"Das mit dem großen Streik war nicht meine Idee"
Als Betriebsrat bei Ford in Köln: Salih Güldiken
1962 kam Salih Güldiken nach Deutschland um sich das Geld für einen Autokauf zu verdienen. Doch dann arbeitete er sich bei Ford vom Fließband bis zum Aufsichtsrat hoch und ist bis heute in Deutschland geblieben.Dieser Text ist ein Ausschnitt aus der bpb-Publikation Auf Zeit. Für immer., Oktober 2011.
Salih Güldiken, heute 74, hat in Istanbul als Elektriker in einem kleinen Unternehmen gearbeitet, bevor er 1962 nach Köln kam. In Deutschland wollte er eigentlich nur so lange bleiben, bis er genug Geld verdient hatte, um dort ein Auto zu kaufen. Das konnte er für seine Arbeit in Istanbul gut gebrauchen. Knapp fünf Jahrzehnte später – mit Stationen am Fließband, als Dolmetscher und schließlich als Betriebs- und Aufsichtsrat bei Ford – ist Salih Güldiken immer noch in Köln. Den Ford-Werken ist er, bis er vor elf Jahren in Rente ging, treu geblieben, in guten wie in schlechten Zeiten.
Am Freitag, dem 24. August 1973, legen 10.000 Arbeiterinnen und Arbeiter im Betrieb der Ford-Werke AG in Köln-Niehl die Arbeit nieder; die meisten sind Gastarbeiter aus der Türkei. Als "Türken-Streik" wird die Aktion in die Geschichte der Arbeiterbewegung eingehen. Salih Güldiken, elf Jahre zuvor über das Anwerbeverfahren aus Istanbul zu Ford nach Köln gekommen, ist wenige Wochen vor dem Streik in den Betriebsrat gewählt worden.
- "Zwei Nächte habe ich auf einem Stuhl in meinem Büro übernachtet, zusammen
mit einem deutschen Kollegen. Von den anderen ist auch kaum einer mehr
nach Hause gegangen. Ich habe zu den deutschen Kollegen gesagt: 'Ich bleibe
bei meinen Leuten, ich kann sie nicht alleine lassen. Die Firma soll aber nicht
meinen, dass ich dort mitmache! Ich kenne die Gesetze. Als Betriebsrat darf ich
das nicht. Ich bleibe einige Tage mit den anderen hier, ich muss dabei sein, damit
das nicht in eine falsche Richtung geht. Das soll aber niemand falsch verstehen!
Ich helfe der Firma Ford – nicht mir selbst und nicht nur den Leuten.' Der
Betriebsrat spielte also auch eine Rolle, aber nicht offiziell, das durfte er nicht."
Anfang der 70er-Jahre stammen 38 Prozent der Gesamtbelegschaft bei dem Kölner Automobilhersteller aus der Türkei; am Fließband sind es sogar neun von zehn. Die türkischen Arbeiter werden für die unbeliebteren, monotonen und schmutzigeren Tätigkeiten eingesetzt, die häufig weniger gut bezahlt sind und für die es keine Zulagen gibt. Zeitzeugen, deutsche wie türkische, berichten, dass die Arbeiter aus der Türkei sich über ihre Lage nie beschwert hätten. Im Gegenteil – die türkischen Kollegen stehen in dem Ruf, besonders f leißig, schnell und genügsam zu sein. Was damit zu tun haben mag, dass sie angesichts der strikten Aufenthaltsregelungen davon ausgehen müssen, durch Beschwerden oder Aufbegehren ihre Ausweisung zu riskieren. Auch deshalb kommt der Streik in den Ford-Werken für die deutsche Öffentlichkeit, aber wohl auch für viele türkische Arbeiter selbst überraschend. Erstmals wird ihr zuvor lange ungehörter Wunsch nach besseren Arbeitsbedingungen laut. Über die Betriebsräte, die IG Metall und deren Vertrauensleute hatten die türkischen Arbeiter bereits seit längerer Zeit die Gleichstellung mit deutschen Arbeitern, mehr Lohn und eine Reduzierung der Fließbandgeschwindigkeit gefordert – vergeblich. Den Unmut seiner türkischen Kollegen kann Güldiken nachvollziehen. Die Härten der Fließbandarbeit hat der gelernte Elektriker in den ersten Jahren bei Ford selbst erfahren.
- "Die Arbeit am Band ist nicht kompliziert, aber anstrengend. Du darfst keine
Pausen machen, das Band läuft einfach immer weiter. Es ist sehr schwer, so zu
arbeiten. Man muss sich daran gewöhnen. Ich war der erste Mann am Band, ich
musste die Kabel im Motorraum der Autos anbringen. Hätte ich einen Fehler
gemacht, wäre es übel gewesen, es hätte mich erwischt. Das Band läuft weiter;
ein Kollege macht den nächsten Schritt. Aber er kann nur arbeiten, wenn ich
meine Sachen schon gemacht habe. Die deutschen Kollegen haben zu uns gesagt:
'Wenn ihr so weiterarbeitet, wird der Meister immer mehr Leute vom Band
abziehen.' Weil wir so schnell gearbeitet haben. Wir hätten dann also weniger
Leute gebraucht. Einmal kam einer der deutschen Kollegen mit einer Stoppuhr
zu einem von uns, zeigte ihm, wie viel Zeit der eine und wie viel Zeit der
andere brauchte. 'Ich verstehe das nicht', sagte der türkische Kollege zu mir, 'ich
habe alles richtig gemacht, meine Arbeit ist fertig und sie beschweren sich.'"
Über eine Dekade nach der Ankunft der ersten Gastarbeiter in Deutschland findet jedoch nun auch bei den türkischen Arbeitskräften ein Bewusstseinswandel statt: Sie haben im Laufe der Jahre erkannt, dass sie für die deutschen Unternehmen wichtig, zum Teil unentbehrlich sind, was ihnen möglicherweise ein neues Selbstbewusstsein beschert. Gleichzeitig erkennen immer mehr von ihnen, dass sie wohl so bald nicht in die Türkei zurückkehren werden. Zum Teil haben sie ihre Frauen und Kinder bereits nachgeholt oder in Deutschland Familien gegründet. Auch deshalb wachsen ihre Ansprüche auf eine angemessene Entlohnung; aber auch weil sie in Deutschland und anderen europäischen Ländern miterlebt haben, dass Forderungen dieser Art in einer Demokratie Gehör finden.