie bei.

Solche beschämenden Ereignisse waren für die deutsche Bevölkerung eine völlige Überraschung und öffentliche Beleidigung, sie versetzten sie buchstäblich in einen Schockzustand, aber sie ließ sich dadurch nicht aus der Fassung bringen. Die bürgerliche Propaganda nutzte diese Ereignisse zu ihren subversiven Zwecken aus und versucht weiterhin geschickt, über die in der Russischen Sozialistischen Sowjetrepublik RSFSR ungelöste deutsche Frage zu spekulieren und die Sowjetdeutschen zum Verlassen ihrer echten Heimat Richtung des westdeutschen "kapitalistischen Paradieses" zu bewegen.

Einige Genossen behaupten, dass unsere autonome Republik nur deswegen nicht wiederhergestellt werden kann, weil die Mehrheit der Deutschen außerhalb der UdSSR lebt und ein "drittes" Deutschland nicht geben wird. Die Lösung der nationalen Frage der Sowjetdeutschen ist eine innenpolitische Angelegenheit unseres Staates und es wäre grundsätzlich falsch, sie mit der Lösung der deutschen Frage und anderen [internationalen] Problemen oder mit der Existenz der sozialistischen DDR in Verbindung zu bringen.

[…] Mit diesem Brief drücken wir die allgemeingültige Meinung der überwältigenden Mehrheit der sowjetdeutschen Bevölkerung aus, die inständig und heiß ersehnt die Wiederbelebung ihrer nationalen Autonomie wünscht, was alle Probleme der Sowjetdeutschen mit einem Schlag lösen würde. Während der Gastspiele des Deutschen Dramentheaters in verschiedenen Republiken und Regionen haben die Menschen vielerorts und wiederholt die Frage der Notwendigkeit der Wiederherstellung der ASSR der Wolgadeutschen aufgeworfen. Wiederholt wurde eine extreme Unzufriedenheit der Sowjetdeutschen unterstrichen, was geistige Bedürfnisse und Erfordernisse im Bereich der Sprache, Kultur und Lebensweise unter Berücksichtigung der nationalen Besonderheiten und Traditionen angeht. [Unzufriedenheit herrscht auch wegen] der fehlenden nationalen Schulen mit Deutsch als Unterrichtssprache, wegen eines geringeren Niveaus der politischen, erzieherischen und kulturellen Massenarbeit in der Muttersprache.

In Ermangelung einer nationalen Autonomie arbeiten alle kulturellen Einrichtungen der sowjetischen Deutschen - Redaktionen von drei Zeitungen, Theater, Ensemble , Redaktionen der Radiosendungen, Fernsehen, Verlage, Abteilungen und Fakultäten der deutschen Muttersprache an [pädagogischen] Fach- und Hochschulen - ohne einen abgestimmten und gemeinsamen Plan. Sie sind territorial und geistig voneinander entfernt, erfahren in ihrer Arbeit Schwierigkeiten und Probleme jeglicher Art; das Niveau einiger dieser Einrichtungen ist sehr niedrig. Selbst unter der Annahme der Verbesserung ihrer Arbeit können diese Kultur- und Bildungsinstitutionen den Prozess der Rückbildung der Kultur der Sowjetdeutschen nicht aufhalten bzw. verzögern.

[…] Um die Ursachen zu beseitigen, die die Ausreisestimmung und religiöse Gesinnung der Sowjetdeutschen verursachen, um ihre vollständige Rehabilitierung in den Augen aller brüderlicher Völker der UdSSR zu gewährleisten, um ihre Muttersprache, Traditionen, die Entwicklung der nationalen Kultur zu bewahren, ist es notwendig, die autonome Republik der mehr als zwei Millionen Deutschen der UdSSR wiederherzustellen.

Wir hoffen, dass die in unserem Schreiben aufgeworfenen Fragen und Probleme bei dem bevorstehenden 27. Parteitag erörtert und positiv entschieden werden, was voll und ganz den Bestimmungen des Parteiprogramms, der Verfassung der UdSSR und der Leninschen Nationalitätenpolitik entsprechen wird.

Temirtau [Gebiet Karaganda,
Kasachische Unionsrepublik], 1986

Fussnoten

Fußnoten

  1. Privatarchiv von Viktor Krieger, Universität Heidelberg. Über die Geschichte des 1980 eröffneten Deutschen Dramatheaters in Temirtau (seit 1988 in Alma-Ata) erfährt man ausführlich aus der neuesten Publikation der einstigen Leiterin des Literaturteiles: Rose Steinmark: Das Schicksal eines Theaters. Moskau 2017.

  2. Faktisch waren es noch weitere Delegationen, siehe etwa das Dokument 1.9, aber nur die ersten zwei aus dem Jahr 1965 wurden von den höchsten Repräsentanten des Staates empfangen. Auch eine auflagenstarke Samisdat-Schrift mit Materiealien dieser ersten Delegationen aus dem Jahr 1965 trug zu diesem Bild bei.

  3. Es handelte sich um die Beratung im ZK der KPdSU am 2. Dezember 1985 mit den leitenden Partei- und KGB-Kadern aus Unionsrepubliken und Gebiets- bzw. Regionalverwaltungen mit der Tagesordnung: "Über die Maßnahmen zum Gegenwirkung der westlichen Propagandistischen Kampagne um die Frage der Lage der Bürger deutscher Nationalität in der UdSSR". Eine Kurzfassung der Redebeiträge des Leiters der Beratung, des Sekretärs des ZK der KPdSU Michail Wassiljewitsch Simjanin, ist veröffentlicht: Istorija rossijskich nemcev v dokumentach (1763-1992 gg.). Tom 1. [Geschichte der Russlanddeutschen in Dokumenten, 1763-1992. Bd. 1]. Moskau 1993, S. 211–216.

  4. Seit 1981 wurde von der Zeitung "Neues Leben" (Moskau) zweimal im Jahr der Almanach "Heimatliche Weiten. Sowjetdeutsche Prosa, Poesie und Publizistik" herausgegeben. Es war die erste literarische Zeitschrift der Nachkriegszeit. In den Jahren seines Bestehens bis 1990 sind insgesamt 19 Hefte erschienen. Zur kolportierten Erweiterung des Periodikums bis auf sechs Nummern pro Jahr kam es nie. Siehe Inhaltsverzeichnisse aller publizierten Bände: Externer Link: http://wolgadeutsche.net/bibliothek/hw.htm

  5. Siehe dazu mehr im Interner Link: Dok. 2.3, Anm. 38.

  6. 1968 wurde in der Stadt Karaganda, Kasachstan für die deutsche Bevölkerung der Republik das professionelle Musik-Ensemble "Freundschaft" gegründet, das bis 1981 aktiv war und danach bis zur seinen faktischen Auflösung 1988/89 nur ein Schattendasein führte.