"Schabbat Sch’chora" (שבת שחורה) heißt der 7. Oktober 2023 in Israel, „Schwarzer Schabbat“. An diesem Tag war den Menschen schnell klar, dass es fortan nur mehr ein „Davor“ und ein „Danach“ geben würde. Die Zäsur hat sogar eine genaue Uhrzeit: 6:29. Um diese frühe Stunde begann die Hamas ihre „Operation Al Aqsa Flut“. Zunächst heulten die Sirenen flächendeckend, weil ein Raketenhagel losbrach. Auf der Suche nach einem Schutzraum, oder dort versteckt, wurden Israel*innen von mehreren Tausenden Terroristen aus Gaza angegriffen, die den Grenzzaun durchbrochen hatten. Seither ist ihr Land ein anderes geworden.
Bis dahin hatte der Jom-Kippur-Krieg von 1973 als das große kollektive Trauma gegolten. Fragte man Veteranen nach dem 7. Oktober, was denn im Vergleich schlimmer sei, antworteten sie unisono ohne zu zögern: der Schwarze Schabbat. In einer Umfrage der Hebräischen Universität
Menschen versammeln sich im Vorfeld des 2. Jahrestages des von der Hamas verübten Anschlags vom 7. Oktober auf dem Nova-Festivalgelände in Re'im im Süden Israels. (© picture alliance/dpa | Ilia Yefimovich)
Menschen versammeln sich im Vorfeld des 2. Jahrestages des von der Hamas verübten Anschlags vom 7. Oktober auf dem Nova-Festivalgelände in Re'im im Süden Israels. (© picture alliance/dpa | Ilia Yefimovich)
Zunächst ist da einmal die hohe Zahl an ermordeten Zivilist*innen, fast tausend. Sie waren in ihren Häusern aufgesucht worden und unter freiem Himmel auf dem Nova-Musikfestival. Dann die außergewöhnliche Brutalität des Vorgehens der Angreifer. Die Terroristen töteten Eltern vor den Augen ihrer Kinder und umgekehrt, sie vergewaltigten, verstümmelten, verschleppten und verbrannten. Mit Go-Pro Kameras filmten sie ihre Verbrechen , teilten die Aufnahmen in den sozialen Medien. Das war Teil der Strategie, um noch größere Schockwellen zu erzeugen. Viele Israel*innen erfuhren dort, was ihren Angehörigen widerfahren war.
Die Hilferufe und Abschiedsbotschaften, die von den Opfern vor ihrem Tod auf Whatsapp versendet wurden, sind inzwischen Teil der Gedenkstätte am Ort des Nova-Musik-Festival, dazu gehören die Bilder von 400 Ermordeten. In all diesen Berichten geht es aber auch um mutige Rettende, die in Eigeninitiative gegen die Angreifer vorgingen oder Schutzsuchende transportierten – in den langen Stunden, in denen die Armee auf sich warten ließ.
Eine unabhängige staatliche Untersuchung, wie es zu diesem kolossalen Sicherheitsversagen kommen konnte, steht noch aus. Die Hamas sei ausreichend abgeschreckt, das war die Fehlannahme, deshalb hatten Kommandeure Warnungen von Soldatinnen in einer Beobachtungseinheit nicht ernst genommen. Noch nie habe er in seiner 35-jährigen Berufszeit erlebt, dass sich ein Geschehen so einschneidend auf die mentale Verfassung der Menschen ausgewirkt habe, sagt der Psychiater Amir Mandel. Denn alles was ein Trauma ausmache, sei hier gegeben: der Verlust von persönlicher Sicherheit, die Hilflosigkeit, die Bedrohung des eigenen Zuhauses, das im Stichgelassenwerden von jenen, die auf einen aufpassen sollen. „Dieses Ausgeliefertsein geht gegen unsere kollektive Identität, die die Fähigkeit zum Selbstschutz garantiert,“ sagte er mir in einem Interview in 2024. Das nationale Heim und das eigene kleine Zuhause, beides sei beschädigt worden und damit auch das zionistische Narrativ, im eigenen Staat das eigene Schicksal selber in die Hand zu nehmen, nicht mehr verfolgte Minderheit zu sein.
Bilder der von der Hamas in Gaza festgehaltenen Geiseln im März 2024 am Flughafen von Tel Aviv. 48 Geiseln befinden sich Anfang Oktober 2025 immer noch in Gefangenschaft der Terroristen, darunter Omer Neutra (vorne) und Rom Braslavski (drittes Plakat). Arbel Yehoud (zweites Plakat) und Edan Alexander (viertes Plakat) sind in der Zwischenzeit freigekommen. Ori Danino (fünftes Plakat) wurde im September 2024 tot in einem Tunnel der Hamas gefunden. (CC, bpb.de - Stefan Lampe) Lizenz: cc by-nc-sa/4.0/deed.de
Bilder der von der Hamas in Gaza festgehaltenen Geiseln im März 2024 am Flughafen von Tel Aviv. 48 Geiseln befinden sich Anfang Oktober 2025 immer noch in Gefangenschaft der Terroristen, darunter Omer Neutra (vorne) und Rom Braslavski (drittes Plakat). Arbel Yehoud (zweites Plakat) und Edan Alexander (viertes Plakat) sind in der Zwischenzeit freigekommen. Ori Danino (fünftes Plakat) wurde im September 2024 tot in einem Tunnel der Hamas gefunden. (CC, bpb.de - Stefan Lampe) Lizenz: cc by-nc-sa/4.0/deed.de
Dann die massive Geiselnahme. 55 (von 251) befinden sich auch zwanzig Monate (Stand Juni 2025) später immer noch in der Gewalt der Hamas. Zwanzig sollen noch am Leben sein. Bei der automatisierten Passkontrolle am Flughafen sieht man in ihre Gesichter. „Bring them home“ leuchtet es groß über der Konzerthalle am Habima-Platz. Jeden Samstagabend wird am Geiselplatz in Tel Aviv für ihre Rückkehr demonstriert. Je mehr Zeit verstreicht, desto verzweifelter werden die Reden der Angehörigen.
Der israelische Ethos besagt, dass man füreinander einstehen muss und niemanden auf dem Schlachtfeld zurücklassen darf. Dieser Gesellschaftsvertrag ist nun seitens der Regierung zunehmend in Frage gestellt worden. Zwei Drittel der Bevölkerung befürworten die Rettung der Geiseln, auch wenn damit der Krieg gegen die Hamas eingestellt werden muss, ohne dass letztere kapituliert. Die Gegner*innen eines Deals mit der Hamas führen ins Feld, dass die Freilassung palästinensischer Gefangener in Zukunft ja nur weitere Geiselnahmen und Anschläge in der Zukunft mit einprogrammiere. Sie rechnen potenzielle Opfer gegen heutige reale Opfer auf. Jedoch wird die Gesellschaft wohl erst nach der Rückkehr aller Geiseln einen Heilungsprozess beginnen und ins Danach übergehen können.
In Florentin, im Süden Tel Avivs, ist ihnen eine ganze Straße gewidmet. Darunter auch Aisha, sie trägt einen Hidschab auf dem bunten Graffiti. Die 17-jährige Beduinin war mit ihrem Vater und zwei Brüdern nach Gaza verschleppt worden – sie und ein Bruder kamen bei dem ersten Geiseldeal im November 2023 frei, die anderen beiden kehrten später als Leichen zurück. Auch die arabischen Israel*innen zählten somit zur „Zielgruppe“ der Hamas. Doch im Vergleich zu 2021, als es im Schatten des Krieges zwischen Israel und der Hamas zu heftigen arabisch-jüdischen Zusammenstößen innerhalb des Landes kam, ist es in dieser Hinsicht seit dem 7.Oktober ruhig geblieben. Die auffallende Zurückhaltung der arabischen Israel*innen mag sich durch die geteilte Abscheu vor den verübten islamistischen Gräueltaten erklären lassen, oder aber auch durch die Angst vor den Reaktionen, sollte jemand sich anderslautend äußern. In jedem Fall gab es nicht wenige arabisch-israelische Opfer am Schwarzen Schabbat, ebenso wie selbstlos helfende Taxifahrer und Sanitäter.
Wer bisher aus Gaza zurückkam, engagiert sich für die Zurückgebliebenen. Auch da betraten Ärzt*innen sowie Therapierende Neuland. Trotz aller Erfahrung wussten sie nicht, wie man Menschen, die aus der Geiselhaft kommen, behandelt. Und das in Kombination mit Krieg und Trauer. Manche kamen zurück und entdeckten dann erst, dass ihre Angehörigen nicht mehr am Leben sind. Man praktizierte learning by doing, sagt die Psychotherapeutin Michal Nir. Die gesamte Gesellschaft sei dabei, mit der Situation irgendwie fertig zu werden: „Es gibt keinen Präzedenzfall für solche Situationen, für die Fragen und Gedanken, die die Menschen haben“. Die kollektive Trauer spiegelt sich in den unzähligen Aufklebern wider, die überall auf Bushaltestellen, Kiosken zu sehen sind. Viele erinnern inzwischen an gefallene Soldat*innen.
Das Massaker vom 7. Oktober hat auch das Konzept einer sicheren Grenze in Frage gestellt. In den Jahren nach der Staatsgründung waren zivile Ortschaften, die direkt an der Grenze lagen, ein wichtiger Baustein für die Sicherheitsstrategie der jungen Nation. „Für uns war die Notwendigkeit, Israels Grenzen zu schützen, einer tief empfundene Einsicht geschuldet, dass das einzige jüdische Land auf der Welt ohne sichere Grenzen ein unsicheres Land wäre, in dem sich die dunkle Vergangenheit unseres Volkes wiederholen könnte“, schreibt der Haaretz-Journalist, Amir Tibon, der das Massaker im Kibbuz Nahal Oz mit Frau und zwei kleinen Kindern überlebt hat, in seinem Buch über den 7. Oktober.
Eine Viertel Million Bürger*innen aus Ortschaften an der Grenze zu Gaza und zum Libanon wurden nach dem 7. Oktober evakuiert, weil der Staat sie in Gefahr wähnte. Diese angestrebte Verkleinerung des Landes gehörte zur Strategie der Hamas und der Hisbollah, die sich mit einem dauerhaften Raketenbeschuss auf den Norden Israels an der Seite der Hamas eingeschaltet hatte. Heute weiß man, dass die proiranische Hisbollah ganz ähnliche Überfallspläne wie die der Hamas in der Schublade hatte. Alle hatten die Heimatfront im Visier.
Viele Evakuierte sind bis heute noch nicht in ihre Häuser zurückgekehrt. Manche Ortschaften müssen ohnehin erst wieder aufgebaut werden. Es ist aber nicht sicher, wie viele tatsächlich wieder an den Tatort in der Nähe von Gaza zurückkehren wollen. Vor allem Eltern mit kleinen Kindern zögern, sich erneut in unmittelbarer Grenznähe niederzulassen. Inzwischen hat sich die strategische Lage Israels zwar drastisch verändert. In einer Umfrage des Israel National Elections Studies Research Project der Tel Aviver Universität
Der lange Krieg seit dem 7. Oktober verlangt seinen Preis. Für Außenstehende ist die geografische und gesellschaftliche Nähe zu den Kämpfen nur schwer nachzuvollziehen. Von Tel Aviv ist es gerade einmal eine Fahrstunde bis zum – am 7. Oktober zerstörten - Grenzübergang Erez. Wie nah die Tunnels der Hamas sind, wird deutlich, wenn sich Geiselfamilien an die Grenze stellen und per Lautsprecher ihren Lieben versichern, dass sie nicht vergessen seien.
Die Streitkräfte wiederum bestehen zum Großteil aus Reservisten und auch Reservistinnen, die Ärzte, Lehrer, Buchhalter oder High-Tech-Ingenieure sind. Nach zwanzig Monaten Krieg sind die Kämpfenden erschöpft. Viele waren inzwischen mehr als dreihundert Tage im Einsatz. Manche kommen nicht mehr, wenn sie gerufen werden. Für sie sind die finanziellen, familiären und physischen Kosten zu hoch geworden. Viele Tausende mussten aufgrund schwerer Verletzungen und/oder posttraumatischer Belastungsstörungen aus dem Armeedienst entlassen werden.
Die Last ist groß, und damit wurde ein jahrzehntealtes Problem neu aufgelegt – die Tatsache, dass die (stark anwachsende) ultraorthodoxe Bevölkerung von der allgemeinen Wehrpflicht ausgenommen ist. Eine überwältigende Mehrheit der Israel*innen fordert nun verstärkt deren Rekrutierung.
Tatsächlich hatten sich nach dem 7. Oktober auch viele Ultraorthodoxe in nie dagewesener Weise für das Allgemeinwohl engagiert. Auch haben sich einige freiwillig zum Wehrdienst gemeldet. Allerdings ließ sich daraus kein Trend ableiten.
Dass selbst unter den heutigen Umständen die ultraorthodoxe Bevölkerung weiterhin einen besonderen Schutz genießt, schürt Wut über die fehlende Lastenteilung und auf eine Regierung, die die Interessen ihrer streng religiösen Koalitionsmitglieder über das Gemeinwohl stellt und zugleich den Krieg bis zum „endgültigen Sieg“ weiterführen möchte. Der Vorwurf, dass der Regierungschef bei seinen Entscheidungen in erster Linie machtpolitisch handelt und längst nicht mehr im nationalen Interesse, hat die Menschen erneut auf die Straße getrieben.
Damit sind die Gräben wieder da, so wie man sie am Vorabend des 7. Oktober kannte. Das Land war gespalten wie nie, der Bruch ging mitten durch Familien. Das Thema Politik war in einer Gesellschaft, in der offene Worte zur DNA gehören, auf Taxifahrten, im Flugzeug, an den Supermarktkassen umgangen worden. Dann drohten Piloten der Reserve damit, an keinen Übungen mehr teilzunehmen, wenn der Spielraum des Obersten Gerichts – ohne breite Übereinkunft – zugunsten der Politik geschwächt werden würde.
All das war am 7. Oktober schlagartig obsolet geworden. Reformgegner*innen und Befürworter*innen kämpften fortan Seite an Seite in Uniform. Die Protestbewegung schaltete um auf Soforthilfe. Sie handelte dort, wo Behörden und Ministerien zunächst versagten. Die Stärke der Zivilgesellschaft zeigte sich auf beeindruckende Weise. Niemand wartete auf Anordnungen, um anzupacken. Jetzt haben die Demonstrationen gegen die Regierung, die erneut die Justizreform vorantreibt, wieder an Fahrt aufgenommen.
Die Kluft zwischen der Innen- und Außenwahrnehmung ist groß. Man muss sich das Land als Insel vorstellen. Nur die israelische El Al hat seit dem 7. Oktober fast nie aufgehört zu fliegen. Fast alle ausländischen Fluggesellschaften haben ihre Verbindungen seither immer wieder unterbrochen, weil eine Landung am Flughafen als zu gefährlich galt.
Raketenalarm gehört auch zwanzig Monate später immer noch zum Alltag. Angriffe gab es an sieben Fronten: Gaza, Libanon, Syrien, Irak, Jemen, Westbank und Iran. Und inzwischen kam es – nach dem israelischen Großangriff im Juni auf das iranische Atomprogramm - dann auch zum offenen Krieg mit Teheran.
Die nationalen Medien haben vor allem das eigene Schicksal im Blickwinkel. Über die Lage in Gaza wird, wenn überhaupt, nur spärlich berichtet. Man zeigt die Zerstörung, aber wenig von der Not und vom Hunger der Menschen. Im Ausland wiederum hat sich der Fokus der Aufmerksamkeit mit jedem Tag, der seit dem Angriff der Hamas vergangen ist, zu den Not leidenden palästinensischen Bewohner*innen verschoben. Vieles ist auch im Juni 2025 immer noch offen.
Nicht wenige Israel*innen wollen gar nicht mehr abwarten, um zu sehen wie es weitergeht. Nach dem offiziellen Statistikbüro haben im vergangenen Jahr 60.000 Einwohner*innen dem Land den Rücken gekehrt, mehr als doppelt so viel wie im Jahr zuvor. 81 Prozent waren junge Menschen und Familien, im Alter von 25 bis 44. Nach Umfragen denken 40 Prozent zumindest darüber nach, woanders eine bessere Zukunft zu suchen. Meist aber ist das laute Nachdenken darüber dann mit der Frage nach dem „wohin?“ verbunden. Denn auch im Ausland sind Israel*innen zunehmend gefährdet. Sie sollen sich nicht outen, ihre Herkunft aus Sicherheitsgründen sofern möglich verbergen.
Vor Ort dauert die Zeitschleife, die am 7. Oktober begann, immer noch an, während die Welt das Datum längst im Geschichtskalender eingetragen und die Seite umgeschlagen hat.