Woher kommst du? Aushandlungen der Zugehörigkeit russlanddeutscher Jugendlicher
Was bedeutet es für russlanddeutsche Jugendliche, wenn sie nicht selbstverständlich als Deutsche und damit fraglos als der Gemeinschaft Zugehörige wahrgenommen werden? Wie gehen sie mit solchen Erfahrungen um? Eine fallstudienbasierte Spurensuche.
In der deutschen Migrationsgesellschaft werden im Alltag häufig durch die Unterscheidung "Wir" und "die Anderen" Trennlinien zwischen Menschen gezogen, die zum deutschen "Wir" dazugehören und solchen, die (vermeintlich) nicht oder nicht "richtig" dazugehören. Dies betrifft auch Jugendliche mit Migrationshintergrund, die in Deutschland aufgewachsen sind. Wenn sie auf die Frage "Woher kommst du?" die deutsche Stadt nennen, in der sie groß geworden sind, so lässt das Gegenüber diese Antwort oft nicht gelten, sondern fragt weiter: "Woher kommst du wirklich? Woher kommt deine Familie?". Ihre Zugehörigkeit zum deutschen "Wir" wird dadurch angezweifelt. Diese wiederholten Erfahrungen wirken sich auch darauf aus, wo die Jugendlichen sich selbst zugehörig fühlen.[1]
Im Folgenden geht es um subjektive Erfahrungen mit Zugehörigkeitszuschreibungen russlanddeutscher Schüler_innen. Diese sollen am Beispiel von Julia und Anna dargestellt werden, die die achte Klasse in einer deutschen Großstadt besuchen. Mit Julia und Anna[2] sowie drei weiteren Schülerinnen habe ich im Rahmen meiner Doktorarbeit ein Gruppengespräch geführt, in dem sich die Jugendlichen über Erfahrungen mit alltäglichem Rassismus und Zuschreibungen von Nicht-Zugehörigkeit in Deutschland ausgetauscht haben. Am Gespräch waren neben Julia und Anna die Schwarze[3] Schülerin Stella beteiligt, die weiße deutsche Jugendliche Franziska sowie Amina, eine Schülerin, die einen Hidschab trägt – ein Kopftuch, welches das Gesicht freilässt. Die Schülerinnen bilden eine Freundschaftsgruppe.
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Rassismus
Die Alltäglichkeit von Rassismus
Der Hinweis auf die Alltäglichkeit von Rassismus unterstreicht, dass Rassismus uns alle betrifft und nicht etwa nur rechtsextreme Gewalttäter_innen und ihre Opfer. Rassismus beschränkt sich in diesem Verständnis nicht auf körperliche rassistische Übergriffe, sondern schließt auch subtilere Äußerungsformen mit ein. Wir leben in einer Gesellschaft, in der unterschieden wird zwischen fraglos dazugehörigen Menschen, die sich hier legitimerweise aufhalten, und nicht selbstverständlich dazugehörigen Menschen, deren Verhältnis zum Hier oftmals infrage gestellt wird. Diese unterschiedliche Position in der Gesellschaft und die damit einhergehenden unterschiedlichen Erfahrungen betreffen uns alle.[2]Fußnoten
- Mecheril & Melter (2010), S. 150, 156 und Scharathow (2014), S. 47.
- Mecheril (2007), S. 6.
Deutsch sein
Sowohl für Julia als auch für Anna ist es schwierig, sich als Deutsche zu bezeichnen. Julia erläutert, dass sie mittlerweile dazu übergegangen ist, anderen gegenüber zu sagen, dass sie Russin sei, obwohl sie selbst der Meinung ist, sie sei Deutsche, da ihre Eltern Deutsche sind. Sie selbst bezieht sich in ihrer Verortung als Deutsche auf die Kategorie der Abstammungsgemeinschaft. Damit greift sie auf den ideologisierten Volksbegriff der (Spät-)Aussiedler_innenpolitik zurück. Dieser bezieht sich auf eine nationale Bekenntnis- und Abstammungsgemeinschaft und fußt nicht etwa auf Staatsangehörigkeit.[4] Deutsch sind demnach alle, die (ethnisch) deutsche Vorfahren haben. Allerdings ist Julias Erfahrung, dass die Mehrheit der weißen Deutschen der Auffassung ist, dass sie – um Deutsche zu sein – auch in Deutschland hätte geboren werden müssen. Dies ist sie aber nicht. Indem sie sagt, sie sei Russin, geht sie Diskussionen aus dem Weg, in denen ihre eigene Identität infrage gestellt wird. Wenn sie sich selbst als Deutsche bezeichnet, werde das vom Gegenüber häufig nicht ohne Weiteres akzeptiert. Wie sehr sich beide Schülerinnen an den in der Mehrheitsgesellschaft verbreiteten und akzeptierten (Zugehörigkeits-)Kategorien orientieren, zeigt auch ihre Antwort auf die Frage, woher sie stammen. Beide geben an, dass sie aus Russland kämen, obwohl Julia in Kasachstan und Anna in Deutschland geboren wurde und ihre Familie ebenfalls aus Kasachstan stammt.Russlandbilder
Die Schülerinnen setzen sich mit in der deutschen Gesellschaft kursierenden Vorstellungen von Russland auseinander. Mit Russland würden demnach eine vermeintliche sozio-ökonomische und technologische Rückständigkeit, eine wilde und gefährliche Natur sowie Alkohol assoziiert. Zum Beispiel gebe es die Vorstellung, "dass dort Bären auf den Straßen rumlaufen" und man "immer noch mit Kerzen"[5] lese. Die Schülerinnengruppe kritisiert allgemein, dass das Fernsehen an die Bilder in den Köpfen der Zuschauer_innen anknüpfe und diese bediene, anstatt sie aufzubrechen und zu diversifizieren.Die in der Mehrheitsgesellschaft vorherrschenden Vorstellungen von Russland werden für die russlanddeutschen Schülerinnen auch persönlich bedeutsam. Sie erläutern, dass auch diejenigen, die diesem Land zugeordnet würden als "rückständig" eingeordnet würden. Dies wiederum führe dazu, dass man aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werde. Anna berichtet zudem von einer Situation, in der "ein deutscher Junge" auf die Information, sie sei Russin, folgendermaßen reagiert habe: "Dann meinte er sofort, dass man bei dem Spiel Call of Duty die Russen erschießen muss und hat mich ausgelacht". Die Jugendliche wurde in dieser Situation doppelt verletzt. Der Junge macht sie zu einem Mitglied der "Opfergruppe" seiner virtuellen Freizeitbeschäftigung und verhöhnt sie dabei zugleich.
Solche Erfahrungen teilen die russlanddeutschen Schülerinnen Julia und Anna mit ihren Freundinnen Stella und Amina. Auch diese erleben im Alltag verschiedene Vorstellungen über Kollektive von Menschen (Afrikaner_innen, Muslim_innen), die dann auf die Mädchen persönlich projiziert werden.[6]
Ausgrenzungserfahrungen
Der Hidschab von Amina und die Hautfarbe von Stella werden im Alltag meist rassialisiert[7] und rufen eine sofortige Zuordnung als nicht-deutsch hervor. Das Kopftuch führt laut Julia dazu, dass "man sofort sieht, dass Amina einen anderen Glauben hat." Viele weiße Deutsche kämen daraufhin umgehend zu dem Schluss: "Ja, die ist nicht so wie wir, die gehört hier nicht dazu." Im Gegensatz dazu brauche es im Fall der russlanddeutschen Jugendlichen Hintergrundwissen, um sie als "anders" einzuordnen. Menschen müssten hierfür "wissen", dass sie Russinnen seien. Die russlanddeutschen Schülerinnen machen deutlich, dass ihre Ausgrenzungserfahrungen nicht mit derselben Häufigkeit und Heftigkeit einhergehen wie die ihrer Freundin Amina.Interessant an der Freundschaftsgruppe ist, dass sie ihre ähnlichen und doch unterschiedlichen Erfahrungen in der deutschen Migrationsgesellschaft gemeinsam bearbeiten. In einer Studie von Dietrich (2009) über russlanddeutsche Jugendliche und Rassismus grenzten sich die befragten russlanddeutschen Jugendlichen dagegen von anderen Gruppen Migrationsanderer[8] ab. Sie hoben gemäß der – im Alltag verbreiteten und für ihr eigenes Einwanderungsrecht nach Deutschland zentralen – Vorstellung, Deutsche_r sei, wer von Deutschen abstamme, ihr Deutschsein hervor. Andere Jugendliche erklärten sie demgegenüber zu "Ausländer_innen", weil diese keine deutschen Vorfahren hätten. Eine solche Rivalität untereinander um die Frage, wer Deutsche_r sein darf und wer nicht, gibt es im Gespräch der von mir betrachteten Freundschaftsgruppe nicht.[9] Vielmehr teilen vier der Freundinnen die Erfahrung, als nicht (wirklich) zugehörig wahrgenommen zu werden, als "anders" ausgegrenzt und abgewertet zu werden. Gemeinsam mit der weißen deutschen Franziska analysieren die Schülerinnen ihre Erfahrungen und versichern sich der gegenseitigen Unterstützung. Dass vier von ihnen als nicht selbstverständlich in Deutschland zugehörig gesehen werden und Erfahrungen mit Alltagsrassismus machen, ist für die Freundinnen gelebte Normalität. Gleichzeitig bestärken sie sich darin, dass es nicht in Ordnung ist, dass sie diese Erfahrungen machen und tauschen sich darüber aus, was gegen Diskriminierung helfen kann. Die Freundinnen sind sich einig, dass es in der Gesellschaft ein stärkeres Bewusstsein dafür braucht, dass

Dieser Artikel ist Teil des Kurzdossiers Russlanddeutsche.