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"Afrika ist meine Utopie" | 15. Bundeskongress Politische Bildung 2023 | bpb.de

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"Afrika ist meine Utopie" Interview mit Ingrid LaFleur

/ 7 Minuten zu lesen

Die Kuratorin und Afrofuturistin Ingrid LaFleur entwirft neue Narrative für Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Mit der Schriftstellerin und Historikerin Dr. Edna Bonhomme sprach sie über intersektionale Kunst, ihr politisches Engagement und den Begriff der Utopie im Afrofuturismus.

Interner Link: Hier finden Sie die ausführliche Englische Version des Interviews.

Dr. Edna Bonhomme: Wie definieren Sie Afrofuturismus, und wie hat seine Geschichte und seine aktuelle Ausprägung Ihre kuratorische und künstlerische Arbeit beeinflusst?

Ingrid LaFleur: Afrofuturismus ist eine Art, die Schwarze Erfahrung mithilfe von spekulativen Genres wie Science-Fiction, Fantasy, magischem Realismus und Horror zu diskutieren. Ich erforsche die Überschneidung von Race, Technologie und Wissenschaft. Afrikanische und afro-diasporische Kosmologien, Legenden, Mythologien und spirituelle Technologien beeinflussen meine Arbeit. Ich betone gerne, dass der Afrofuturismus in all seinen Facetten nicht linear und multidimensional ist. Darüber hinaus ist Afrofuturismus intersektional und multidisziplinär angelegt. Entscheidend ist, dass er den Schwarzen Körper in den Mittelpunkt stellt, ohne ihn zu rechtfertigen. Afrofuturismus ist ein Portal der Befreiung für alle, unabhängig davon, ob jemand afrikanischer oder nicht afrikanischer Herkunft ist. Es ist wichtig, über den Schwarzen Körper nachzudenken, da Anti-Schwarzer Rassismus in dieser Welt allgegenwärtig ist. Unsere Welt hat die Menschen seit Jahrtausenden darauf trainiert, Schwarze Menschen als Menschen zweiter Klasse zu betrachten. Vor diesem Hintergrund kann der Afrofuturismus dazu beitragen, ein neues Verhältnis zum Schwarzsein zu schaffen, das heißt, Schwarze Menschen als vollwertige Menschen zu betrachten, die eine Kultur hervorbringen, zu der sich, wie ich glaube, viele Menschen weltweit hingezogen fühlen. Der Begriff »Afrofuturismus« wurde erst 1993 geprägt. Doch es hat ihn schon immer gegeben, denn Schwarze Menschen waren schon immer Futuristen, sie haben sich alternative Schicksale jenseits ihrer jeweiligen Situation vorgestellt. So während des Versklavungshandels in den beiden Amerikas, wo die versklavten Schwarzen Menschen sich selbst und ihre Nach- kommen über ihre Versklavung hinaus wahrgenommen und sich ihre Freiheit vorgestellt haben.

(© Jacques Nkinzingabo)

In der 2022 von Ihnen kuratierten Ausstellung Futurisms mit Werken von Jasmine Murrell, Saba Taj, Alisha Wormsley, Saks Afridi und anderen ging es nicht nur darum, Raum für Afrofuturismus zu schaffen, sondern auch, um die Einbeziehung von Sci-Fi-Sufismus und muslimischem Futurismus. Was unterscheidet diese vom Afrofuturismus, und wie sind die Künstlerinnen und Künstler in einen transkulturellen Diskurs getreten?

Als Kuratorin habe ich mich mehr auf ihre Gemeinsamkeiten als auf ihre Unterschiede konzentriert. Und für mich war es wichtig, dass der Afrofuturismus mit anderen Zukunftsvisionen im Dialog ist. Afrofuturismus, Sci-Fi-, Golf- und muslimischer Futurismus entwerfen ein neues Narrativ für die Gegenwart, die Vergangenheit und die Zukunft. Sie nutzen den Futurismus, um Aspekte der Vergangenheit zu aktivieren und das infrage zu stellen, was uns in den Schulen beigebracht wurde. Der Afrofuturismus hat diesen Weg geschaffen, und viele Menschen haben sich davon inspirieren lassen. Menschen, die vom Versklavungshandel und dem Kolonialismus betroffen waren, sind sehr futuristisch eingestellt, weil all diese Brüche uns sagen, dass wir nicht unversehrt sind. Diese Botschaften versuchen, unsere Gegenwart zu besetzen, und sie können uns davon abhalten, unsere Träume zu verwirklichen. Die Entwicklung von Zukunftsvisionen kann uns aus der Vergangenheit herausholen und uns vorwärtsbringen. Deshalb liebe ich es, zu reisen. Wenn ich reise, werde ich zur Beobachterin und möchte von anderen lernen. Was ich bei diesem kuratorischen Projekt über die Verbindung verschiedener Zukünfte in der arabischen und afrikanischen Diaspora gelernt habe, ist die Art und Weise, wie Menschen überleben, sich entwickeln und Freude an unserer Gegenwart haben. Diese Strategien formen ihre Zukunft.

In Ihrer Arbeit Traveling to Turiya, einer Serie von Skulpturen aus dem Jahr 2016, die sich auf das Werk der afroamerikanischen Jazzmusikerin Alice Coltrane bezieht, verwenden Sie Materialien wie Kristalle, Pyrit, Amethyst und Wismut, die dem Publikum vermitteln sollen, durch Heilungsmethoden zu fühlen und zu denken. Das heißt, Sie versuchen, Wege zu finden, um intergenerationale Traumata zu überwinden. Begleitet wird die skulpturale Installation von einer Audiocollage mit Aufnahmen afroamerikanischer Künstlerinnen und Musiker, die Selbstliebe und Erleuchtung beschwören. Wie sind Sie dazu gekommen, diese Klanginstallation zu entwickeln, und wen soll sie bestärken?

Objekt aus der Ausstellung "Traveling to Turiya". (© Ingrid LaFleur)

Turiya, das ich im Titel meiner Arbeit verwendet habe, bezieht sich auf den höchsten Bewusstseinszustand im Hinduismus. Da ich das Vermächtnis von Alice Coltrane und ihre hinduistische Praxis kannte, fragte ich mich, wie ich zu Turiya gelangen könnte. Also fertigte ich über dreißig Skulpturen an, für die ich auch Kristalle verwendete, alle Kristalle hatten heilende Eigenschaften. Ein weiteres Ziel war es, fortschrittliche Aktivisten in Detroit zu unterstützen und zu ermutigen. So schuf ich die Meditationen als Teil der Installation. Die Stimmen in der Audiocollage enthielten Sätze von afroamerikanischen Schriftstellern, Künstlerin- nen und Kreativen wie James Baldwin, Eartha Kitt, Toni Morrison und der Science-Fiction-Autorin Octavia Butler. Das Kunstwerk soll für alle heilend sein. Ich bin eine Schwarze queere Frau, also werde ich immer etwas auf einer kollektiven Ebene tun.

2017 haben Sie für das Amt der Bürgermeisterin von Detroit kandidiert, der größten Stadt im Bundesstaat Michigan. Sie ist aber auch für ihren unverwechselbaren Motown-Sound aus den 1960er-Jahren und die Geburt der Techno-Musik bekannt. Inwieweit haben sich Ihre kulturellen Praktiken und Ihre politische Praxis auf Ihren Wunsch ausgewirkt, für dieses Amt zu kandidieren?

Ich bin 1977 in Detroit geboren und aufgewachsen, das heißt zehn Jahre nach dem Höhepunkt der Bürgerrechtsbewegung. In meiner Kindheit waren in Detroit viele Gebäude niedergebrannt oder standen leer. Viele Menschen beschlossen, die Stadt zu verlassen, vor allem weiße Amerikaner. Detroit ist eine Schwarze Stadt, über 80 Prozent der Bevölkerung sind Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner. Viele Jahre habe ich in anderen Städten gelebt, unter anderem in Atlanta. Als ich zurück nach Detroit zog, gab es in der Stadt mehr Brandstiftungen als in Los Angeles und New York. Als Aushilfslehrerin, die von Schule zu Schule ging, sah ich in jeder Klasse Kinder mit Verbrennungen dritten Grades. Ich fragte mich, wie diese Kinder nach dem Trauma, das sie erlebt haben, noch lernen konnten. Außerdem gab es in Detroit viele Zwangsversteigerungen von Häusern, was bedeutete, dass viele Kinder kein stabiles Zuhause hatten. Die Schwarzen Kinder von Detroit werden mich immer inspirieren, und ich werde mich immer für sie einsetzen, egal, was ich tue. Als ich beschloss, für das Amt der Bürgermeisterin zu kandidieren, tat ich das nicht in dem Bewusstsein Afrofuturistin zu sein, sondern ich organisierte mich wie eine Kuratorin. Ich lud die Gemeinde in mein politisches Büro ein und hielt Co-Creation-Sitzungen ab. Wir haben einen Raum geschaffen, in dem jeder offen über Politik sprechen konnte. Da 64 Prozent der Menschen in Detroit in Armut leben, wollte ich ein universelles Grundeinkommen für alle von monatlich 2.000 Dollar einführen, um alle Grundbedürfnisse, Energiekosten und Miete zu decken. Wäre dies gelungen, wäre das Problem der Armut angegangen worden.

Objekt aus der Ausstellung "Traveling to Turiya". (© Ingrid LaFleur)

2016 veröffentlichte der senegalesische Ökonom Felwine Sarr das Buch Afrotopia, in dem er eine Afro-Utopie für das 21. Jahrhundert entwirft, wobei Afrika zu einem Ort des kreativen Potenzials, des wirtschaftlichen Wachstums und der Produktion wird. Wie definieren Sie Utopien, und was wäre nötig, um sie politisch und künstlerisch zu erreichen?

Ich glaube, dass Utopien in einer Dystopie existieren können. Wenn ich etwas von der Stadt Detroit gelernt habe, dann das. Dennoch ist die Utopie eine individuelle Angelegenheit. Sie hängt von der eigenen Realität und Vorstellungskraft ab. Ich glaube, deshalb ist es nicht so einfach, eine Utopie auf kollektiver Ebene zu schaffen. Die Utopie von jemandem könnte die Dystopie von jemand anderem sein, und umgekehrt. Leider werden wir immer in der Lage sein, Dystopien zu erkennen, weil wir darauf trainiert und so sozialisiert wurden. Und das hat zur Folge, dass wir uns zur Dystopie hingezogen fühlen. Aber ich bin kein Opfer und weigere mich, ein Opfer zu sein. Afrika ist meine Utopie. Das heißt nicht, dass Afrika perfekt ist; ich sage nur, es ist meine Utopie. Wann immer ich auf dem afrikanischen Kontinent bin, bin ich zu Hause. Ich bin begeistert von all der Innovation und Technologie in Afrika. Ich reise nach Afrika, um zu lernen und dieses Wissen nach Detroit zurückzubringen. Ich glaube, dass die afrikanische Diaspora immer stärker wird, je mehr Afrika wächst. Die Menschen in der afrikanischen Diaspora bewegen sich durch die Kultur. Und so kommt der meiste Widerstand, den wir als Schwarze Menschen leisten, durch unsere Kultur. Der Traum ist es, die Menschen des afrikanischen Kontinents zusammenzubringen. Ich denke, dass dies möglich ist.

Woran arbeiten Sie gerade?

Nachdem ich mich so viele Jahre auf die Erforschung neuer Technologien konzentriert hatte, wollte ich Künstliche Intelligenz besser verstehen. Ich interessierte mich für die Methoden zur Kartierung der Zukunft. Deshalb beschloss ich, an der University of Houston ein Studium der Zukunftsforschung zu absolvieren, um die Methoden der Futurologie zu erlernen. Ich bin also auch eine ausgebildete Futuristin. Und ich habe beschlossen, meine eigene Methodik zu entwickeln, die alle Informationen, Erfahrungen und das Wissen, das ich seit 2010 erworben habe, kombiniert. Wir alle haben das Potenzial, ein Zukunftsbewusstsein zu entwickeln, das ein Schritt zur Befreiung ist.

Ingrid LaFleur ist Kuratorin und Afrofuturistin. Im Jahr 2017 kandidierte sie für das Amt der Bürgermeisterin von Detroit. Im November ist sie beim 15. Bundeskongress Politische Bildung in Weimar mit dabei.

Dr. Edna Bonhomme ist Autorin, Wissenschaftshistorikerin und Redakteurin, deren Arbeit sich mit globalen Epidemien, medizinischen Experimenten und sexueller Reproduktion beschäftigt.

Fussnoten

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