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Vielfalt der türkeistämmigen Bevölkerung in Deutschland | 1961: Anwerbeabkommen mit der Türkei | bpb.de

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Vielfalt der türkeistämmigen Bevölkerung in Deutschland

Jan Hanrath

/ 16 Minuten zu lesen

Obwohl die türkeistämmige Bevölkerung in Deutschland sehr heterogen ist, wird sie häufig als geschlossene Gruppe wahrgenommen. Ihre Vielfalt wird anhand der Migrationsgeschichte, dem ethno-religiösen Hintergrund, dem Integrationsgrad sowie an Intragruppenkonflikten verdeutlicht.

Am 25. Mai 2002 nimmt eine in traditionelle türkische Tracht gekleidete Frau an einer Parade in Berlin Teil. An diesem "Tag der Türken" wird die deutsch-türkische Freundschaft gefeiert. (© AP)

Auch nach 50 Jahren Einwanderung aus der Türkei werden türkeistämmige Menschen in Deutschland häufig als geschlossene Gruppe wahrgenommen. Nicht selten wird im öffentlichen Diskurs nach wie vor von "den Türken" gesprochen. Dabei ist diese Bevölkerungsgruppe in hohem Maße heterogen. Die Mitglieder unterscheiden sich hinsichtlich der Zeit ihrer Ankunft in Deutschland, den Gründen für ihre Migration – manche kamen beispielsweise zum Arbeiten oder Studieren, andere aufgrund von Familienzusammenführungen oder um Asyl zu beantragen –, ihrem ethnischen und religiösen Hintergrund – manche sind türkische Sunniten, andere kurdische Aleviten oder auch armenische Christen –, ihrer Staatsbürgerschaft oder ihrem Bildungsgrad.

Manche haben selbst Migrationserfahrungen gemacht, andere sind bereits hier geboren. So spiegelt die Vielfalt dieser Einwanderergruppe auf der einen Seite die Migrationsgeschichte Deutschlands und die Bedingungen am Niederlassungsort wider. Auf der anderen Seite reflektiert diese Vielfalt auch die Heterogenität der Bevölkerung in der Türkei sowie wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Entwicklungen im Herkunftsland. Diese werden gleichsam immer wieder zu Bezugspunkten für die türkeistämmige Bevölkerung in Deutschland.

Der vorliegende Beitrag zeigt die Vielfalt und Breite dieser Gruppe anhand der Migrationsgeschichte, religiösen und ethnischen Identitäten, des Grads der Integration und der Spannungen innerhalb der türkeistämmigen Bevölkerung Deutschlands auf. Er verdeutlicht somit die Untauglichkeit von pauschalen Beschreibungen sowie die Notwendigkeit einer differenzierteren Auseinandersetzung mit diesem Thema.

Von "Gastarbeitern" zu Bürgern – Einwanderung aus der Türkei

Als am 31. Oktober 1961 das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei unterzeichnet wurde, geschah dies vor allem aus ökonomischen Gründen: Es sollte aus deutscher Sicht einem Mangel an Arbeitskräften entgegenwirken, der sich aus einem Boom der westdeutschen Wirtschaft ergab. Bereits zuvor hatte die Bundesregierung bilaterale Vereinbarungen mit südeuropäischen Staaten über die Anwerbung von Arbeitskräften unterzeichnet, um mit der temporären Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer vor allem dem Arbeitskräftemangel in der Industrie und Landwirtschaft zu begegnen. Für die Türkei bot das Abkommen die Möglichkeit, die teilweise gravierende Arbeitslosigkeit zu mindern und durch die Zahlungen der Gastarbeiter an ihre Familien in der Heimat an Devisen zu gelangen.

Türkische Gastarbeiter warten in Frankfurt auf den Bus nach Istanbul, 1978 (© AP)

Ursprünglich sah das Abkommen vor, dass die sogenannten Gastarbeiter nur für eine kurze Zeit in Deutschland verbleiben und danach in ihre Heimatländer zurückgehen. De facto wurde die Aufenthaltsdauer ausländischer Arbeitnehmer immer länger, so dass die Zahl der "Gastarbeiter" in Deutschland stetig anstieg. Als der wirtschaftliche Aufschwung zu Beginn der 1970er abflaute und dies noch durch die Ölkrise verstärkt wurde, kam es 1973 zu einem Anwerbestopp. Zwar kehrten viele "Gastarbeiter" nun in ihre jeweiligen Herkunftsländer zurück, insgesamt stiegen die Zuwanderungszahlen aufgrund von Familienzusammenführungen jedoch weiter an.

Damit wandelte sich auch die soziale Struktur dieser Migrantengruppe. Waren es zuvor zwar nicht nur, aber vor allem Männer gewesen, die auf der Suche nach Arbeit eingewandert waren, kamen nun vermehrt Frauen und Kinder nach Deutschland. Die sozialen Bedürfnisse veränderten sich, und Fragen der Kinderbetreuung, Schulbildung und der Gesundheitsversorgung gewannen an Bedeutung. Es wurde nun immer deutlicher, dass die als Arbeitskräfte ins Land gekommenen Menschen sich mit ihren Familien hier einzurichten begannen und eine Heimkehr häufig – wenn überhaupt – in eine weite Ferne rückte.

Über Jahre weigerten sich jedoch die deutsche Politik und weite Teile der Öffentlichkeit, die Tatsache anzuerkennen, dass die "Gastarbeiter" und ihre Familien nun auch bleiben würden. Bis 1998 verfolgte die Bundesregierung eine offizielle Politik, die bestritt, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei. So gab es auch keine bundesweit konzertierte Ausländerpolitik, von Integrationspolitik ganz zu schweigen. Erst 2000 wurde das Staatsangehörigkeitsgesetz geändert und restriktive Vorschriften modifiziert. Nun hatten Kinder von nichtdeutschen Eltern unter bestimmten Voraussetzungen das Recht, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten. Die Bedingung hierfür ist, dass mindestens einer der beiden Elternteile wenigstens seit acht Jahren rechtmäßig in Deutschland lebt und seit drei Jahren eine unbegrenzte Aufenthaltsgenehmigung hat.

Ein Fürsprecher der doppelten Staatsbürgerschaft präsentiert einen deutschen und einen türkischen Pass . München, 1999. (© AP)

Hauptgrund für die Migration nach Deutschland blieb auch nach dem offiziellen Anwerbestopp für die meisten Migranten aus der Türkei die Suche nach Arbeit beziehungsweise die Familienzusammen-
führung. Für eine Mehrzahl der Immigranten war es jedoch insgesamt eine Kombination aus verschiedenen Gründen, die sie zur Auswanderung bewog. In den Jahren 1966 und 1971 waren es beispielsweise zwei Erdbeben in der Osttürkei, die zu einer verstärkten Emigration führten. Immer wieder war es auch die politische Situation, die Menschen zur Ausreise bewog. So löste der Militärputsch in der Türkei im Jahr 1980 eine Welle von politischen Flüchtlingen aus. Neben einer Reihe von türkischen Künstlern und Intellektuellen waren es besonders Menschen kurdischer Herkunft, die das Land verlassen mussten. Im Jahr 1980 kamen mehr als die Hälfte aller Asylsuchenden in Deutschland aus der Türkei. In den späten 1980er und frühen 1990er Jahren führte der gewaltsame Konflikt in Südostanatolien zwischen dem türkischen Militär und der PKK (Partiya Karkerên Kurdistan; dt.: Arbeiterpartei Kurdistans) und die systematische Zerstörung kurdischer Dörfer zu einer weiteren Welle kurdischer Flüchtlinge.

Mehrere tausend Kurden nehmen am Samstag, 15. Dezember 2007, an einer Großdemonstration in Düsseldorf teil. Die Demonstranten protestierten gegen den Einmarsch türkischer Streitkräfte in den Norden des Iraks und forderten die Freilassung des inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan.

Bereits seit den 1970er Jahren entwickelten sich die Einwanderer aus der Türkei und ihre Familien zur zahlenmäßig größten Migrantengruppe in Deutschland. Durch ihre Präsenz prägten sie das Bild "des Ausländers" in der deutschen Öffentlichkeit, sodass es in vielen Debatten um Integration von Zuwanderern beziehungsweise deren vermeintliches Ausbleiben primär um die Integration von Türkeistämmigen ging und geht. Mit etwa 2,5 Millionen Menschen bilden heute in Deutschland türkeistämmige Migranten und ihre Nachkommen nach wie vor die größte Gruppe von Menschen mit einer Zuwanderungsgeschichte. Dies entspricht 3,1 Prozent der Gesamtbevölkerung Deutschlands beziehungsweise knapp 16 Prozent der Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Rund zwei Drittel der Türkeistämmigen hält nach wie vor die türkische Staatsbürgerschaft, das übrige Drittel die deutsche. Die Zahl der türkischen Staatsangehörigen sank allerdings in den vergangenen Jahren, was zum einen auf Einbürgerungen und zum anderen auf sinkende Einwanderungszahlen zurückzuführen ist.

Im Vergleich zu anderen Einwanderergruppen weisen jene aus den ehemaligen Anwerbestaaten eine im Durchschnitt recht lange Aufenthaltsdauer auf. 64,8 Prozent der Migranten aus der Türkei sind vor 20 oder mehr Jahren nach Deutschland gekommen. Doch der Anteil der Türkeistämmigen ohne eigene Migrationserfahrungen – das sind also jene, die bereits in Deutschland geboren wurden – steigt kontinuierlich an. 2009 waren dies gut 40 Prozent unter den Türkeistämmigen. Zwar geben die demografischen Fakten schon einen ersten Eindruck über die Vielfalt dieser Bevölkerungsgruppe. Sie sagen jedoch noch nichts über die ethnische und religiöse Diversität aus und auch wenig über die soziale Integration in Deutschland.

Religiöse und ethnische Identitäten

Gerade im Hinblick auf die religiöse Orientierung und ethnische Vielfalt spiegeln sich die Verhältnisse in der Türkei auch in Deutschland wider. Rund 95 Prozent der türkeistämmigen Menschen in Deutschland sind muslimischen Glaubens, der Rest entfällt auf Konfessionslose und andere Religionsgemeinschaften wie beispielsweise Christen und Yeziden. Je nach Schätzungen sind von den türkeistämmigen Muslimen zwischen 76 Prozent und 87,3 Prozent Sunniten und zwischen 11,6 Prozent und 17 Prozent Aleviten. Einen verschwindend geringen Teil bilden Schiiten. Insgesamt schätzen sich rund zwei Drittel als religiös bis sehr religiös ein – was einen deutlichen Unterschied zu jenem Teil der Gesellschaft ohne Migrationshintergrund darstellt.

Türkische Muslime während des Fastenmonats Ramadan am Feitag, 31. Oktober 2003, in der Anstalt für Religion in Berlin. Foto: AP

Zur ethnischen Zugehörigkeit und zur Größe von ethnischen Minderheiten liegen nur Schätzungen vor, da in Deutschland keine statistische Erfassung nach Ethnien stattfindet. Die ethnische Heterogenität der Türkei findet sich jedoch auch in Deutschland wieder. Neben kleineren Gruppen wie Tscherkessen, Arabern oder Lasen stellen Kurden als größte ethnische Minderheit in der Türkei auch die größte Gruppe der nichttürkischen Einwanderer aus der Türkei in Deutschland dar. Ihre Zahl wird unterschiedlichen Quellen zufolge auf zwischen 500.000 und 800.000 geschätzt, sodass sie bis zu fast einem Drittel aller türkeistämmigen Menschen in Deutschland ausmachen.

Religiöse und ethnische Identitäten sind jedoch auch unter Türkeistämmigen keine festen Größen, die über die Zeit unverändert bleiben. Zum Teil entwickelten sie sich erst in Deutschland oder gewannen hier an Bedeutung. So waren beispielsweise unter den Gastarbeitern und Flüchtlingen aus der Türkei immer auch schon Kurden gewesen. Die meisten von ihnen entdeckten ihr "Kurdischsein" jedoch erst, als sie sich in Europa niederließen. Sie sahen sich zunächst selbst als Türken. Falls die kurdische Sprache und Kultur überhaupt gepflegt wurde, so blieb dies auf den privaten Rahmen beschränkt. Ab Mitte der 1970er Jahre wuchs unter Einwanderern kurdischer Herkunft jedoch die kurdische Identität und das Gefühl ethnischer Zugehörigkeit. Dieser Trend wurde durch den Militärputsch in der Türkei 1980 und seine Folgen noch verstärkt. Die Ankunft einer großen Anzahl von Immigranten, welche die Türkei aus politischen Gründen verlassen hatten, führte zu einer verstärkten Politisierung und Mobilisierung der kurdischen Gemeinschaft in Deutschland und anderen europäischen Staaten.

Auch im Hinblick auf alevitische Religiosität lässt sich ein Zusammenhang mit politischen Ereignissen in der Türkei, der Unterdrückung und Verfolgung von Aleviten und einer Renaissance des alevitischen Glaubens in der Diaspora feststellen. Waren Aleviten in der Türkei schon immer mit Vorurteilen und Diskriminierung konfrontiert, so wurden sie ab Ende der 1970er Jahre vermehrt Opfer massiver Gewalt aus dem rechtsradikalen politischen Spektrum. Um gegen negative Stereotypen und Benachteiligungen vorzugehen, fingen Aleviten zu Beginn der 1990er Jahre in und außerhalb der Türkei an, sich zu organisieren und ihren Glauben offener und selbstbewusster zu praktizieren. Als 1993 bei einem Massaker während eines alevitischen Kulturfestivals in der zentralanatolischen Stadt Sivas mehr als 30 Menschen starben, führte dies zu einem Erstarken der alevitischen Bewegung. Auch in Deutschland begannen nun mehr und mehr Aleviten sich zu organisieren und zum Alevitentum zu bekennen.

Demonstranten (© AP)

Ein nicht zu unterschätzender Faktor für die Entwicklung einer ethnischen oder religiösen Identität stellen dabei die demokratischen Bedingungen in Deutschland und in anderen europäischen Aufnahmeländern dar. Erst die Organisations- und Versammlungsfreiheit sowie die Möglichkeit zur freien Meinungsäußerung, der Religionsausübung und häufig auch zur Nutzung der eigenen Sprache führt bei vielen Migrantengruppen zu einer gestiegenen ethnischen und religiösen Identität. Oft findet bei Migranten eine Auseinandersetzung mit vormals selbstverständlichen Verhaltensweisen erst im Kontext der Aufnahmegesellschaft statt. Sie werden nun lediglich als eine von vielen möglichen Handlungsoptionen erfahren, was unter Umständen zu einer Reflexion und zu einem erstmaligen Bewusstwerden des eigenen ethnischen oder auch kulturellen Hintergrunds führt. Identitäten sind vielschichtige und komplexe Phänomene. Für ein Individuum sind multiple Identitäten möglich, die stark kontextabhängig sein können. So kann sich beispielsweise eine Person in einer Situation als Türke fühlen, jedoch in einer anderen als Kurde, Deutscher oder Muslim. Manche Identitäten wie religiöse Überzeugung, Klassenzugehörigkeit oder Gender können quer zu ethnischen Identitäten verlaufen.

In der aktuellen Debatte in Deutschland über die Integration von Migranten wird besonders die Rolle der Religion – das heißt vor allem des Islams – diskutiert. Daher hat sich der Fokus der Politik und großer Teile der deutschen Öffentlichkeit von nationalen und ethnischen Kategorien zu religiösen verschoben, was wiederum Rückwirkungen auf die Selbstidentifikationen von Menschen mit einem Migrationshintergrund aus muslimisch geprägten Ländern hat.

Integration in Deutschland

So vielfältig die Gruppe der türkeistämmigen Personen ist, so wenig lassen sich allgemeine Aussagen über die individuelle Einbindung in die Mehrheitsgesellschaft treffen. Wenngleich der Begriff Integration kontrovers diskutiert wird, besteht weitgehender wissenschaftlicher Konsens darüber, dass sie auf verschiedenen Dimensionen stattfindet. Diese lassen sich oftmals nicht voneinander trennen und bedingen sich vielfach gegenseitig. So wird meist unterschieden zwischen struktureller Integration, das heißt die Einbindung in gesellschaftliche Funktionssysteme wie Bildung, Arbeitsmarkt, soziale Sicherungssystem und Politik, sozialer Integration, das heißt interethnische Freundschaften oder gesellschaftliche Einbindung in Vereinen und ähnliches, kultureller Integration, das heißt Spracherwerb und Kenntnisse von Normen, sowie identifikativer Integration, das heißt Zugehörigkeitsgefühle zur Aufnahmegesellschaft.

Zwar lässt sich – anders als dies die öffentliche Diskussion gelegentlich nahe legt – kein Anwachsen von "Parallelgesellschaften" feststellen. Dennoch ist der Grad der Integration individuell sehr unterschiedlich und kann auch auf den genannten Ebenen erheblich variieren. Zudem existiert durchaus ein, wenn auch sehr kleiner, Teil der türkeistämmigen Bevölkerung, für den nur eine minimale Anbindung an die deutsche Gesellschaft (die Mehrheitsgesellschaft) festzustellen ist. Vor allem Unterschiede im Bereich der strukturellen Integration führen zu erheblichen Ungleichheiten in der wirtschaftlichen Situation innerhalb der türkeistämmigen Bevölkerung. So steht einer steigenden Zahl von wirtschaftlich besser gestellten Personen eine nach wie vor sehr hohe Zahl von Menschen gegenüber, die in wirtschaftlich prekären Situationen leben und in hohem Maße von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Hier werden die Langzeitfolgen der Einwanderungsgeschichte deutlich: Der wirtschaftliche Strukturwandel von der Industrieproduktion zur Dienstleistungsgesellschaft traf die meist ungelernten "Gastarbeiter" besonders hart, da im verarbeitenden Gewerbe zunehmend Arbeitsplätze wegfielen. Es gelang ihnen nur selten in anderen Bereichen Fuß zu fassen, da ihnen die schulischen und beruflichen Qualifikationen fehlten und teilweise nur geringe Deutschkenntnisse vorhanden waren.

Insbesondere bestehen zwischen der ersten und den Nachfolgegenerationen deutliche Unterschiede hinsichtlich ihrer Integration in Deutschland. Allerdings stellt sich auch in den jüngeren Generationen der Integrationsgrad sehr unterschiedlich dar. Dies ist darauf zurückzuführen, dass zu diesen Generationen neben den Kindern und Enkelkindern der "Gastarbeiter", welche in Deutschland geboren oder zumindest hier aufgewachsen sind, auch jene nachgereisten Ehepartner gehören, die erst seit kurzem in Deutschland sind und in der Türkei aufwuchsen und sozialisiert wurden. Langfristig wird deutlich, dass die Schere größer wird zwischen jenen Migranten, die über gute Voraussetzungen der strukturellen, gesellschaftlichen und identifikativen Integration verfügen und aufgrund dessen relativ gut in die Mehrheitsgesellschaft eingebunden sind, und jenen, denen die Voraussetzungen hierfür fehlen.

Ein Klassenzimmer der Schwabschule in Stuttgart, wo Schüler den islamischen Religionsunterricht in deutscher Sprache verfolgen. (© AP)

Insgesamt bleiben einige Aspekte von gemeinsamer Bedeutung für diese Bevölkerungsgruppe. So sehen sich in Deutschland, verglichen mit dem Rest der Bevölkerung, Türkeistämmige ebenso wie Menschen mit anderen Migrationshintergründen mit einer Reihe von Problemen, Benachteiligungen und Diskriminierung konfrontiert. Dies ist besonders im Bereich der (Aus-)Bildung der Fall. Alle jüngeren Studien zum deutschen Bildungssystem, am prominentesten die PISA-Studie zur internationalen Schulleistungsuntersuchung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), haben gezeigt, dass Kinder mit einem Migrationshintergrund weit hinter jenen Schülerinnen und Schülern ohne einen solchen Hintergrund zurückfallen. Das bedeutet, dass sie deutlich geringere Chancen während ihrer ganzen Schullaufbahn haben und die Schule überdurchschnittlich oft mit geringen Abschlüssen verlassen.

Dies führt zu einer Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt und zu hohen Arbeitslosenzahlen unter Migranten. Sogar in der dritten Generation ist der Anteil der ungelernten und gering bezahlten Arbeiternehmer vergleichsweise hoch. Und selbst bei einer Verbesserung der Migranten in Bereichen des Spracherwerbs und der Bildung schlägt sich dies bislang nicht in einer verbesserten Platzierung auf dem Arbeitsmarkt nieder, da hier weitere strukturelle Schranken wirken und Diskriminierung weit verbreitet ist.

Zwischen Deutschland und der Türkei

Wie schon im Hinblick auf die Migrationsgründe und Identitätsbildungsprozesse deutlich wurde, war und ist die Situation in der Türkei eine wichtige Bezugsgröße für die Migrationsdynamik und ebenso für die türkeistämmige Bevölkerung in Deutschland. Zwar haben die meisten türkeistämmigen Migranten und ihre Familien inzwischen ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland gefunden. Entwicklungen und Einzelereignisse in der Türkei bleiben jedoch – wenngleich in individuell sehr unterschiedlichem Ausmaß – von Bedeutung. Emotionale Bindung und individuelle Zugehörigkeitsgefühle an Deutschland und die Türkei schließen sich nicht gegenseitig aus. Vielmehr gehören multiple Identitäten zur Normalität vieler Migranten.

Zudem haben die rasanten technischen Entwicklungen der vergangenen Jahre eine neue Dimension der Migration geschaffen und zu einer Transnationalisierung geführt. Aufgrund des Fortschritts moderner Informations- und Kommunikationstechnologien, der Verfügbarkeit von schnellen und preiswerten Reiseangeboten sowie den Möglichkeiten des elektronischen Geldtransfers können die Beziehungen zu Verwandten und Freunden in der Türkei kontinuierlich gepflegt und aufrechterhalten werden. Diese Beziehungen sind dadurch vielschichtiger und komplexer geworden.

Darüber hinaus sind im Zuge der fortschreitenden Globalisierung über Staatsgrenzen hinweg organisierte Migrationsströme entstanden, die als zirkulär charakterisiert werden können. Zeitlich begrenzte Aufenthalte und wiederholtes oder regelmäßiges Pendeln zwischen dem Herkunftsland und einem (oder mehreren) Aufnahmeländern sind typisch für diese Wanderungsform. Sie geht einher mit der Etablierung von transnationalen Sozialräumen, bei denen ökonomische, politische und kulturelle Beziehungen zwischen Personen und Gruppen die Grenzen von souveränen Staaten überschreiten.

Deutschtürkin Lale Erdem (© AP)

Diese neuen Sozialräume beeinflussen die Lebenspraxis der türkeistämmigen Bevölkerung, indem sie den Einreiseort und das Herkunftsland auf unterschiedlichen Ebenen miteinander verbinden. Neben internationalen Geschäftsbeziehungen beinhaltet dies auch die Etablierung von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die ihre Aktivitäten sowohl auf die Türkei als auch auf Deutschland ausrichten, oder die Entstehung einer Populärkultur, die Aspekte aus beiden Kulturen kombiniert. Im Ergebnis bauen türkeistämmige Migranten und ihre Nachkommen vielfältige soziale Beziehungen auf, die ihre Herkunfts- und Niederlassungsgesellschaft miteinander verbinden.

Mitunter können türkeistämmige Menschen aufgrund ihrer Vertrautheit sowohl mit der Herkunfts- wie der Niederlassungskultur eine Brückenfunktion zwischen beiden Ländern einnehmen. Zunehmend setzen auch Wirtschaftsunternehmen auf diese Kompetenzen, um auf beiden Märkten Fuß zu fassen. Allerdings trifft diese Beschreibung nur auf einen bestimmten Kreis der türkeistämmigen Bevölkerung zu. Auch hier wird wieder die Vielfalt der Gruppe deutlich: Während sich ein Teil problemlos in beiden Kontexten bewegen kann, mangelt es anderen an den notwendigen Kompetenzen wie Bilingualität und kultureller Flexibilität oder aber den materiellen Ressourcen. Hier kann es sogar zum gegenteiligen Phänomen kommen, dass sich Personen weder in Deutschland noch in der Türkei wirklich heimisch und akzeptiert fühlen.

Konflikte unter türkeistämmigen Migranten

Die bereits beschriebenen Dynamiken transnationaler Vernetzung führen allerdings auch teilweise dazu, dass konfliktbezogene Entwicklungen und Einzelereignisse sowie bereits bestehende Konfliktstrukturen und gesellschaftliche Konstellationen in der Türkei für das Zusammenleben einzelner Gruppen der türkeistämmigen Bevölkerung in Deutschland relevant bleiben. So hat es beispielsweise in der Vergangenheit immer wieder Spannungen und teilweise auch Gewalt zwischen Türkisch- und Kurdischstämmigen gegeben, die den Kurdistan-Konflikt in Deutschland fortzuführen schienen. Besonders in den 1990er Jahren kam es zu einer Reihe von Auseinandersetzungen zwischen pro-kurdischen und pro-türkischen Kräften. Besonders die PKK erregte mit Anschlägen auf türkische Institutionen und Geschäfte Aufsehen, aber auch Übergriffe seitens türkisch-nationalistischer Gruppen auf kurdische Einrichtungen nahmen zu.

Wenngleich das Konfliktniveau nachließ, kommt es auch aktuell immer wieder zu Auseinandersetzungen, die sich häufig an Ereignissen wie Militäraktionen, Gerichtsurteilen oder Wahlen in der Türkei entzünden. So kam es beispielsweise im April dieses Jahres zu teilweise gewaltsamen Protesten vor türkischen Botschaften und Konsulaten gegen einen Entschluss der türkischen Wahlaufsicht, der verschiedene kurdische und linke Kandidaten zunächst von den Parlamentswahlen im Juni 2011 ausschloss, oder einige Wochen später zu Zusammenstößen bei Demonstrationen gegen die PKK im Kontext einer Eskalation der Gewalt in der Türkei. Insgesamt reicht die Bandbreite der Auseinandersetzungen von Sachbeschädigungen und Körperverletzungen über Ausschreitungen im Kontext von Demonstrationen bis zu Jugendgewalt an Schulen. Doch auch latentere Konfliktformen sind zu beobachten. So beklagen Kurdischstämmige immer wieder, dass sie sich von ihrem türkischen Umfeld diskriminiert fühlen und sich daher oftmals nicht offen zu ihrer kurdischen Identität bekennen würden.

Teilweise eng verbunden mit diesem Thema sind auch Spannungen zwischen Anhängern verschiedener türkischer Parteien und Bewegungen. So flammen gelegentlich Konflikte zwischen Vertretern eines extremen türkischen Nationalismus, beispielsweise den sogenannten Grauen Wölfen, und Vertretern aus dem radikalen linken Spektrum auf. Es kommt auch zu Kontroversen im Umgang mit dem Völkermord an den Armeniern in der Türkei zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Allerdings greifen Erklärungen, welche die Wurzeln solcher Konflikte lediglich im Herkunftskontext sehen und schlicht einen Konfliktimport attestieren, zu kurz. Vielmehr sind vergangene und aktuelle Ereignisse in der Türkei, die Zuwanderungsgeschichte sowie der nationale und lokale Kontext von Bedeutung bei der Entfaltung von Konflikten zwischen den Gruppen. Neben den sozialen Konstellationen und Konfliktstrukturen in der Türkei spielen negative Erfahrungen in der Aufnahmegesellschaft und daraus resultierende Frustrationen eine Rolle in Bezug auf bestehende Spannungen zwischen verschiedenen Gruppen.

Die aus der Diskriminierung in Deutschland resultierende Frustration, der Mangel an Identität und damit die Suche nach Akzeptanz stärken Abgrenzungstendenzen und den Rückzug in ethnische Nischen oder auch gesteigerte Religiosität. Die Orientierung an der eigenen Gruppe, deren Mitglieder mit denselben Problemen und Gefühlen der Ausgrenzung durch die Gesellschaft und die Politik des Aufnahmelandes zu kämpfen haben, wird verstärkt. Ein Ergebnis solcher Identifikationen ist, dass wechselseitig Stereotypen und negative Images produziert werden, die zu Spannungen und Konflikten zwischen verschiedenen Gruppen, aber auch mit der Mehrheitsgesellschaft führen können. Zusammengenommen kann dies zu Konfliktsituationen führen, in denen die zugrunde liegenden Ursachen sozialer oder individueller Natur sind, jedoch in ethnischer oder religiöser Form zum Ausdruck kommen. Zur Bearbeitung und Vermeidung solcher Konflikte ist daher eine differenzierte Analyse der tatsächlichen Ursachen notwendig, die einfache Schuldzuweisungen und vermeintlich offensichtliche Erklärungen vermeidet.

Der Überblick über die Migrationsgeschichte, den ethno-religiösen Hintergrund, den Integrationsgrad und Intragruppenkonflikte verdeutlicht die Pluralität der türkeistämmigen Bevölkerung in Deutschland. Zwar werden einige Aspekte für die Mehrheit der Türkeistämmigen relevant bleiben. Es ist jedoch gerade ihre Unterschiedlichkeit und Vielfalt, die sie kennzeichnet. Dies gilt es auch in der öffentlichen Wahrnehmung stärker zu verankern. Auch hier muss einer Reproduktion von Stereotypen entgegengewirkt und Verallgemeinerungen vermieden werden. Nur eine differenzierte Betrachtung ermöglicht es, Potenziale zu nutzen und positive Entwicklungen zu fördern sowie Missstände zu identifizieren und zu bearbeiten. So wird es in Zukunft wichtiger denn je sein, sich mit einzelnen Aspekten der Lebenswelt türkeistämmiger Migranten und ihrer Nachkommen auseinanderzusetzen, anstatt pauschal von "den Türken" zu sprechen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. "Türkeistämmig" bezeichnet sämtliche Personen, die unabhängig von ihrer ethnischen und religiösen Identität oder eigenen Migrationserfahrungen ihre familiären Wurzeln in der Türkei haben.

  2. Vgl. Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, München 2001, S. 202 ff.

  3. Vgl. Klaus J. Bade, Versäumte Integrationschancen und nachholende Integrationspolitik, in: ders./Hans-Georg Hiesserich (Hrsg.), Nachholende Integrationspolitik und Gestaltungsperspektiven der Integrationspraxis, Göttingen 2007.

  4. Vgl. Bundesministerium des Innern (BMI), Migration und Integration. Aufenthaltsrecht, Migrations- und Integrationspolitik in Deutschland, Berlin 2008, S. 16.

  5. Vgl. zu den Statistiken: BMI, Migrationsbericht 2009, Berlin 2011.

  6. Vgl. zum Problem der Erhebung der Religionszugehörigkeit: Riem Spielhaus, Religion und Identität, in: Internationale Politik, (2006) 3, S. 28-36.

  7. Bei den Aleviten handelt es sich um eine Konfession, die ihre Wurzeln im schiitischen Islam hat. Die Zugehörigkeit des Alevitentum zum Islam ist umstritten, die meisten Aleviten sehen sich jedoch selbst als Muslime.

  8. Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Muslimisches Leben in Deutschland, Nürnberg 2009, S. 303; Martina Sauer/Dirk Halm, Erfolge und Defizite der Integration türkeistämmiger Einwanderer, Wiesbaden 2009, S. 34.

  9. Vgl. Deutscher Bundestag, Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Fraktion der PDS – Kurdische Minderheit in der Bundesrepublik Deutschland, 14.2.2000, online: http://dip21.bundestag.de/
    dip21/btd/14/026/1402676.pdf (25.8.2011); Navend. Zentrum für Kurdische Studien, Kurden in Westeuropa. Schätzungen für das Jahr 2002, online: www.navend.de/html/kurden/
    asylsuchende.pdf (25.8.2011).

  10. Vgl. Claus Leggewie, How Turks Became Kurds, Not Germans, in: Dissent, 43 (1996) 2, S. 79-83.

  11. Vgl. Martin Sökefeld, Struggling for Recognition, New York u.a. 2008.

  12. Vgl. Dieter Filsinger, Bedingungen erfolgreicher Integration. Integrationsmonitoring und Evaluation, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2008, S. 8, online: http://library.fes.de/pdf-files/wiso/05767.pdf (25.8.2011).

  13. Vgl. Zentrum für Türkeistudien, Armut und subjektive wirtschaftliche Perspektiven bei türkischstämmigen Migranten, Essen 2005.

  14. Vgl. M. Sauer/D. Halm (Anm. 8), S. 119.

  15. Vgl. OECD Programme for International Student Assessment, Where immigrant students succeed, Paris 2006.

  16. Vgl. M. Sauer/D. Halm (Anm. 8), S. 38 ff.

  17. Vgl. Ludger Pries, Transnationalisierung. Theorie und Empirie grenzüberschreitender Vergesellschaftung, Wiesbaden 2010.

  18. Vgl. Jan Hanrath, Konflikte zwischen Migrantengruppen, INEF Report, (2011) 105 (i. E.).

Weitere Inhalte

Dipl.-Soz.-Wiss., geb. 1978; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF), Universität Duisburg-Essen, Lotharstraße 53, 47057 Duisburg. E-Mail Link: jan.hanrath@inef.uni-due.de