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"Eine Peer-to-Peer-Gesellschaft ist möglich" | Open Source | bpb.de

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"Eine Peer-to-Peer-Gesellschaft ist möglich"

Claudio Prado

/ 7 Minuten zu lesen

Für Claudio Prado ist Open Source das Leitmodell der Zukunft – eine ethische Welt der Kooperation, die ganz anders ist als die Ökonomie des 20. Jahrhunderts.

Claudio Prado (galeriaconverse) Lizenz: cc by/2.0/de

In einem Satz: Was ist Open Source?

Open Source ist die Möglichkeit, technisch autonom zu werden. Das ist der Kern der Sache: autonom zu sein, frei, eine eigene Sicht besitzen zu können, die Möglichkeit zu besitzen, auf alles zuzugreifen, für das man sich interessiert.

Wenn man sich die Produzenten von Open Source-Software anschaut: Was treibt sie an, etwas kostenlos wegzugeben? Was ziehen sie daraus?

Hinter jeder Idee, jedem Lied, jedem Projekt – woran immer man denken mag – steckt eine Software. Und proprietäre Software wird nie die Software sein, die man braucht, die exakt den eigenen Bedürfnissen und Zielen entspricht. Das kann nur Offene Software, weil man sie entweder selber machen oder die Software von jemand anderem anpassen kann, sodass es am Ende exakt die Software ist, die man für das braucht, was immer man tun möchte. Ich denke daher, dass in einiger Zeit – ich weiß es nicht genau, aber ich glaube nicht, dass es noch lang dauern wird –, proprietäre Software nicht mehr existieren wird; denn sie ist einfach eine sehr dumme Sache, verglichen mit Open Source Software.

Warum sollte ich als Konsument auf Open-Source-Software umsteigen, wenn ich proprietäre wenn ich proprietäre praktisch kostenlos bekommen kann?

Wenn man kein technisch orientierter Mensch ist, sollte man vielleicht noch ein wenig warten, bis man sich freie Software holt; vielleicht ist das jetzt noch keine gute Idee. Wir haben festgestellt, dass es die falsche Strategie ist, Menschen zur Verwendung freier Software zu überreden, bevor sie wirklich nutzerfreundlich ist.

Aber was meinen sie mit kostenloser proprietärer Software? Piraterie? In Brasilien benutzt jeder illegal kopierte Software. Der Grund zu wechseln ist nicht, weil freie Software frei von einem Preis ist, sondern weil sie Freiheit ermöglicht. Und diesen Schritt – von Raubkopien zu freier Software – sollte man gehen, sobald man verstanden hat, was hinter der Idee der Freiheit steckt. Es ist eine philosophische und ethische Wahl, die es zu treffen gilt – auch eine politische. Man muss diese Dinge verstehen, und dann geht man weiter.

Aber die Geschwindigkeit, mit der dieses Verständnis wächst, ist enorm. Wenn man heute in einen Internetladen geht, um einen Server zu kaufen, dann wird der mit freier Software geliefert, weil sie besser ist. Die NASA benutzt freie Software, weil sie besser ist. Um Bin Laden zu finden, benutzen sie freie Software – wenn sie ihn denn finden wollen, da bin ich mir nicht sicher. Er ist ein besserer Verbündeter für Herrn Bush, wenn er einfach irgendwo ist.

Das Open-Source-Modell wird derzeit ausschließlich für Software und Kulturgüter verwendet. Lässt es sich auch auf andere Güter und Dienstleistungen ausweiten? Wo wäre die Grenze?

Wir glauben, dass eine Peer-to-Peer-Gesellschaft möglich ist. Was meine ich, wenn ich von einer Peer-to-Peer-Gesellschaft spreche? Ich spreche vom Zugang zum Cyberspace für alle als politisches Programm, als öffentliche Politik. Den Menschen erlauben, zu finden, was sie suchen, ohne sich dafür geographisch bewegen zu müssen. Das Zentrum der Welt ist heute der Cyberspace. Das ist das Konzept, an dem wir arbeiten, eines, mit dem die "glokale" Welt Wirklichkeit werden kann – "glokal", das meint die Verbindung von "glo-", global, einer globalisierten Gesellschaft, und "lokal", den eigenen Angelegenheiten vor Ort.

Man kann an seinem Ort bleiben und im Zentrum der Welt sein, und das ermöglicht kulturelle Vielfalt. Der Mann im Amazonas, der wunderbare Korbwaren flicht und sie derzeit für zwei Cent das Stück verkauft – jetzt kann man ihn direkt erreichen und ihm, sagen wir, zwanzig Euro zahlen. Ansonsten würde er nur zwei Cent bekommen, und wenn man hier in Deutschland in einen Laden ginge, würde man zweihundert Euro zahlen – für denselben Korb. Jetzt kann man ihn für zwanzig Euro direkt von dem Mann kaufen. Das ist Peer-to-Peer-Leben. Und das ist nur möglich, wenn man freie Software verwendet.

Und dieses Peer-to-Peer-Leben scheint mir das neue Modell für das 21. Jahrhundert zu sein, weil das alte Modell verrückt geworden ist. Das 20. Jahrhundert hat eine Welt voller Unterschiede geschaffen. Die Welt produziert heute dreimal mehr Nahrung als nötig, um alle zu ernähren, und die Hälfte der Welt verhungert. In gewisser Weise bricht die kapitalistische Welt zusammen, sie hat nichts erreicht. Was sie erreicht hat, sind Korruption und Ungleichheit.

Und mit der freien Software wird eine neue Welt mit einer neuen ethischen Sichtweise kommen. Open Source ist ein ethischer Wandel. Menschen haben dort für das Wohl aller gearbeitet, und nicht für ihr eigenes. Das Internet existiert nur, weil es ein ethischer Schritt ist. Es ist das größte Ding in Sachen Kommunikation – und es gehört niemandem. Hätte man ihnen vor zwanzig Jahren gesagt, dass das wichtigste Instrument der Kommunikation frei sein und keinen Besitzer haben wird – sie hätten gelacht, sie hätten gesagt: "Das ist unmöglich". Kommunikation war damals in der Hand einiger weniger Menschen; aber die haben die Möglichkeiten nicht gesehen. Und nun gibt es das Internet, und es ist nur die Spitze des Eisbergs dieser neuen, freien Welt, in der Open Source das Grundmodell für alles ist.

Kann diese Peer-to-Peer-Gesellschaft sich selber tragen? In welchem Maße hängt sie immer noch von einer klassischen kapitalistischen Marktgesellschaft ab?

Lassen sie mich das andersherum erklären: Wir bringen Werkzeuge des 21. Jahrhunderts zu Menschen, die im 18., 19. Jahrhundert leben. Es ist viel einfacher, direkt vom 19. ins 21. Jahrhunderts zu gehen, ohne den ganzen Bullshit des 20. Jahrhunderts durchzumachen.

Der Glaube, dass Wirtschaft der Weg ist, um den Wert der Menschheit zu bestimmen, ist gescheitert. In Europa, in der ersten Welt müsst ihr dieses Paradigma hinter euch lassen, was für euch viel schwieriger ist, weil ihr dafür 2.000 Jahre Geschichte dekonstruieren müsst, die ihr auf euren Schultern tragt. Technik hat immer einige alte aus dem Geschäft gestoßen und einige neue ins Geschäft gebracht. Aber jetzt ändert sich das ganze Paradigma – es ist ein viel größerer Wandel. Sobald wir Wasserstoff als Energiequelle haben, haben wir – zusammen mit dem Internet – das Binom für Autonomie, für eine neue Art digitaler Gesellschaft, die nichts zu tun hat mit einer ökonomischen Sichtweise, nicht länger ökonomisch gemessen werden kann.

Wenn Sie sagen, sie wollen in Brasilien "die Werkzeuge des 21. Jahrhunderts zu den Menschen des 18. und 19. bringen" – was meinen Sie damit?

Kostenlose Multimedia-Sets mit Breitband-Internetanschluss, die wir an 500 kleine NGOs in Brasilien geben, an Menschen, die nie zuvor Technik gesehen haben, die nie von Urheberrecht gehört haben, die keinerlei Aussicht auf einen Job haben, die keine Aussicht auf soziale Absicherung haben. Nun haben sie Zugang. Und sie verstehen Hochladen, bevor sie Herunterladen verstehen. Sie produzieren Sachen und verstehen, was andere Menschen produzieren. Es ist ein Molotov-Cocktail, der unmittelbar eine Explosion der Energie, eine Explosion der Freude, eine Explosion der Hoffnung bringt. Es ist ein revolutionäres Instrument des 21. Jahrhunderts, eine proaktive Revolution, für Dinge und nicht gegen irgendetwas.

Auf der einen Seite haben wir also eine Welt, die den Menschen in Brasilien keinerlei Antwort gibt, außer dieser: Wenn sie zur Schule gehen – wozu sie nicht die Möglichkeit haben –, werden sie einen Job bekommen. Aber diese Idee existiert dort unter diesen Menschen nicht, denn sie gehen nicht zur Schule und es gibt keine Jobs. Also müssen sie sich selbst managen. Das ist für Menschen aus Europa sehr schwer zu verstehen, aber für uns ist es sehr leicht, all diese Dinge zu überspringen – Jobs und Schule und all das.

Ich selbst habe nie irgendetwas in einer Schule gelernt. Ich bin ein Hippie. Ich habe alles selber gelernt. Und ich denke, Schulen müssen von nun an ganz anders sein. Denn wenn man Zugang zum Internet hat, kann man zum Lehrer sagen: "Du hast unrecht. Jemand anders sagt hier etwas ganz anderes. Der Lehrer sollte heute ein Forscher sein, der zusammen mit den Schülern lernt.

Sie wollen Entwicklung mit einer Peer-to-Peer-Gesellschaft ermöglichen. Aber braucht man dazu nicht eine gewisse Infrastruktur, die derzeit in der Dritten Welt schlicht nicht existiert, und die auch nicht von kreativen Künstlern und Open-Source-Gemeinden hergestellt werden kann?

Dazu zweierlei. Wir befinden uns derzeit an einem Kreuzweg. Ich denke, jede Regierung, jedes Unternehmen sollte heute einen Fuß im 20. Jahrhundert haben und einen im 21. Es gibt einige solcher Unternehmen – Google zum Beispiel oder einige neue Musikunternehmen. Die alte Musikindustrie des 20. Jahrhunderts geht gerade Bankrott. Sie ist am Ende – das ist Fakt, das ist leicht zu sehen. Wir müssen uns also mit unterschiedlichen Wirklichkeiten auseinandersetzen, die einander manchmal gegenüberstehen oder widersprechen.

Gleichzeitig arbeiten wir aber noch auf einer anderen Ebene: Wir recyceln weggeworfenen Müll. Denn die Vorstellung, dass man seinen Computer alle zwei Jahre austauschen muss, weil die Technik weiter ist: Das ist Nonsens. Das ist geplante Veraltung. Was wir tun, ist, Jugendliche dazu zu bringen, dass sie Toptechnologie aus PC-Müll bauen, dass sie eigene Wifi-Verbindungen aufbauen und Computer miteinander verbinden, die sie selbst zusammengesetzt haben, aus weggeworfenen Sachen.

Natürlich ist es sehr schwierig, eine Balance zu finden zwischen diesen hohen Ideen und der Wirklichkeit, aber Tatsache ist, dass gerade etwas sehr neues geschieht und einige Menschen es verstehen und andere nicht. Ich glaube, Menschen, die heute absolut sicher bei etwas sind, sind zum Scheitern verdammt. Wer sich heute sicher ist, liegt sicher falsch.

Interview und Übersetzung aus dem Englischen: Sebastian Deterding

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Claudio Prado ist Koordinator für digitale Kultur im Kultusministerium von Brasilien. Zuvor arbeitete er mehrere Jahre in ökologischen NGOs, war ausführender Produzent des Karnevals in Rio, Musikproduzent und in den 1960ern in der Londoner Gegenkultur aktiv.