Skandal und Konflikt: Deutsch-türkische Themen
Deutsch-türkische Themen waren stets von Skandalisierungen geprägt. Dies verstellt den Blick auf die Mechanismen von Integrationsprozessen. Probleme ansprechen, Fortschritte und Chancen wahrnehmen: Integrationspolitischer Realismus ist nötiger denn je.
Die Anwerbung ausländischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer seit Mitte der 1950er Jahre stieß Wanderungsprozesse an, die eine starke Eigendynamik entfalteten. Die Bundesregierungen waren über Jahrzehnte nur sehr eingeschränkt in der Lage, diese Prozesse zu steuern. Die Westdeutschen standen dabei von Beginn an skeptisch bis ablehnend einer dauerhaften Zuwanderung gegenüber. Unbeabsichtigte Nebenwirkungen der Niederlassungen von ausländischen Arbeitnehmern und ihrer Familien boten ausreichende Ansatzpunkte für journalistische und politische Skandalisierung. Die türkische Gruppe als größte unter den "Gastarbeitern" hatte sich in zahlreichen Städten eine eigenethnische Infrastruktur geschaffen und war damit die "sichtbarste" Gruppe.
Die ethnische Grenzziehung ist hier am stärksten ausgeprägt, auch im Vergleich zu anderen Zuwanderergruppen wie etwa Italienern. 17 Prozent der westdeutschen und 21 Prozent der ostdeutschen Befragten gaben 2006 in der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) an, sie sähen große kulturelle Unterschiede zu den Italienern, 70 Prozent hingegen zu den Türken. [1] Die soziale Distanz ihnen gegenüber ist besonders stark ausgeprägt. [2]

Zu Beginn der 1960er Jahre wurden Gastarbeiter zunächst in ihrer wirtschaftlichen Funktion wahrgenommen. Unterschiedslos nannte man sie "Südländer", welche die "Völkerwanderung zu Westdeutschlands Lohntüten" angetreten hatten. [4] Es vergingen Jahre, bis die nationale Herkunft als Kategorie entdeckt wurde, [5] wobei "den Türken" oder anderen "Gastarbeitern" jeweils bestimmte Eigenschaften zugeschrieben wurden. Türkische Arbeiter galten als diszipliniert, anspruchslos und arbeitswillig. [6] In den Medien wurden sie als "'sauber´, 'geschickt´, 'traditionsgebunden´ und 'bescheiden´" dargestellt. [7] Die Berichterstattung war in den 1960er Jahren geprägt von Paternalismus und einem Bild vom "Gastarbeiter" als Menschen aus vormodernen Gesellschaften, rückschrittlich, aber unverdorben. [8] Die Hoffnungen derjenigen, die sich in der Türkei anwerben lassen wollten, auf eine wirtschaftliche Verbesserung der eigenen Lage waren oft ebenso unrealistisch wie ihre Vorstellungen von Deutschland. [9]

Auch waren leistungssteigernde Lohnformen (wie Akkord- und Prämienlohn) bei "Gastarbeitern" wesentlich stärker verbreitet als bei deutschen Arbeitern. Das gleiche galt für Schicht- und Nachtarbeit. [13] Leistungsbereitschaft und Unverständnis gegenüber den Organisationsformen industrieller Produktionsweisen waren ein wesentliches Moment dafür, dass ein negatives Klima zwischen deutschen und türkischen Arbeitern entstand: "Gerade bei den aus vorkapitalistischem Milieu stammenden türkischen Arbeitern und Arbeiterinnen wirkt der Akkordlohn besonders leistungssteigernd.
Es gab vor allem in der Anfangsphase der Anwerbung von Türken häufige Klagen der deutschen Arbeitskollegen darüber, dass die Türken beim Auftauchen eines Zeitnehmers an ihrem Arbeitsplatz 'wie verrückt arbeiten´ und dadurch die Akkordsätze verderben. Unter anderem hat in den Betrieben gerade dieses Verhalten zu einer starken Abneigung gegen die Türken geführt." [14]
Die Konfrontation mit der Wirklichkeit (wie niedrige Löhne, schlechte Arbeitsbedingungen, miserable Unterkünfte) führte auch zu Arbeitskämpfen und Konflikten. Beispiele sind die Streiks im Jahr 1962 in Duisburg-Hamborn und Essen, beim Industrietraktorenwerk Deere-Lanz in Mannheim, bei den Automobilzulieferern Karmann in Osnabrück oder Hella in Lippstadt und Paderborn. Erhebliche Aufmerksamkeit fand der "Türkenstreik" bei Ford in Köln-Niehl im August 1973. [15]

Kettenwanderungen
Die Art der Wanderung – Einzel- oder Kettenwanderung – hat wesentlichen Einfluss auf Motive und Erwartungen von Migrantinnen und Migranten und damit auf deren Integrationsverhalten. Einzelwanderer müssen sich sehr viel intensiver auf die Aufnahmegesellschaft einlassen und mit ihr auseinandersetzen als Gruppenwanderer, die darauf vertrauen können, im Aufnahmeland (zumindest für eine Übergangszeit) auf Netzwerke zurückgreifen zu können.Als Ergebnis dieses Prozesses entstehen "ethnische Kolonien", [18] die ambivalente Auswirkungen haben: Zum einen mindert die Gemeinschaft mit Landsleuten den Umstellungs- und Anpassungsstress, zum anderen kann sich die ethnische Kolonie negativ auswirken auf die Entstehung von Kontakten zur Aufnahmegesellschaft. Ethnische Konzentration wird dann zum Problem, wenn sich ethnische und soziale Probleme überlappen, wenn sich Armutsviertel verfestigen und ethnische Kolonien nicht mehr Durchgangsstationen, sondern Sackgassen sind.
Besonders für die türkische Zuwanderung war die Kettenwanderung von großer Bedeutung. Dies erklärt sich einerseits aus einer spezifischen Entsendepolitik der damaligen türkischen Regierungen: Bevorzugt wurden Personen aus Regionen, die von Naturkatastrophen heimgesucht worden waren, sowie ländlichen Regionen "entsandt". Wichtiges Kriterium waren die zu erwartenden Rücküberweisungen in die jeweiligen Regionen. [19]
Eine zweite Erklärung liegt in der überwiegend ländlichen Herkunft der türkischen "Gastarbeiter": Sie sind grundsätzlich stärker in Netzwerke und größere Familienverbünde eingebunden als Zuwanderer aus städtischen Regionen. Damit sind erstere auch höherem Erwartungsdruck ausgesetzt, für die im Herkunftsland Verbliebenen Unterstützung zu leisten (wie Aufenthalts-, Beschäftigungs-, Wohnmöglichkeiten, finanzielle Transfers).
Unter den verschiedenen "Gastarbeiter"-Gruppen hatten die Türken den größten sozialen Sprung aus ihrer heimatlichen Welt nach Westdeutschland getan. Die Lebensverhältnisse der "Gastarbeiter" und ihrer Nachkommen in Deutschland waren zwar äußerst bescheiden, im Vergleich zur Situation in der Türkei waren viele jedoch nicht dazu angetan, die einmal vollzogene Niederlassung in Deutschland aufzugeben und sich in die politisch instabilen Verhältnisse in der Heimat mit einer außer Kontrolle geratenen Inflationsrate zu reintegrieren. Auch Sozialleistungen, soziale Infrastruktur und der Standard der medizinischen Versorgung machten das "Gastland" attraktiv.
Während der Anteil der Ausländer aus den Staaten der Europäischen Gemeinschaft zwischen 1974 und 1980 nahezu gleich blieb (rund 21 Prozent), erhöhte sich der Anteil der türkischen Staatsangehörigen hingegen von 25 auf 33 Prozent. Bei den unter 15-Jährigen stieg der türkische Anteil von 31 Prozent im Jahr 1974 auf 46 Prozent im Jahr 1980. [20]
Die Quantität schlug damit in eine neue Qualität für die Integrationspolitik um. Deutlich machte dies 1982 Wolfgang Bodenbender, damaliger Ministerialdirektor im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung: Die Zahl der Türken, so rechnete er vor, "erhöhte sich zwischen 1979 und 1981 allein um rund 280.000 oder 22 Prozent auf rund 1,5 Millionen. Der gesamte Zuwanderungsüberschuss in diesem Zeitraum beruht allein auf Einreisen aus der Türkei. (...) Mit einem Anteil von einem Drittel an allen hier lebenden Ausländern dominiert mit den Türken nunmehr eine Bevölkerungsgruppe, bei der die Integrationsbarrieren aus vielfältigen Gründen besonders hoch sind. (...) Diese Entwicklungstendenz macht das Ausmaß der Integrationsprobleme deutlich, vor denen unsere Gesellschaft steht." [21]

Für die Unternehmen war diese betriebsnahe Unterbringung von Vorteil, für die Kommunen bedeutete dies allerdings, dass sie mit den mittel- und langfristigen Problemen solcher Konzentrationen fertig werden mussten. Bereits zu Beginn der 1970er Jahre zeichnete sich daher eine räumliche Konzentration der "Gastarbeiter" in den Städten ab. Pointiert hieß das: "Je mehr schlechte und alte Wohnungen es in einem Gebiet gibt, desto höher ist die Türkenquote." [22]
In den 1960er Jahren war die Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer von politischer Seite als ein "gutes Geschäft" für die Bundesrepublik dargestellt worden. Schließlich seien die Ausbildungskosten vom Herkunftsland getragen worden und die "Gastarbeiter" zahlten Sozialversicherungsbeiträge wie ihre deutschen Kolleginnen und Kollegen. Aufgrund ihres niedrigen Durchschnittsalters, ihrer Gesundheit und körperlichen Belastbarkeit (alle Arbeiterinnen und Arbeiter mussten sich vor ihrer Einreise nach Deutschland ärztlich untersuchen lassen) und der damals nicht vorstellbaren Arbeitslosigkeit waren entsprechende Auszahlungen hingegen nicht zu befürchten. [23]
Erst gegen Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre wurde die Lage der "Gastarbeiter" zunehmend problematisiert. Der Niederlassungsprozess mit seinen Auswirkungen auf die kommunale Infrastruktur (wie Wohnungsmarkt, Kindergärten, Schulen) wurde spürbarer, das "Ausländerproblem" zum Topos. [24] Die Rede war vom drohenden "Ghetto" und vom "Slum". [25]