Hinter den Kulissen des X. Festivals
Die Weltfestspiele 1973 waren ein Politikum. Die DDR arbeitete für eine gelungene Inszenierung. Im Westen rüsteten sich Gruppen unterschiedlichster Couleur für die Teilnahme. Der Historiker Carsten Schröder blickt hinter die Kulissen: wie bereiteten sich die Jugendverbände vor, was machten die Geheimdienste und wer kam aus der Bundesrepublik?Einleitung
Die Vorentscheidung zur Vergabe der X. Weltfestspiele nach Ost-Berlin fiel bereits im September 1971 anlässlich einer Exekutivtagung des Weltbundes der Demokratischen Jugend (WBDJ) in Valparaiso (Chile). Am 19. und 20. Januar 1972 wurde die Wahl offiziell. Der Koordinierungssekretär der IX. Weltfestspiele, Jean Diard, schlug in Sofia auf einer konstituierenden Tagung des Internationalen Vorbereitungskomitees (IVK) der Weltfestspiele die DDR als nächsten Veranstaltungsort vor. Die Vertreter aus 47 Ländern nahmen die Idee einhellig an. [1]Für das X. Festival wurde die Losung "Für antiimperialistische Solidarität, Frieden und Freundschaft" ausgegeben. Ziele der kommunistischen Veranstaltung waren unter anderem die Demonstration der internationalen Solidarität mit dem "heldenhaften Kampf der Völker Vietnams, Laos und Kambodscha", die Forderung nach einem Rückzug der Amerikaner aus Indochina und die Einstellung ihrer Unterstützung für die politischen Regime in Saigon, Vientane und Phnom Pen. Des Weiteren sollten die Weltjugendfestspiele die Solidarität mit sozialistischen Befreiungsbewegungen in arabischen Ländern, in Afrika, Lateinamerika und Asien, sowie mit den "bedeutenden Kampfaktionen der Jugend und Studenten in den kapitalistischen Ländern gegen die Ausbeutung durch Monopole, Unterdrückung, für die Durchsetzung ihrer Rechte und Bestrebungen, für tiefgreifende ökonomische und soziale Veränderungen und für Demokratie" zum Ausdruck bringen. [2]
Nicht weniger wichtig als diese Zielsetzungen war die einmalige Gelegenheit für die SED-Führung, die DDR auf internationaler und nationaler Ebene als weltoffenes und selbstbewusstes Land zu präsentieren, deren Bürger scheinbar fest hinter "ihrem" politischen System standen.
Wenige Wochen nach der Exekutivtagung des WBDJ gründete sich das Nationale Vorbereitungskomitee (NVK) in Ostdeutschland. [3] Erich Honecker sammelte als Präsident des Gremiums ab dem 18. Februar 1972 über einhundert Personen aus dem politischen und kulturellen Leben der DDR um sich. Dazu gehörten die wichtigsten Mitglieder des Politbüros, die Minister der DDR, die Leiter bedeutender Abteilungen des Zentralkomitees der SED, die Chefredakteure von Zeitungen und dem Staatsfernsehen sowie ausgewählte Künstler. [4]
Die ideologische Vorbereitung der Teilnehmenden
Die "Parteikommission zur Vorbereitung und Durchführung der X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten 1973", das Sekretariat des Zentralrats der FDJ und das Organisationskomitee übernahmen die Organisation des Festivals. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) begann mit der Vorbereitung von Maßnahmen zur Gewährleistung von Ordnung und Sicherheit.Die Hauptaufgabe des Zentralrats bestand in der Vorbereitung und Auswahl der Teilnehmer der Jugendorganisation der SED. Zu diesem Zweck wurde das am 27. April beginnende "Studienjahr der FDJ 1972/73" auf das Festival ausgerichtet. [5] Die marxistisch-leninistische Schulung erstreckte sich über acht Themenkomplexe. Der fünfte war beispielsweise dem "Kampf der fortschrittlichen Jugend der BRD gegen die Monopole, für die Grundrechte der Jugend" gewidmet und diente der Vorbereitung auf die bundesdeutsche Delegation. [6]
Für die Auseinandersetzung mit westdeutschen Besuchern wurde das Wissen über das kommunistische Manifest von Karl Marx aufgefrischt, Zahlen und Fakten der DDR gelernt, die Statuten der Jungen Union, der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ) und der Jungsozialisten durchgenommen sowie die gesamten Passagen des Grundlagenvertrages behandelt. [7] In allen Grundorganisationen und Gruppen der FDJ fanden "Zirkel junger Sozialisten" zur Einstimmung der potentiellen Teilnehmer auf die antiimperialistische Zielrichtung des Festivals statt. Junge Arbeiter konnten sich zusammen mit Studenten an der Ost-Berliner Universität zu den FDJ-Studientagen im März 1972 oder in tausenden Agitatorenkollektiven in den Bezirken der DDR unter der Leitung eines FDJ-Agitators "fortbilden". [8] Des Weiteren gab es einen Wettbewerb zur Steigerung der Planerfüllung im Dienste der Vorbereitung der Weltfestspiele, verbunden mit Aufrufen zu freiwilligen Arbeitseinsätzen in Gebäuden, die für die Unterbringung der Gäste aus aller Welt benötigt wurden. [9] Planübererfüllung und das Bestehen der Prüfungen nach dem Studienjahr konnten zu einer Teilnahme an dem Festival qualifizieren.
Im Anschluss an die Auswahl der Teilnehmer fanden im Mai und Juni 1973 spezielle Lehrgänge für die Leiter der Bezirksdelegationen (22.5.1973), die offizielle Festivaldelegation (25.6. -30.6.1973) und der Gruppen- und Blockleiter (28.5. -10.6.1973 u. 30.5. 1973) statt. In den Schulungen der FDJ-Kader nahm die Ostpolitik der Sozialdemokratie einen besonders großen Raum ein. Die Position der Konservativen zur DDR kam nur am Rande vor.
Die Auswirkungen der Begegnung von DDR-Bürgern mit sozialdemokratischen Jugendverbänden wurden als wesentlich gefährlicher eingeschätzt als die Konfrontation mit konservativen Jugendorganisationen. Man fürchtete die "innere Aufweichung" des Sozialismus durch die Sozialdemokraten weit stärker als die Folgen der konservativen Politik des "heißen und kalten Krieges". [10]
"Wir haben keine Illusionen, was die Rolle und Funktion des Sozialdemokratismus betrifft und wissen, dass die rechten SPD-Führer äußerst geschickt und oftmals raffinierter als die CDU/CSU-Führer als Sachverwalter des westdeutschen Monopolkapitals fungieren. (...)Will die CDU/CSU weiter den Kurs des heißen und kalten Krieges fahren, sieht die SPD-Führung größere Chancen für den Imperialismus über die Anpassung and das neue Kräfteverhältnis in der Welt und die innere Aufweichung des Sozialismus." [11]
Bezüglich der sozialdemokratisch orientierten Verbände wurde davon ausgegangen, dass sie in politischen Seminaren und Foren, den "realen Sozialismus" in seiner Theorie und Praxis in den sozialistischen Staaten angreifen würden. Das Ministerium für Staatssicherheit erwartete Diskussionen rund um die Schlagwörter "Pluralistische Gesellschaft", "Demokratischer Sozialismus", "Bürgerlicher Freiheitsbegriff" und "Bürgerliche Definition von der Einheit der Nation". [12]
Das Sekretariat des Zentralrats gab auf vielen Veranstaltungen den FDJlern "Argumentationshilfen" zum Umgang mit diesen kritischen Punkten. Beispielhaft hierfür waren die "Argumentationshinweise für die Mitgliederversammlung der FDJ im März 1973". [13] Hieraus ging hervor, dass "friedliche Koexistenz" [14] keinesfalls als "Koexistenz der Ideen" oder als "Waffenruhe an der ideologischen Front" zu verstehen war. Es wurde die Ansicht vertreten, der so genannte "ideologische Kampf zwischen Sozialismus und Imperialismus" verstärke sich noch, da der Imperialismus immer weitere Varianten seiner "bürgerlichen Ideologie" fände, die dem "weltweiten Vormarsch des Marxismus-Leninismus" und seiner zunehmenden Attraktivität entgegengesetzt wären.
Die bundesdeutsche Sozialdemokratie war in diesem Erklärungsmodell eine Spielart der "bürgerlichen Ideologie" und wurde mit dem herab setzenden Begriff "Sozialdemokratismus" [15] versehen. Ihre Politik hatte die Funktion, als "Sachverwalter" des Monopolkapitals den Sozialismus zu bekämpfen, den Kapitalismus zu erhalten, die Macht der Monopole zu festigen, die kapitalistische Ausbeutung zu erhöhen und den Profit der Bundesrepublik zu steigern. Dieser Aufgabe sollte der "Sozialdemokratismus" durch eine doppelte Zielrichtung nachkommen. Einerseits hielt er in seiner "inneren Funktion" die Arbeiterklasse vom Klassenkampf ab, indem er die bürgerliche Ideologie in der Arbeiterklasse verbreitete und diese dem Marxismus-Leninismus fernhielt. Andererseits beabsichtigte die "Variante der bürgerlichen Ideologie" in seiner äußeren Funktion die Erschütterung des "realen Sozialismus" durch die Herstellung der Empfänglichkeit der Arbeiterklasse für die "imperialistische Ideologie" unter dem Deckmantel einer "Demokratisierung" des Sozialismus.
Maßnahmen der Nachrichtendienste
Die Festivalveranstalter sorgten nicht nur für eine theoretische Vorbereitung der jungen DDR-Bürger auf den Kontakt mit der westdeutschen Delegation, sie bereiteten auch praktische Maßnahmen vor, um "kritische Situationen", welche medienwirksam für die westlichen Journalisten sein konnten, gar nicht erst entstehen zu lassen. [16]Das MfS verhinderte bis zum 28. Juni 1973 die Reise von 2 720 sogenannter "negativer Personen" nach Ost-Berlin. Gegen 2 073 Personen wurde Haftbefehl erlassen, insgesamt 800 Menschen mussten die "Hauptstadt der DDR" verlassen oder hatten eine Aufenthaltsbeschränkung erhalten. [17]
Die Behörde Erich Mielkes nahm während der als Aktion "Banner" bezeichneten, nachrichtendienstlichen Festivalarbeit entscheidenden Einfluss auf die Kandidatenauswahl. Personen, die nach Ansicht der Staatsschützer nicht Gewähr dafür boten, die Republik "würdig" zu vertreten, wurden abgelehnt. Zu den Gründen für eine Absage gehörten kriminelle Delikte, "mangelnde politische Zuverlässigkeit", "dekadentes Auftreten" und "unmoralisches oder rowdyhaftes Verhalten". [18]
Zur "Sicherstellung" der Überlegenheit der ostdeutschen Jugendlichen bei kontroversen Diskussionen wurden als FDJler verkleidete Mitarbeiter des MfS eingeschleust, die bei kritischen Situationen "konsequent" die Politik der Partei und der Regierung der DDR zu vertreten hatten. [19] Sie sollten gefährliche Flugblätter einsammeln, dokumentieren und regelmäßig detaillierte Berichte über ihre Arbeit abliefern.
Die Veranstalter vetraten die Einschätzung, dass die vermeintlich von dem SPD-Parteivorstand gelenkten "sozialdemokratischen Kräfte" die westdeutsche Festivaldelegation in den Griff bekommen wollten und sie im Sinne ihrer sozialdemokratischen Politik zum Nachteil der "marxistisch-leninistischen Kräfte" in der Bundesrepublik zu instrumentalisieren beabsichtigten. [20] Daraus wurde eine andere praktische Maßnahme abgeleitet. Ungefähr 400 politisch erfahrene Funktionäre der SDAJ, des MSB Spartakus und der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) bekamen eine gesonderte Einladung zur Teilnahme an den Festspielen in einer so genannten "Touristendelegation", die nicht zur westdeutschen Delegation gehörte. [21] Sie waren als "politische Reserve" [22] gedacht und sollten in "notwendigen Situationen" als "natürliches Gegengewicht" zu Jugendgruppen aus West-Berlin und der Bundesrepublik zum Einsatz gebracht werden. [23]
Die bundesdeutsche Delegation
Die offizielle bundesdeutsche Delegation mit 800 Teilnehmern wurde von dem "Initiativausschuss X. Weltfestspiele" (IA) vertreten. [24] Der "Arbeitskreis Festival" (AKF) umfasste überwiegend prosowjetisch orientierte Verbände und Gruppierungen. [25] Seine Vertreter waren Dirk Krüger (Verband Deutscher Studentenschaften), Rolf Priemer und Ulrich Sander (beide SDAJ) Die "Koordinierungsgruppe X. Weltfestspiele" (KO) entstand auf Initiative der Jungsozialisten und der Verbände des Bundesjungendringes. [26] Dem AKF wurden 330 und der KO 470 Plätze zur Verfügung gestellt. In West-Berlin gab es ein eigenes Vorbereitungskomitee, das von Mitgliedern der West-Berliner FDJ (FDJW) und der SEW (Sozialistische Einheitspartei West-Berlins) organisiert wurde. Die demokratischen Jugendverbände aus der Stadt nahmen jedoch am Nationalen Vorbereitungskomitee (NVK) der Bundesrepublik teil. Der Koordinierungsgruppe gehörten seit ihrem Gründungstag, dem 12. März 1973, Mitglieder der Jugendorganisationen der SPD und der Gewerkschaften an. Sie prägten diese Gruppe, was an der Übernahme wichtiger Positionen sichtbar wurde. Die Falken, Jusos und Gewerkschaftsjugend stellten mit Dieter Lasse, Karsten Voigt und Walter Haas die offiziellen Vertreter der KO. Die Jungdemokraten wechselten aus dem AKF, dem sie seit den X. Festspielen 1968 in Sofia angehörten, zur Koordinierungsgruppe. Sie hatten jedoch gegenüber den stärkeren sozialdemokratischen Verbänden eine schwache Position, die es nicht erlaubte, im Initiativausschuss vertreten zu sein. Die Junge Union trat der KO erst am 7. Juli bei, etwa drei Wochen vor Beginn der Weltfestspiele.Das Programm für über 300.000 Teilnehmende
Die bundesdeutschen Delegierten nahmen zusammen mit 25.646 ausländischen Gästen und ca. 333.000 offiziellen Teilnehmern aus der DDR am Festival teil. [27] Dieses ging über neun Tage, an denen insgesamt 1 500 Veranstaltungen stattfanden. Die Spannweite reichte von Seminaren und Freundschaftstreffen im kleinen Kreis bis zu Massenmeetings mit 20.000 Teilnehmern oder Demonstrationen und Auftakt- bzw. Schlusskundgebungen, an denen alle Besucher partizipieren sollten. Das Programm bot eine breite Palette an Musik-, Gedenk-, Freizeit- und politischen Veranstaltungen. [28] Jeder Tag stand unter einer anderen politischen Losung. Von den neun Tagen waren vier der Solidarität mit sozialistischen Organisationen in sozialistischen und kapitalistischen Ländern gewidmet (z.B. Vietnam, Südafrika). Jeweils ein Tag war für den internationalen Entspannungsprozess und die Selbstdarstellung der DDR eingeplant. Der erste und letzte Tag war für die Auftakt- und Abschlussveranstaltung vorgesehen.Am jeweiligen Motto des Tages orientierten sich die "Zentrale Veranstaltung des Tages" und die Konferenzen und Seminare. Stand ein bestimmtes Land oder eine geographische Region im Vordergrund, so wurde ein "Massenmeeting" mit den zum Land zugehörigen Delegierten angeboten. Die politischen Programmpunkte wurden begleitet von landestypischen Kulturveranstaltungen, wie Festen oder Musikkonzerten. Neben den täglich wechselnden Programmpunkten gab es die "Ständigen Einrichtungen und kulturellen Veranstaltungen". Klubs und Begegnungszentren waren bestimmten Interessengruppen oder politischen Themen gewidmet.