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Der Fuchs der Innovationen | Open Source | bpb.de

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Der Fuchs der Innovationen

Atul Chitnis

/ 8 Minuten zu lesen

Open Source "ebnet das Spielfeld", meint Atul Chitnis. Hier arbeiten indische Programmierer mit Kollegen aus der ganzen Welt auf Augenhöhe, und werden zur gleichberechtigten Konkurrenz.

Atul Chitnis (© Atul Chitnis)

Die indische Regierung fördert Open Source Software – warum?

Die meisten denken, es ist das Geld, aber das ist es nicht. Ich weiß das, weil ich in verschiedenen Regierungskommittees sitze. Der Grund ist, dass die Regierung sicherstellen will, dass Leute der wirklichen Technik ausgesetzt werden und sie dadurch verstehen lernen. Bei proprietärer Software geschieht folgendes: Man ist weit entfernt von der tatsächlichen Technik, man hat es nur mit APIs auf sehr hohen, abstrakten Ebenen zu tun und weiß nicht, was auf den unteren Stufen geschieht, sodass das Verständnis der Technologie, mit der man arbeitet, ziemlich gering ist.

Die Regierung fand nun heraus, dass Menschen, die mit proprietärer Software arbeiten, dazu tendieren, etwas weniger von Software zu verstehen als jene, die mit freier und Open-Source-Software arbeiten und von der Basis an allem ausgesetzt sind. Wenn sich also jemand wirklich dafür interessiert, wie etwas funktioniert, hat er jede Möglichkeit, das herauszufinden.

Man könnte es also ein Bildungsprogramm nennen?

Sozusagen. Ich würde es ein Überlebensprogramm nennen [lacht], aber es gibt natürlich verschiedene Meinungen.

Können Sie konkrete Projekte nennen?

In der zentralen Regierung gibt es mehrere Kommittees, die freie und Open-Source-Software auf verschiedenen Ebenen in der Regierung und im Land vorantreiben. Die Regierung selbst ist ziemlich positiv voreingenommen für Open-Source-Software. Auf Wunsch der Community haben wir [Vertreter in den Kommittees] sie darum gebeten, die Open-Source-Community nicht zu begünstigen, sondern nur für ein einheitliches Spielfeld zu sorgen, und das hat sie mit Nachdruck getan.

Dann gibt es Anstrengungen in der Bildung, die wieder von der zentralen Regierung ausgehen und Projekte unterstützen oder aufbauen, die dabei helfen, freie und Open-Source-Software in Indien zu entwickeln.

Schliesslich gibt es Initiativen auf Ebende der Bundesländer. Das Land Kerala hat zum Beispiel vor kurzem angekündigt, dass es alle proprietäre Software aus seinem Bildungssystem entfernt hat und in Zukunft nur freie und Open-Source-Software verwenden wird. Initiativen dieser Art gibt es mehrere.

Welche Open Source-Software wird derzeit in Indien entwickelt?

Eines der bekanntesten Produkte ist die Entwicklungsideee "Anjuta", die weltweit verwendet wird. Sie wird von jemandem aus Indien geleitet, der sich Naba Kumar nennt, und wird sogar auf industrieller Ebene intensiv genutzt. Selbst im Handel findet man Leute, die Anjuta allem anderen vorziehen.

Natürlich kommt eine Menge von Lokalisierungsprojekten aus Indien. Jedes Land mit einer nicht-englischen Nutzergemeinde braucht so etwas, so dass es angesichts der Zahl der Sprachen in Indien eine Menge Menschen gibt, die sich dort mit Software-Lokalisierung beschäftigen. Sie arbeiten unter dem Banner des Indlinux-Projektes. Und da sie wirklich gut sind in dem, was sie tun, haben sie angefangen, Technologien zu entwickeln, die andere Ländern bei ihren Lokalisierungen mittlerweile ebenfalls benutzen; denn alle Werkzeuge, alle Schemata, alle Templates sind fertig entwickelt, selbst die Anleitungen – alles, was nötig ist, ist bereits vorgefertigt da.

Kommen wir von Indien aufs Allgemeine: Welche Chancen bieten Open-Source-Modelle für Entwicklungsländer?

Vor allem müssen die Menschen begreifen, dass freie und Open-Source-Software nicht unbedingt reiner Selbstzweck sind. Was zählt, ist das, was sie, manchmal auf sehr abstrakte Weise, erreichen. Zum Beispiel verändert sie den technologischen Wandel selbst. Sie bringt Menschen dazu, sich Technologien anzuschauen, die sie ansonsten nie in Betracht gezogen hätten, einfach weil die Welt der freien und Open-Source-Software diese Technologien liefern kann und sie tatsächlich funktionieren. Auch kann sie die Art beeinflussen, wie Software entwickelt wird. All das sind recht abstrakte Dinge.

Dann gibt es natürlich konkrete Produkte. Nehmen sie das klassische Beispiel Firefox. Firefox ist ein hervorragendes Beispiel für ein Produkt, das einen existierenden Marktteilnehmer herausfordert, der das Mutterschiff – Netscape – viele Jahre zuvor aus dem Himmel geschossen hatte. Und Firefox kommt nun zurück, um den Sieger herauszufordern, und es gelingt ihm, binnen Monaten tiefe Schneisen in den Markt zu schlagen.

Nun sind es nicht die 11,5 Prozent Weltmarktanteil von Firefox, die wichtig sind. Wirklich wichtig ist, dass man praktisch keine Veränderungen findet, wenn man sich den Internet Explorer 2.0 bis 6.0 ansieht: die gleichen Sicherheitsprobleme, das gleiche Set an Funktionen. Dann erscheint Firefox, und plötzlich kommt Internet Explorer 7 heraus, das sich um eine Menge der Sicherheitsprobleme kümmert, mit einer Menge an neuen Funktionen, die sie aus dem einfachen Grund herausbringen mussten, dass es da draußen einen Konkurrenten gab, den jeder bevorzugte.

Eines der Dinge, bei denen Entwicklungsländer oft hinterherhinken, sind technische Informationen. Die technischen Informationen sind zwar da, aber man kommt nicht leicht an sie heran. Wenn man zum Beispiel an einer U.S.-Universität ist, befindet man sich in einer Umwelt, die einen mit dieser Art Information füttert, sie einem in den Hals rammt. Aber wenn man in einem Entwicklungsland ist, findet man sich trotz Internetverbindung und allem anderen doch in einer Umwelt wieder, in der man nicht viele technische Infomationen über etwas erhalten kann. Diese Informationen nicht zu haben, begrenzt die eigenen Handlungsmöglichkeiten. Und ganz offensichtlich ist Innovation das erste, was darunter zu leiden hat.

Nehmen sie ein Land wie Indien. Indien ist als ein Land bekannt, das andere Länder mit vielen Dienstleistungen versorgt, selber aber kaum Produkte herstellt. Von hier kommen keine großen Innovationen. Das liegt zum Großteil daran, dass Indien den Umweg über kommerzielle, proprietäre Software gegangen ist. Erst in den letzten fünf, sechs Jahren hat sich Indien wirklich intensiv in freie und Open-Source-Software gestürzt.

Und der Effekt ist: Die Menschen, die aufs College gegangen sind und dort freier und Open-Source-Software ausgesetzt wurden – aus vielfältigen Gründen: ideologischen, technischen –, sitzen jetzt auf Entscheidungspositionen in den größeren Unternehmen. Plötzlich sieht man eine Reihe indischer Unternehmen, die wirklich innovative Dinge tun. Das mag sogar prorietär sein; Tatsache bleibt, dass ein Land, das nur als zweitklassiger Lieferant von Dienstleistungen wahrgenommen wurde, mit einem Mal als ein Land angesehen wird, das eigene Produkte entwickelt. Und das ist ein massiver Wandel auf Landesebene.

Anders gefragt: Was sind die Grenzen?

Es gibt eine Menge Dinge, bei denen Open Source nicht helfen kann. Eines davon ist Kultur. Die gesamte Kultur im Umgang mit Menschen neigt dazu, einzigartig für ein bestimmtes Land zu sein. Wenn man nach Japan geht, gibt es eine bestimmte Weise, wie man einander eine Visitenkarte gibt. Tut man es auf die gleiche Weise in einem anderen Land, funktioniert es nicht. In Indien ist es nicht selbstverständlich, dass man automatisch seine Visitenkarten verteilt.

Das sind Dinge, die sich nicht verändern werden, weil sie im Wesentlichen von der Art geprägt sind, wie das Land selbst funktioniert. Ich würde keine Open-Source-Methode verwenden wollen, um das zu ändern, denn es ist Teil von dem, was es heißt, als ein Land einzigartig zu sein.

Noch etwas: Open Source wird Schulden und Steuern nicht verschwinden lassen, in keinem Land. Aber ich bin mir, sicher, dass Leute das versprechen werden, und das ist eine schlechte Sache. Ich glaube, an einem bestimmten Punkt haben die Lete übertriebene Hoffnungen und Vorstellungen davon, was Open Source für sie tun kann.

Die Sache, die mich wirklich beunruhigt, ist die Über-Politisierung von Open Source. Überall auf der Welt stoße ich auf Menschen, die mehr an der politischen Seite von Open Source interessiert sind als an der technischen. Alles hat seinen Platz, aber ich bin mir nicht sicher, dass man den technischen Aspekt über dem politischen ganz aufgeben sollte.

Was sind die Voraussetzungen, um die Möglichkeiten der Open Source-Software für Entwicklungsländer auszuschöpfen?

Ich kann nur von Indien sprechen, weil es das einzige Entwicklngsland ist, mit dem ich zu tun habe – es sei denn, sie beziehen Deutschland mit ein. Die meisten glauben, dass Indien einen Mangel an Ressourcen hat. Das stimmt nicht wirklich. Computer sind in Indien günstiger als in Deutschland. Das Hindernis besteht eher darin, dass die Leute sich nicht wirklich etwas daraus machen, auch zu Hause einen Computer zu haben. Also hat nicht jeder einen Computer daheim. Und das kann hinderlich sein.

Jemand könnte von neun bis fünf im Büro arbeiten, und selbst wenn er bereit ist, sich an der Entwicklung freier und Open-Source-Software zu beteiligen, hätte er dann nicht die nötigen Ressourcen daheim, im Wesentlichen also ein Internetanschluss und ein PC. Nicht, dass er es sich nicht leisten könnte, es liegt mehr daran, dass er denkt: "Das mache ich von morgens bis abends. Ich will nicht das gleiche machen, wenn ich nach Hause komme." Was, glaube ich, keine indische Besonderheit ist, aber es ist hier schon ziemlich stark ausgeprägt.

In Indien wird die Software-Industrie als etwas hoch Einträgliches angesehen. Wenn du in dieser Industrie arbeitest, kannst du das Zehnfache dessen verdienen, was dein Vater verdient hat. Also sehen es die Leute auch von dieser Warte: Es ist ein Job. Man begegnet Menschen, die wörtlich sagen: "Nun, das ist mein Job, also will ich etwas ganz anderes machen, wenn ich nach Hause komme." Das ist ein Problem, mit dem wir zu kämpfen haben. Es geht nicht um mangelnde Ressourcen. Es ist eine Geisteshaltung.

Was wäre die Lösung dafür?

Nun, die Lösung ist, hinzugehen und zu zeigen, dass die Beschäftigung mit freier und Open-Source-Software Spaß macht. Zudem ist sie noch auf andere Weise produktiv. Man wird besser in seinem Job, man lernt Aspekte von Teamarbeit kennen, von denen man vorher nie etwas gehört hätte; man unterliegt bestimmt keinem Mikro-Management, wie es heute sonst in jeder Softwarefirma üblich ist. Und man kann lernen, Spaß am Programmieren zu haben, am Entwickeln, am Kontakt mit Menschen, daran, zu sehen, wie andere den eigenen Code benutzen.

Einer der größten Vorteile ist dieser: In Indien scheinen viele zu glauben, dass alle guten Dinge nur in westlichen Ländern geschehen und gemacht werden – ich nenne das den "Gott-Faktor" –, und wir sollten in stiller Anbetung verharren. Manche glauben, dass es an einer Art genetischem Unterschied liegt. Aber weil die Leute jetzt mit freier und Open-Source-Software in Kontakt kommen, beginnen sie zu sehen, dass dem nicht so ist. Sie fangen an, als Kollegen auf einer Ebene zu funktionieren. Und diese Art Erfahrung – mit jeder Art von Menschen aus der ganzen Welt als Kollegen zu arbeiten – gibt einem eine Selbstsicherheit, die sich auf die eigene tägliche Arbeit mit anderen Menschen überträgt. Man wird viel selbstsicherer, man hat ein viel größeres Bild der Lage vor sich.

Denn in Softwareunternehmen, wie man sie in Indien findet, konzentriert man sich normalerweise auf sehr kleine, unmittelbare Dinge; man schaut nicht nach links, nicht nach rechts oder auf das große Ganze. Einem wird wörtlich gesagt: "Bis heute abend will ich 600 Zeilen Code." Diese Art Umgebung ist nicht sehr produktiv, und viele brennen darin aus.

Viele, die in die Welt der freien und Open-Source-Software kommen, sagen, dass sie zum ersten Mal überhaupt anfangen, ihre Arbeit zu mögen. Aus meiner Sicht ist das eine wichtige Sache, denn es geschieht auf einer menschlichen Ebene, und es hat wirklich starke Auswirkungen darauf, wie die Dinge in Zukunft sein werden.

Open Source-Software ist oft nichtkommerziell. Besteht die Möglichkeit, dass sie das Bruttosozialprodukt von Entwicklungsländern steigert?

Sie wird nicht direkt dafür verantwortlich sein, aber sie wird das sicherlich beeinflussen. Indem man Individuen befähigt, befähigt man eine Nation. Eine Nation ist ihre Bürger. Wir können nicht jeden und alles in Ordnung bringen: Wir können nicht die Schneider in Ordnung bringen, wir können nicht die Mechaniker in Ordnung bringen. Aber wir können die Situation der Software-Menschen verbessern. Und wenn man das tut – und Indien hat einen sehr großen Software-Sektor –, würde man die wirtschaftlichen Aussichten eines ganzen Landes verändern, ja.

Interview und Übersetzung aus dem Englischen: Sebastian Deterding

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Als Geschäftsführer einer Agentur für Open Source ist Markus Beckedahl natürlich begeistert von freier Software. Sie ist günstiger, sicherer, vielfältiger – und trotzdem lukrativ für viele.

Atul Chitnis ist Senior Vice President der Softwarefirma Geodesic und Leiter von FOSS.IN, einer der weltweit größten Konferenzen für Open Source. Er lebt und arbeitet als Technologieberater für Unternehmen und die indische Regierung in Bangalore.
Blog: Externer Link: atulchitnis.net