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Warum aus jungen Menschen Terroristen wurden

Prof. Herfried Münkler Herfried Münkler

/ 8 Minuten zu lesen

Die terroristische Ideologie der RAF bot eine "Totaldeutung" der Welt mit einem klaren Freund-Feind-Schema. Gewalt wurde als adäquates Mittel zur Überwindung der politischen Perspektivlosigkeit propagiert.

Ein Fahndungsplakat aus dem Jahr 1997: Flucht vor der Sinn- und Perspektivlosigkeit ihres bisherigen Lebens? (© AP)

Die alltägliche Perspektivlosigkeit

Nachdem er die dritte oder vierte legale linke Gruppe nach deren Auseinanderbrechen hinter sich gelassen und "jedesmal den gleichen Katzenjammer danach" in sich verspürt habe, mache mancher sich immer stärker mit dem Gedanken vertraut, es jetzt einmal mit Gewalt zu versuchen und in den Untergrund zu gehen. Möglicherweise hat Hans-Joachim Klein bei dieser Beschreibung des Einstiegs in den Terrorismus seine eigene Biografie vor Augen gehabt, die ihn von der Frankfurter "Roten Hilfe" über die "Revolutionären Zellen" schließlich bis zum Überfall auf die OPEC-Konferenz in Wien geführt hat.

Zur Frustration und Resignation, so Klein, komme "die ungeheure Angst der Perspektivlosigkeit hinzu", die "Angst, wieder in den alten bürgerlichen Sumpf zurückzufallen oder gar keine politische Meinung mehr zu haben oder haben zu wollen. Die Angst, in all dies zurückzukehren, aus dem man verdammt mühevoll in 'ner Masse von Jahren hervorgekommen ist."

Fast gleichlautend beschreibt auch Volker Speitel, wie seine politische Orientierungslosigkeit durch das Engagement in der Stuttgarter "Roten Hilfe" überwunden wurde: "Sie [die Gruppe] entwickelte ein Ziel und eine Perspektive, in der ich meinen Individualtrip endlich als eine Sache erkennen konnte: Macht kaputt, was euch kaputt macht." Auch Horst Mahler hat in der Retrospektive den Terrorismus als "die Antwort auf eine erdrückende Umwelt, die uns feindlich ist, die wir nicht mehr beherrschen, die wir nicht kontrollieren und die die Menschen zugrunde richtet", bezeichnet.

Folgt man diesen Selbstzeugnissen, so erweist sich die These, der Einstieg in den Terrorismus sei eine späte Folge der Verbreitung bestimmter politischer und philosophischer Theorien oder gar der Versuch zu deren konsequenter Verwirklichung, als zumindest fragwürdig. Im Gegenteil hat es den Anschein, dass – verbunden mit den Sinndefiziten des alltäglichen Lebens und der beschriebenen Perspektivlosigkeit – eher ein Mangel an ausgeformten politischen Vorstellungen den Einstieg in den Terrorismus gefördert, zumindest aber begünstigt hat.

Dagegen ließe sich einwenden, dass sowohl Klein als auch Speitel zur dritten Generation der RAF-Terroristen gehörten, eher den Status von "Experten" als den von politisch-ideologischen Köpfen der Gruppe hatten und dass zur Zeit ihres Einstiegs in den Terrorismus dessen Ideologie bereits weitgehend ausgebildet war.

Doch selbst für Horst Mahler und Ulrike Meinhof, den theoretisch produktivsten Köpfen der RAF, lässt sich zeigen, dass der Beginn terroristischer Gewaltaktionen nicht das Ergebnis und die Folge ausgeformter politisch-philosophischer Theorien gewesen ist, sondern vielmehr der fast verzweifelte Versuch, angesichts des Zerfalls und der zunehmenden Fraktionierung der Außerparlamentarischen Opposition (APO) deren Ende der 1960er Jahre erreichte politische Bedeutung durch eine "Steigerung des Militanz-Niveaus" zu retten und möglicherweise auszubauen.

Die Gefahr des "Abschlaffens" sollte durch eine erhöhte Dosis Gewalt gebannt werden. Nachdem dieses "Militanz-Niveau" durch die Befreiung Andreas Baaders aus der Haft erst einmal demonstriert war, kam eine Eigendynamik terroristischer Gewalt in Gang, der gegenüber die Ideologie der Gruppe eher die Funktion nachträglicher Rechtfertigung als die einer vorausgegangenen Motivierung und Handlungsanleitung hatte. Das Identitätsgefühl der RAF hat sich stärker durch die kollektive Verfolgung der Gruppe als durch gemeinsame politisch-theoretische Grundüberzeugungen der ihr Angehörenden ausgebildet.

RAF-Terrorist Peter-Jürgen Boock: "Mit wichtigen [..] politischen Fragen zu wenig auseinandergesetzt." (© AP)

Nicht erst in der dritten Generation, sondern bereits bei den Initiatoren der RAF waren politische Perspektivlosigkeit und Ohnmachtserfahrung ausschlaggebende Momente bei der Entscheidung, in den Untergrund zu gehen. Dass man diese Perspektivlosigkeit und Ohnmacht glaubte mit erhöhtem Einsatz von Gewalt überwinden zu können, verweist eher auf ein gesellschaftlich weit verbreitetes Reaktionsmuster als auf ein hohes Maß an politisch-strategischer Reflexion.

Dies gilt in gesteigertem Maß für die Mahler und Meinhof nachfolgenden "Generationen" der Terroristen: So gibt Volker Speitel an, vor seinem Einstieg in den Terrorismus zusammen mit seiner Frau Angelika und Willy Peter Stoll (wie Speitel schlossen sich beide der RAF an) in einer "absolut unpolitischen" Wohngemeinschaft gelebt zu haben, und auch Peter-Jürgen Boock spricht davon, sich früher mit "wichtigen inhaltlichen politischen Fragen zu wenig auseinandergesetzt, Widersprüche gar nicht ausgetragen" zu haben.

Dies macht verständlich, warum, wie ein ehemaliger RAF-Angehöriger berichtet, die Theorie der RAF bei ihm "Ehrfurcht" ausgelöst habe und ihm "über-menschlich" erschienen sei; bei ihrer Lektüre habe er ein "Weltgefühl" bekommen, eine Gänsehaut bei dem Gedanken, dass sich die "wirklichen Dinge der Welt bei der RAF abspielen".

Die Verbote, die seitens der Bundesanwaltschaft gegen die Verbreitung von RAF-Schriften erlassen wurden, haben schließlich das Ihrige dazu beigetragen, dass sich bei potentiellen Einsteigern in den Terrorismus der Eindruck verfestigen konnte, hier sei endlich der "Stein der revolutionären Weisen" gefunden worden, den der Staatsapparat auf jeden Fall unter Verschluss halten müsse.

An dieser Stelle wird der Stellenwert sichtbar, den die – nicht als vorbereitende Reflexion, sondern als nachträgliche Rechtfertigung der Aktionen entworfene – Ideologie der RAF für die Rekrutierung neuer Angehöriger und den inneren Zusammenhalt der Gruppe gehabt hat: Sie hat dazu gedient, Perspektivlosigkeit und Ohnmachtserfahrungen zu strukturieren, mit griffigen Interpretationen zu versehen und die Perspektive ihrer vollständigen Überwindung bereitzustellen.

So erklärte beispielsweise Horst Mahler, nachdem er alle Widersprüche im nationalen und internationalen Rahmen auf den "Grundwiderspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital" zurückgeführt hatte, dass die "revolutionäre Aufhebung" dieses Grundwiderspruchs identisch sei mit der Überwindung "aller Widersprüche innerhalb der werktätigen Massen".

Auch in der – wahrscheinlich von Ulrike Meinhof verfassten – so genannten ersten RAF-Schrift "Das Konzept Stadtguerilla" wird die Parole "Macht kaputt, was euch kaputt macht" als die Einsicht bezeichnet, "daß es im Kapitalismus nichts, aber auch nichts gibt, das einen bedrückt, quält, hindert, belastet, was seinen Ursprung nicht in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen hätte, daß jeder Unterdrücker, in welcher Gestalt auch immer er auftritt, ein Vertreter des Klasseninteresses des Kapitals ist, das heißt: Klassenfeind".

Gegen die totale Repression, als die das bestehende politische und gesellschaftliche System bezeichnet und wohl auch erfahren wurde, stellte die RAF die totale Befreiung und Entfaltung des Menschen. In diesem Anspruch kündigte sich, noch unter der Ummantelung des ethisch-politischen Einwands gegen die Verhältnisse, bereits das anthropologische Argument an, demzufolge die bestehende gesellschaftliche und politische Ordnung nichts als Unterdrückung sei und in ihrer Bekämpfung zukünftige Freiheit antizipiert werden könne.

Die Faszination, die von den RAF-Schriften ausging, bestand in ihrem umfassenden Erklärungs- und Wahrheitsanspruch, der dadurch noch gefestigt wurde, dass seine Träger bereit waren, dafür mit dem Leben einzustehen, und so den Anschein erweckten, alle "Halbheiten", in der Theorie wie in der Praxis, hinter sich gelassen zu haben. Sie bestand in der moralisch-politischen Totaldeutung der Welt, die "Freund" und "Feind" klar identifizierbar machte, indem sie, gleichsam als ein neuer gnostisch-manichäischer Mythos, die Welt als einen Kampf zwischen dem Bösen und dem Guten darstellte, der durch den kompromisslosen revolutionären Einsatz eines jeden in absehbarer Zukunft zugunsten des Guten entschieden werden konnte.

Gegen die totale Perspektivlosigkeit wurde die totale Perspektive gestellt. Vor allem dadurch besaß die terroristische Ideologie eine unvergleichlich höhere Attraktivität als alle politischen Theorien, die den Kompromiss als wesentliches Element des Politischen behaupten, also jede politische Perspektive mit einem unverzichtbaren Maß an Frustrationsbereitschaft verbinden. Indem die Ideologie des Terrorismus dabei politische und moralische Argumente ineinander verschlang, immunisierte sie sich gegen jeden möglichen Einwand: Wo sie politisch gefordert wurde, antwortete sie moralisch, und wo sie moralisch gefordert wurde, antwortete sie politisch. Gerade dieses "konsequente Ausweichen vor konsequenter Reflexion" hat ihr ein ums andere Mal ermöglicht, nach außen mit dem Gestus äußerster und unerbittlichster Konsequenz aufzutreten.

Zugleich bot die terroristische Ideologie nicht nur – wie andere Theorien – eine Erklärung politischer Zusammenhänge und, sofern man diese akzeptierte, Perspektiven für politisches Handeln, sondern eröffnete die Möglichkeit unmittelbarer, an Eindeutigkeit und Entschlossenheit unüberbietbarer "lebenspraktischer" Konsequenzen.

Während politische Theorien ihre Erklärungen und Interpretationen möglichen Einwänden offen halten und politisches Handeln im Rahmen der Demokratie und ihrer Normen immer eine spätere Distanzierung zulässt, verschließt die terroristische Ideologie sich beidem: Jeder mögliche Einwand ist "Bullenmentalität", und jede mögliche Rückkehr aus dem Untergrund ist mit Sanktionen gespickt – durch die Bundesanwaltschaft ebenso wie durch die terroristischen Gruppen.

So gesehen war und ist die terroristische Ideologie ein totales lebenspraktisches Sinnangebot, das schließlich zur Aufgabe aller Irrtumsvorbehalte führte: Faszination und Verhängnis fielen damit in eins.

Als Drittes kam bei potentiellen Einsteigern in den Terrorismus hinzu, dass sie bereits vor ihrer endgültigen Entscheidung, in den Untergrund zu gehen, immer stärker in ein homogenisiertes Umfeld gerieten, in dem kein pluralistischer Diskussionskontext mehr bestand, der einen gewissen Zwang zur Rechtfertigung ihrer bevorstehenden Entscheidung und damit zur Selbstreflexion auf sie ausgeübt hätte. Dies erklärt die Naivität, mit der mancher der nachmaligen Terroristen diese biografische Zäsur vorgenommen hat. Der einzige Rechtfertigungszwang, der in diesem Umfeld tatsächlich noch bestand, betraf die Tatsache, dass der Betreffende nicht schon längst in den Untergrund gegangen war.

Berücksichtigt man die in der terroristischen Ideologie ausgeprägte Antithese von Entschlossenheit und Zaudern, Mut und Feigheit, so wird man ermessen können, wie stark der hier ausgeübte Druck gewesen sein muss. So soll, dem Bericht Hans-Joachim Kleins zufolge, die "Bewegung 2. Juni" gegenüber den "Revolutionären Zellen" erklärt haben: "Ihr geht deshalb nicht in den Untergrund, weil ihr zu feige seid, diese Todesschwelle zu überschreiten. Denn im Untergrund könnt ihr nicht mehr so lavieren wie bisher, da müßt ihr kämpfen, auch ums Überleben, ohne Wenn und Aber und ohne die rettende Tür eurer Legalität."

Alle Brücken hinter sich abzubrechen, sich gezielt und bewusst in eine ausweglose Situation zu begeben, in der der einmal eingeschlagene Weg bis zum Ende ("Sieg oder Tod") gegangen werden muss, wird hier – von den terroristischen Gruppen selbst – als das herausragende Signum ihres Denkens und Handelns bezeichnet. Nimmt man dies alles zusammen, so ist bei den meisten der späteren Terroristen die Entscheidung, in den Untergrund zu gehen, weniger die Konsequenz politischer Strategien und Theorien oder doch deren bewusste Reflexion gewesen, sondern eher eine existentielle Entscheidung, durch die die nachmaligen Terroristen der Sinn- und Perspektivlosigkeit ihres bisherigen Lebens zu entkommen suchten.

Wie sehr der Einstieg in den Terrorismus eine existentielle Entscheidung gewesen ist, drückt sich auch aus in der biografischen Zäsur, die der Übertritt von der Legalität in die Illegalität darstellt. In dieser Zäsur ist noch einmal alles zusammengefasst, was hier aus der Perspektive der Betroffenen zur Entscheidung stand: auf der einen Seite eine perspektiv- und orientierungslose Existenz, ohne Sinn und Bedeutung, und auf der anderen Seite ein wohl gefährliches, immerzu bedrohtes, aber doch, so schien es, sinnvolles und bedeutsames Leben.

Der Voluntarismus, der die Ideologie und Strategie des Terrorismus durchgängig kennzeichnet – also die Vorstellung, die politischen Entwicklungen allein aus dem eigenen Willen heraus entscheidend beeinflussen zu können –, war bereits kristallisiert in dem, was hier als Alternative begriffen wurde. Vor die Entscheidung zwischen bedeutungsloser Normalität und biografisch wie geschichtlich folgenreichem Ausnahmezustand gestellt, haben sich die nachmaligen Terroristen für das Letztere entschieden – eben weil ihnen die Normalität bedeutungslos erschien, Sinnhaftigkeit für sie nicht zu entdecken war.

Bei diesem Artikel handelt es sich um eine gekürzte Fassung des Aufsatzes "Sehnsucht nach dem Ausnahmezustand" von Herfried Münkler. Erschienen in: Wolfgang Kraushaar (Hrsg.): Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburger Edition HIS Verlag, Hamburg 2007.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Herfried Münkler ist Professor für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er veröffentlichte u. a. die Bücher "Die neuen Kriege", "Vom Krieg zum Terror" sowie "Der Wandel des Krieges".