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Fluch aus dem Jenseits | Polen | bpb.de

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Fluch aus dem Jenseits

Maciej Stasiński

/ 4 Minuten zu lesen

Die Polen streiten über verschiedene Ansätze zur Aufarbeitung ihrer Vergangenheit: Soll man einen Schlussstrich unter das kommunistische Regime ziehen, oder soll sich jeder Geheimdienstmitarbeiter und Funktionär noch heute für seine Taten rechtfertigen?

Eine Frau steht vor einer Fotoausstellung über die Verhängung des Kriegsrechts in Polen 1981, Warschau 2006. (© AP)

Der Demokratisierungsprozess in Polen begann im Frühjahr 1989 mit den Verhandlungen am Runden Tisch zwischen Vertretern des kommunistischen Regimes und der Solidarność-Bewegung. Seitdem prallen zwei entgegengesetzte Positionen zur Aufarbeitung der Diktatur aufeinander.

Auf der einen Seite befanden sich zunächst die zentralen Führungsfiguren der demokratischen Opposition sowie die Architekten der Übergangsvereinbarungen, die für einen "Schlussstrich und Neuanfang" plädierten. Ihr Ziel war, das post-kommunistische Polen in eine demokratische, pluralistische und liberale Zukunft zu führen. Dazu musste die ehemalige kommunistische Partei, die sich inzwischen in eine "sozialdemokratische" verwandelt hatte, als eine weitere politische Kraft im demokratischen Spiel zugelassen werden. Dies bedeutete allerdings nicht die Straffreiheit (im Sinne einer Generalamnestie) für Funktionäre des kommunistischen Regimes und der Staatssicherheit oder den Gnadenerlass für ehemalige Verbrechen und Straftaten, sondern überließ diese Angelegenheit der Justiz.

Suche nach "Abrechnung"

Auf der anderen Seite entstand eine politische Strömung, angeführt von Oppositionellen der "zweiten Reihe" aus der anti-kommunistischen demokratischen Bewegung oder von Personen, die nicht in der Opposition aktiv gewesen waren. Diese immer mehr an Gewicht gewinnende Strömung forderte eine "Abrechnung" mit der Diktatur über den Weg der öffentlichen Abstrafung der alten Kommunistenriege, allen voran der Mitarbeiter des Geheimdienstes. Auch wenn das geplante "Gesetz zur Entkommunisierung", also des Ausschlusses von Funktionären und Mitgliedern der ehemaligen kommunistischen Partei aus öffentlichen Ämtern, nie das Licht der Welt erblickte, weil es klar gegen das rechtsstaatliche Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz verstieß, so wurden doch die Funktionäre des ehemaligen kommunistischen Geheimdienstes entlassen, vor allem jene, die an der Verfolgung der Opposition und der katholischen Kirche beteiligt gewesen waren.

In den 1990er Jahren wurden die Archive des kommunistischen Geheimdienstes der Forschung zugänglich gemacht. Davon ausgenommen blieben allerdings die so genannten operativen Unterlagen, also Personen bezogene Akten ehemaliger Offiziere, Agenten und Kollaborateure sowie jener Personen, die von der Polizei verfolgt und als Informanten "rekrutiert" worden waren. Eingesehen werden konnten diese Personen bezogenen Archive des Innenministeriums jedoch von einem 1997 qua Gesetz eingerichteten Sondergericht, das den Auftrag hatte, die politische Vergangenheit von Anwärtern auf wichtige öffentliche Ämter in Regierung oder Parlament – von denen Offiziere des ehemaligen Geheimdienstes ausgeschlossen waren – zu durchleuchten.

Übergabe der Archive

Gegen Ende der 1990er Jahre spitzte sich die Konfrontation zwischen denjenigen, die für einen "Schlussstrich und Neuanfang" eintraten, und den Befürwortern einer radikalen und auf Strafverfolgung ausgerichteten Revision der diktatorischen Vergangenheit zu. Die Revisionisten riefen dazu auf, die Vereinbarungen von 1989 aufzukündigen. Die Altkommunisten würden die Sache der Freiheit verraten, Polen der Demokratie berauben und angebliche Verbündete aus den Reihen der Solidarność denunzieren. Um die "polnische Freiheit" vor jener geheimen Verschwörung aus Ex-Kommunisten, Geheimdienstmitarbeitern und ihren Beschützern in der demokratischen Ex-Opposition zu "retten" – so argumentierten die Revisionisten – müssten alle ehemaligen Kollaborateure aus dem öffentlichen Leben entfernt werden. Dabei griffen die Anführer der Revisionisten auf die Archive des ehemaligen Geheimdienstes zurück, die inzwischen in ihrer Gesamtheit durch ein entsprechendes Gesetz von 1999 an das so genannte Amt des Nationalen Gedenkens übergeben worden waren. Dieses Amt wurde gegründet, um die Erforschung der kommunistischen Ära zu fördern und strafrechtliche Verfolgungen möglicher Verbrechen der Diktatur zu erleichtern.

Die Antirevisionisten vertraten den Standpunkt, dass die Geheimdienstarchive keine absolute Glaubwürdigkeit besitzen würden und nicht als politische Waffe benutzt werden dürften, um das Leben von Menschen zu zerstören. Sie argumentierten, dass der Vorwurf der Kollaboration den Ruf von Personen, die unter Drohung und Verfolgung als Informanten "rekrutiert" worden waren, unwiderruflich beschädigen würde.

Lustrationsgesetz

Nichtsdestotrotz standen mit der Zeit und in dem Maße, in dem das Amt die Archivbestände zu ordnen begann, die Unterlagen – inklusive der zuvor nicht öffentlich zugänglichen Listen und Personen bezogenen Akten von Mitarbeitern und Kollaborateuren – zunehmend Journalisten und Forschern zur Verfügung. Die Kampagne der Revisionisten mit ihrem Slogan "Die Wahrheit wird uns befreien" kulminierte 2006 in der Verabschiedung eines Lustrationsgesetzes (Durchleuchtungsgesetz) durch das von Revisionisten dominierte Parlament. Das Gesetz orderte die Überprüfung von fast einer Millionen Bürger hinsichtlich möglicher Verbindungen zum ehemaligen Geheimdienst, von Politikern, Journalisten bis hin zu Schullehrern. Als ersten Schritt der "Durchleuchtung" zwang das Gesetz alle betroffenen Personen zur Aussage über ihre möglichen Verbindungen zur kommunistischen Staatssicherheit. Das Gesetz scheiterte auf der ganzen Linie, das Verfassungsgericht fand im Gesetzestext bis zu 40 Verstöße gegen die Verfassung.

Einer, der die Überprüfung mit Hilfe der Geheimdienstarchive verteidigte, war der ehemalige polnische Regierungschef Jarosław Kaczyński (2005-2007). Er hatte wiederholt die Lustrationsgegner angegriffen und sie als Instrumente und Schutzschilde des ehemaligen Geheimdienstes bezeichnet.

Diskussion über Wałesa

Die "wilde" und für politische Zwecke instrumentalisierte Kampagne der Denunziation vermeintlicher kommunistischer Agenten setzte sich jedoch in den Medien fort. Man spielte ihnen die Akten von etlichen öffentlichen Personen zu. Die Kampagne traf nahe liegender Weise vor allem all jene, die dafür bekannt waren, das politisch interessierte Herumstochern in der Vergangenheit einzelner Personen zu kritisieren. Ihr letztes Opfer ist kein anderer als Lech Wałesa, historischer Anführer der Solidarność, polnischer Nationalheld und Friedensnobelpreisträger. Die Debatte um Wałesa begann mit der Veröffentlichung eines Buches. Zwei Mitarbeiter des Amts des Nationalen Gedenkens wollten damit belegen, dass Wałesa in den 1970er Jahren unter dem Pseudonym "Bolek" als Informant für den Geheimdienst gearbeitet hatte. Wałesa widersprach dem vehement und hat auf den Vorwurf mit einer kürzlich erschienenen Autobiographie geantwortet.

Für die Autoren der Kampagne, die öffentlich durch Ex-Regierungschef Jarosław Kaczyński und den ehemaligen polnischen Präsidenten, seinen Zwillingsbruder Lech Kaczyński, geschürt wurde, war die Hetze gegen Lech Wałesa ein Mittel, um den gesamten demokratischen Wandel Polens seit 1989 zu hinterfragen und ihn als Verrat und Betrug am polnischen Volk durch eine Allianz von falschen Eliten der Solidarność und Ex-Kommunisten darzustellen.

Übersetzung: Anne Becker

Fussnoten

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Maciej Stasiński wurde 1955 in Warschau geboren. Seit 1981 war er Korrespondent für La Vanguardia in Barcelona. Seit 1995 ist er Redakteur und Journalist der Gazeta Wyborcza.