Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Notizen aus Moskau: Ein Hauch von Panik. Könnte Kudrin Russland retten? Und Putin dazu? | Russland-Analysen | bpb.de

Russland-Analysen Propaganda / Nawalnyj (19.02.2024) Analyse: It’s fake! Wie der Kreml durch Desinformationsvorwürfe die Diskreditierung von Informationen in ein Propagandainstrument verwandelt Kommentar: Der Kampf um die Deutungshoheit. Deutsche Medien zu Ukraine, Krim-Annexion und Russlands Rolle im Jahr 2014 Von der Redaktion: dekoder-Special "Propaganda entschlüsseln" Kommentar: Erste Gedanken zum Tod und zum Leben Alexej Nawalnys Statistik: Politisch motivierte strafrechtliche Verfolgung in Russland Chronik: 23. Januar – 09. Februar 2024 Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen und Übergangsjustiz (16.12.2023) Analyse: Russland vor Gericht bringen: Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen Dokumentation: Die Brüsseler Erklärung Analyse: Optionen der Übergangsjustiz für Russland dekoder: "Das unbestrafte Böse wächst" dekoder: "Ist es nicht Patriotismus, wenn alle Kinder zu uns gehören?" Chronik: 01. November – 14. Dezember 2023 Getreidehandel in Kriegszeiten / Wasserwege (06.12.2023) Analyse: Russlands Getreideexporte und Angebotsrisiken während des Krieges gegen die Ukraine Analyse: Russland setzt den Getreidehandel als Waffe gegen die Ukraine ein Analyse: Die strategische Bedeutung des russischen Wolga-Flusssystems Chronik: 23. – 29. Oktober 2023 Hat das Putin-Regime eine Ideologie? (15.11.2023) Von der Redaktion: 20 Jahre Russland-Analysen Analyse: Macht und Angst Die politische Entwicklung in Russland 2009–2023 Kommentar: Russlands neuer Konservatismus und der Krieg Kommentar: Chauvinismus als Grundlage der aggressiven Politik des Putin-Regimes Analyse: Verschwörungstheorien und Russlands Einmarsch in die Ukraine Kommentar: Die konzentrischen Kreise der Repression dekoder: Ist Russland totalitär? Chronik: 03. – 20. Oktober 2023 LGBTQ und Repression (30.09.2023) Analyse: Russlands autoritärer Konservativismus und LGBT+-Rechte Analyse: Russlands Gesetz gegen „Propaganda für Homosexualität“ und die Gewalt gegen LGBTQ-Personen Statistik: Gewalt gegen LGBTQ+-Menschen und Vertrauen in Polizei und Gerichte unter LGBTQ+-Menschen in Russland Dokumentation: Diskriminierung von und Repressionen gegen LGBTQ+-Menschen in Russland Kommentar: Wie sehr geht es bei der strafrechtlichen Verfolgung von "Rehabilitierung des Nazismus" um politische Repressionen? Von der Redaktion: Ausstellung: "Nein zum Karpfen" Chronik: 31. Juli – 04. August 2023 Chronik: 07. – 27. August 2023 Chronik: 28. August – 11. September 2023 Technologische Souveränität / Atomschlagdebatte (20.07.2023) Von der Redaktion: Sommerpause, на дачу – und eine Ankündigung Analyse: Die Sanktionen machen sich bemerkbar: Trübe Aussichten für die russische Chipindustrie Analyse: Kann Russlands SORM den Sanktionssturm überstehen? Kommentar: Russisches Nuklearroulette? Die Atomschlagdebatte in der russischen Think-Tank-Fachöffentlichkeit Dokumentation: Die russische Debatte über Sergej Karaganows Artikel vom 13. Juni 2023 "Eine schwerwiegende, aber notwendige Entscheidung. Der Einsatz von Atomwaffen kann die Menschheit vor einer globalen Katastrophe bewahren" Umfragen: Die Einstellung der russischen Bevölkerung zu einem möglichen Einsatz von Atomwaffen Chronik: 13. Juni – 16. Juli 2023 Chronik: 17. – 21. Juli 2023 Wissenschaft in Krisenzeiten / Prigoshins Aufstand (26.06.2023) Kommentar: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine – Ein "Virolog:innen-Moment" für die deutsche Osteuropaforschung? Kommentar: Osteuropaforschung im Rampenlicht: ein Drahtseilakt zwischen Wissenschaft und Aktivismus Kommentar: Ein Moment der Selbstreflexion für Russlandstudien Kommentar: Wissenschaft im Krieg: Die Verantwortung der Regionalstudien und was daraus folgt Kommentar: Verträgt sich politisches Engagement und Wissenschaft? Zur öffentlichen Position des Fachs Osteuropäische Geschichte dekoder: Mediamasterskaja: Wissenschaftsjournalismus – seine Bedeutung und seine Herausforderungen dekoder: Prigoshins Aufstand gegen den Kreml: Was war das? dekoder: Prigoshins Aufstand: eine Chronologie der Ereignisse Chronik: 15. Mai – 12. Juni 2023 Deutschland und der Krieg II / Niederlage und Verantwortung (26.05.2023) Kommentar: Ostpolitik Zeitenwende? Deutschland und Russlands Krieg gegen die Ukraine Kommentar: Deutsche Wirtschaft und der Krieg Kommentar: Deutschland, der Krieg und die Zeit Kommentar: Nach einem Jahr Krieg: Deutschland im Spiegel der russischen Medien Kommentar: Der Ukrainekrieg: Kriegsängste, die Akzeptanz von Waffenlieferungen und Autokratieakzeptanz in Deutschland Umfragen: Die Haltung der deutschen Bevölkerung zum Krieg gegen die Ukraine: Waffen, Sanktionen, Diplomatie Statistik: Bilaterale Hilfe für die Ukraine seit Kriegsbeginn: Deutschland im internationalen Vergleich Notizen aus Moskau: Niederlage Chronik: 24. April – 14. Mai 2023 Auswanderung und Diaspora (10.05.2023) Analyse: Politisches und soziales Engagement von Migrant:innen aus Russland im Kontext von Russlands Krieg gegen die Ukraine Dokumentation: Ukraine-Krieg: Bislang nur wenig humanitäre Visa für gefährdete Russen Statistik: Asylanträge russischer Bürger:innen in Deutschland Analyse: Emigration von Wissenschaftler:innen aus Russland: Kollektive und individuelle Strategien Dokumentation: Schätzungen zur Anzahl russischer Emigrant:innen nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine Chronik: 01. März – 23. April 2023 Sanktionen (27.03.2023) Analyse: Die Wirkung von Krieg und Sanktionen auf Russlands Volkswirtschaft im Jahr 2022 Statistik: Russlands Wirtschaft Analyse: Russische wirtschaftliche Anomalie 2022: Ein Blick aus Unternehmensperspektive Umfragen: Wahrnehmung von Sanktionen durch die russische Bevölkerung Chronik: 01. – 28. Februar 2023 Feminismus / Kriegswahrnehmung / Gekränktes Imperium (13.03.2023) Analyse: Feminist_innen machen in Russland Politik auf eine andere Weise Statistik: Kennzahlen und Indizes geschlechterspezifischer Ungleichheit Analyse: Nicht Befürworter:innen und nicht Gegner:innen: Wie verändert sich bei der Bevölkerung in Russland mit der Zeit die Wahrnehmung des Krieges in der Ukraine? dekoder: Die imperiale Formel ist: Russland hat keine Grenzen Repression und stiller Protest / Die Botschaft des Präsidenten (06.03.2023) Analyse: "Nein zum Karpfen": Stiller Protest im heutigen Russland Dokumentation: Repressionen wegen Antikriegs-Akten in Russland seit 2022 dekoder: Die Schrecken des Kreml Analyse: Ein langer Krieg und die "Alleinschuld des Westens". Präsident Putins Botschaft an die Föderalversammlung am 23. Februar 2023 Kriegsentwicklung / Kirchen im Ukrainekrieg (23.02.2023) Analyse: Unerwartete Kriegsverläufe Analyse: Die Invasion der Ukraine nach einem Jahr – Ein militärischer Rück- und Ausblick Kommentar: Die Unterstützung der NATO-Alliierten für die Ukraine: Ursachen und Folgen Kommentar: Der Krieg und die Kirchen Karte: Kriegsgeschehen in der Ukraine (Stand: 18. Februar 2023) Eliten (16.02.2023) Analyse: Ansichten der russischen Eliten zu militärischen Interventionen im Ausland Analyse: Zusammengeschweißt und gefesselt durch Illegitimität Ranking: Die politische Elite im Jahr 2022 Meinungsumfragen im Krieg (02.02.2023) Kommentar: Sind Meinungsumfragen im heutigen Russland sinnvoll? Kommentar: Diese vier Fragen sollten Sie sich stellen, bevor Sie Meinungsumfragen darüber lesen, was Russ:innen über den Krieg denken Kommentar: Es gibt noch immer keine öffentliche Meinung – der Krieg in der Ukraine und die Diktatur in Russland lassen uns das besser erkennen Kommentar: Die Meinungsumfragen des Lewada-Zentrums auf der Discuss Data Online-Plattform. Zur Diskussion um die Aussagekraft der Daten Kommentar: Telefonische Umfragen im autoritären Russland: der Ansatz von Nawalnyjs Stiftung für Korruptionsbekämpfung Kommentar: Annäherungen an eine Soziologie des Krieges Kommentar: Methodologische Probleme von russischen Meinungsumfragen zum Krieg Kommentar: Befragungen von Emigrant:innen: Herausforderungen und Möglichkeiten dekoder: "Die öffentliche Meinung ist ein Produkt von Umfragen" Dokumentation: Umfragen zum Krieg (Auswahl) Chronik: 01. – 31. Januar 2023

Notizen aus Moskau: Ein Hauch von Panik. Könnte Kudrin Russland retten? Und Putin dazu?

Jens Siegert

/ 9 Minuten zu lesen

Die russische Wirtschaft schwächelt. Zwar zehrt das Land noch von einem Stabilisierungsfonds, der noch zu Zeiten des in Ungnade gefallenen Finanzministers Alexej Kudrin angelegt wurde, doch das wird nicht auf ewig gehen. Jens Siegert fragt in seinen Notizen, ob und inwieweit eine potenzielle Rückkehr Kudrins die russische Wirtschaft retten könnte und ein zweites 1998 verhindern könnte.

Wechselkurse von Rubel zu Euro und Dollar in St. Petersburg im Januar 2016: Der Wertverlust setzt sich auch im neuen Jahr fort. (© picture-alliance)

Zweimal bereits in den vergangenen drei Monaten habe ich mich in diesen Notizen mit der Wirtschaftskrise in Russland beschäftigt (http://russland.boellblog.org/2015/10/22/wirtschaftskrise-in-russ land-und-keiner-protestiert-warum/, http://russ land.boellblog.org/2015/12/15/wirtschaftskrise-und-protest-in-russland/). Dabei habe ich, gestützt auf zahlreiche Wirtschaftsexperten, argumentiert, dass es schlecht bis schlimm um Russlands Wirtschaft bestellt ist, dass eine Wende unter der gegenwärtigen politischen Führung unwahrscheinlich ist, dass die russische Wirtschaft aber trotzdem, vor allem dank der in besseren Jahren angesparten Reserven, der propagandistisch angefeuerten Mobilisierung und auch der traditionellen Duldsamkeit der russischen Bevölkerung noch ein wenig durchhalten dürfte. Einen Fast-Zusammenbruch des Landes wie 1998, als es nach dem Fall des Bruttoinlandsprodukts um mehr als 50 Prozent gegenüber 1991 zum faktischen Staatsbankrott kam, habe ich als (zumindest vorerst) nicht zu erwarten eingeschätzt. Ebenso schien mir, als ob Putin trotz der Krise kaum so bald erhebliches innenpolitisches Ungemach drohe.

Doch nun, kurz nach dem Jahreswechsel, sieht alles anders aus. Erst warnte Finanzminister Anton Siluanow direkt nach Ende der Neujahrsferien auf dem Gajdar-Wirtschaftsforum in Moskau, wenn sich nicht ganz schnell und ganz bald etwas ändern werde, bestehe sehr wohl die Gefahr einer Wiederholung von 1998. Tags darauf malte Präsident Putin, eigentlich auf die Rolle des geborenen Siegers festgelegt, die nahe Zukunft in den düstersten Farben. Noch sei es zwar nicht so weit, noch gebe es zwar Hoffnung, so Putin auf einer Regierungssitzung, aber jedermann müsse sich auf alle denkbaren Entwicklungsszenarien einrichten (wobei alle verstanden, dass mit "alle denkbaren" die "denkbar schlechtesten" gemeint waren).

Unterdessen fällt der Ölpreis nahezu jeden Tag ein bisschen weiter und der Rubelkurs fällt mit ihm. Während noch vor einem halben Jahr die meisten Wirtschaftsanalysen davon ausgingen, dass das Geld wohl, wenn es denn nur ein wenig rationiert werde (im russischen Regierungssprech heißt das dann "Optimieren des Haushalts"), bis über die nächsten Wahlen zur Staatsduma (September 2016) und die Präsidentschaftswahlen (Frühjahr 2018) hinaus reichen würde, tauchen nun erste Warnungen auf, die schon für das laufende Jahr akute staatliche Geldknappheit voraussagen.

Dazu passt auch die Ankündigung von Ministerpräsident Dmitrij Medwedew, überall müsse nun gespart werden, ausgenommen seien nur das Militär, die Renten und die Gehälter der Staatsangestellten. Finanzminister Siluanow verfügte daraufhin Mitte Januar (der Ölpreis war mittlerweile auf unter 30 US-Dollar für die Marke "Brent" gesunken) eine zehnprozentige Haushaltskürzung quer durch alle Ressorts. Kommentatoren überboten sich sogleich mit der Vorhersage, dass das wohl nicht reichen werde. Alles riecht nach Panik.

Am radikalsten äußerte sich German Gref, ehemaliger Wirtschaftsminister und heute Chef der staatlichen "Sberbank" (der bei weitem größten Bank Russlands), auf dem schon erwähnten Gajdar-Wirtschaftsforum: Russland habe den Anschluss verpasst. Das Land sei ein (Gref gebrauchte das englische Lehnwort) "Downshifter" geworden, es habe den internationalen Wettbewerb verloren. Und ohne schnellstmögliche Änderungen des "Lenkungssystems" sehe er keine Möglichkeit zur Besserung. Der zehnminütige Videomitschnitt von Grefs Philippika ist ein Internethit (Externer Link: http://www.vedomosti.ru/economics/video/2016/01/15/624203-gref-izmenyat-vse-gosudarstvennie-sistemi).

Gref steht stellvertretend für die liberalen Technokraten in der Staatsführung. Sie haben gemeinsam mit Präsident Putin das politökonomische Modell des heutigen russischen Staates geschaffen. Und sie sind bis heute für seine makroökonomische Stabilität zuständig. Sie kontrollieren auch immer noch einen erheblichen Teil der russischen Wirtschaft. Allerdings tun sie das von Putins Gnaden.

Das Neuartige an Grefs Äußerungen ist nicht eine öffentliche Kritik, die auch aus dem Umkreis des Kremls oder gar direkt aus der Regierung kommt. Die gibt es schon, seit es mit der russischen Wirtschaft nicht mehr aufwärts geht, also spätestens seit 2009. Das Neue ist die Radikalität und – damit einhergehend – eine politische Dimension. Wenn er nämlich technokratisch von "Lenkungssystem" spricht, kann damit nur das politische System gemeint sein. Das darf er aber gar nicht meinen, denn das System ist sakrosankt und die Kremlliberalen sind keine Politiker, sondern eben Bürokraten.

Gref agiert also hilflos und subversiv zugleich. Hilflos, weil er nicht mehr tun kann, als Putin seine Pläne in der Hoffnung auf Einsicht und Änderung der Politik anzubieten. Es ist allein Putins Entscheidung, wie es weitergeht. Die Hoffnung aber, Putin könne den gegenwärtigen Kurs ernsthaft ändern, ist gering. Zu sehr hängt die Legitimität seiner Herrschaft von der propagandistisch erzeugten Unterstützung durch das Volk ab. Zu viele seiner Mitstreiter (aus den Sicherheitsapparaten ebenso wie aus der Wirtschaft) haben sehr viel zu verlieren. Und deshalb ist Gref auch subversiv. Denn er fordert eigentlich – ob er das nun weiß (und dann auch will) oder nicht – die Ablösung des politischen Regimes und damit den Sturz Putins. Man kann Grefs Äußerungen freilich auch als Versuch interpretieren, sich vor dem großen Crash vom Regime zu distanzieren und seine Hände in Unschuld zu waschen (wobei unter Crash sowohl der wirtschaftliche Zusammenbruch als auch eine national-totalitäre Wendung des Putinregimes verstanden werden kann).

Womit ich – wie in der Überschrift angekündigt – zum ehemaligen Finanzminister Alexej Kudrin komme. Auch Kudrin war in der Selbstzuschreibung kein Politiker, sondern Beamter und Experte. Ein bis heute hier wie dort hochangesehener, wohlbemerkt. Dank seiner Expertise, aber auch einer gewissen Standhaftigkeit wurde in den fetten 2000er Jahren mit dem staatlichen Stabilitäts- und dem Wohlstandsfond das Sicherheitspolster angelegt, von dem Land und Regime seit nun schon mehr als fünf Jahren Krise zehren. Dieses Ansehen und die trotz Rausschmiss andauernde "Freundschaft" mit Putin (von diesem wiederholt öffentlich bekräftigt) haben dazu geführt, dass sich in kritischen Momenten immer wieder (zuletzt direkt vor dem Jahreswechsel) Gerüchte "verdichten", Kudrin werde in Kürze von Putin zu irgendetwas Wichtigem ernannt (vielleicht gar zum Ministerpräsidenten, mindestens aber zu dessen erstem Stellvertreter mit Sondervollmachten oder gleich zum Sonderbeauftragter des Präsidenten für Wirtschaft, also zu so eine Art Notstandskommissar), um den auf einen Eisberg zulaufenden Tanker Russland in letzter Minute umzulenken. Passiert ist das nie.

Niemand kann sagen, ob das nicht passiert ist, weil Kudrin die angebotenen Bedingungen nicht zugesagt haben oder weil Putin kein entsprechendes (entsprechend gutes) Angebot gemacht hat. Wahrscheinlich, wie so oft bei komplizierten politischen Aushandelungen, von beidem etwas. Vorausgesetzt aber, Putin hätte Kudrin eine Rückkehr angeboten, könnte dessen Zurückhaltung auch daran liegen, dass er sich seiner Rolle als vom Präsidenten abhängiger Technokrat durchaus bewusst ist und weiß (oder zumindest vermutet), dass dessen politische Prioritäten anders liegen, als es Kudrins Meinung nach notwendig wäre, um die russische Wirtschaft wieder auf Kurs zu bringen. Diese Erkenntnis mag, neben kolportierten Karriereambitionen und Differenzen über die weitere Wirtschaftspolitik (vor deren Weg in die Mobilisierungsfalle Kudrin schon früh gewarnt hat, als er noch Finanzminister war), bei seinem Abgang aus der Regierung im Jahre 2011 eine Rolle gespielt haben.

Wohl auch deshalb hat Kudrin versucht, sich in der Zwischenzeit mit dem "Komitee für Bürgerinitiativen" ("Komitet Graschdanskich Inizijatiw") und dem "Allrussischen Zivilgesellschaftsforum" eine soziale (ich wage hier nicht das Wort "politische") Basis aufzubauen. Sie soll zumindest eine Andeutung von Unabhängigkeit ermöglichen. Damit hat er sich, immer sehr vorsichtig und akkurat, politisch in Position gebracht. Allerdings hat er es nie gewagt, offen politisch zu werden (also auch nur andeutungsweise die Machtfrage zu stellen). Weder durch die Gründung oder Unterstützung einer politischen Partei oder, wie es in Russland oft bewusst ungenau-verschleiernd heißt, "politischen Bewegung", noch durch irgendwelche öffentlichen politischen Forderungen, die nicht sein "Fachgebiet", also die Wirtschaft betreffen.

Somit bleibt auch er, was die sogenannten Kremlliberalen insgesamt sind, ein Anhängsel des Patriarchen, sei der nun gut oder schlecht. Kudrins äußerst vorsichtige Versuche, sein Image als kompetenter, aber eben auch aufrechter Fachmann in politisches Kapital umzuwandeln, stoßen hier an eine unsichtbare Grenze, eine Grenze, die Putin mit der autoritären Evolution seiner politischen Herrschaft bewusst gezogen hat und eifersüchtig kontrolliert.

Solange für Putin wirtschaftliche Vernunft und Machterhalt verbindbar schienen, hatte diese hier an Kudrin beschriebene Haltung, typisch für die allermeisten Fachleute in Regierung und Administration, sogar eine gewisse ethische (wenn auch nicht politische) Berechtigung. Für Putin ist diese Verbindung dagegen wohl immer nur ein Kompromiss auf Zeit gewesen, den er spätestens 2012 aufgekündigt hat. Auch jedes Mal zuvor, wenn er zwischen wirtschaftlicher Vernunft und Machterhalt wählen musste, hat sich Putin für den Machterhalt entschieden.

Doch einmal angenommen, ich (und mit mir viele andere) hätte Unrecht, Putin würde uns erneut überraschen, Kudrin einen verantwortlichen und einflussreichen Posten und viel Handlungsfreiheit geben. Was wäre dann möglich?

Ein Beispiel. Kudrin hat in den vergangenen Jahren sehr detaillierte Reformpläne zu fast allem ausarbeiten lassen, das mit Wirtschaft zu tun hat, auch eine Reform des Innenministeriums. Wirtschaftsverbrechen gehören zu den häufigsten Ermittlungsverfahren bei Polizei und Staatsanwaltschaft. Ebenso häufig werden sie eingestellt, bevor es zu einem Gerichtsverfahren kommt, da die Verfahren in den meisten Fällen keine echten Verbrechen untersuchen, sondern lediglich der Erpressung von Unternehmern und Unternehmen durch kriminelle Gruppen innerhalb der Sicherheitsapparate dienen. All diese Missstände sind bekannt und von Putin öffentlich verurteilt worden, zuletzt bei seiner Rede zur Lage der Nation im vergangenen Dezember. Geändert hat sich nichts.

Es fällt sehr schwer, zu glauben, dass es nun, mit Kudrin als "Sonderkommissar" anders würde. Viel wahrscheinlicher ist, dass passieren würde, was bisher immer passiert ist. Selbst wenn Kudrin das (öffentliche!) O.K. von Putin bekäme, würden auf dem Weg zu echten Reformen so viele Hindernisse und Verwässerungen auftauchen, dass sie wie alle anderen Versuche zuvor scheitern würden. Das hat nichts (zumindest nicht in erster Linie) mit dem Wollen und Können von Kudrin zu tun. Vielleicht nicht einmal mit dem Wollen von Putin, sondern ist dem gegenwärtigen politischen System geschuldet.

Das weiß natürlich auch Kudrin. Deshalb könnte ein weiteres Ziel seiner Rückkehr die Rückkehr an sich sein. Das Putinsche System hat sich seit Kudrins Rausschmiss derart radikalisiert, dass allein seine Rückkehr einen stabilisierenden und damit die endgültige Katastrophe verhindernden Effekt haben könnte. In den 2000er Jahren hat Putin weitgehend die Balance zwischen (ich weiß, ich vereinfache hier) eher konservativen Sicherheitsleuten und eher liberalen Wirtschaftsleuten gehalten. Diese Balance ist seit Kudrins Abgang, spätestens aber seit 2012 zerstört. Sollte es so sein, wäre eine Rückkehr Kudrins, wie Maxim Trudoljubow schreibt, "ein Akt der Verzweiflung oder einer des staatsbürgerlichen Mutes." Kudrin hätte dann etwas von einem Psychologen, der einem Selbstmörder auf das Dach eines Hochhauses folgt, um ihn vom Sprung abzuhalten – auf die Gefahr hin, selbst mit in den Abgrund gezogen zu werden.

Aber eine Rückkehr Kudrins beinhaltete natürlich auch die Chance, die Katastrophe tatsächlich abzuwenden. Allein seine Ernennung (und gegenwärtig in Russland wohl nur seine) könnte vor allem nach außen eine beruhigende Wirkung entfalten. Putin erhielte eine Atempause und die Chance, sich mit dem Westen zu verständigen, ohne zu sehr das Gesicht zu verlieren. Das dürfte eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung sein. Die Frage ist, ob Putin und seine Umgebung das auch so sehen. Bisher sind sie offenbar davon ausgegangen, dass es sich beim niedrigen Ölpreis um eine vorrübergehende Störung handelt, die man, mit ausreichend Reserven ausgestattet, aussitzen kann.

Nach innen bleiben die Risiken durch eine Rückkehr Kudrins hoch. Für Putin, weil das nur dann einen positiven Effekt hätte, wenn ein Teil seiner Umgebung dafür (durchaus auch im ursprünglichen Wortsinn) zahlen müsste. Für Kudrin bleiben die Risiken hoch, weil seine soziale (und damit politische) Basis schwach ist. Sie besteht maximal aus jenen 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung, die (immer noch und trotz aller Propaganda) eher liberale, demokratische Reformen wollen und eine weniger konfrontative Außenpolitik. Und Kudrin hat sich bislang gescheut, diesen kleinen Teil der russischen Gesellschaft politisch zu organisieren. Vielleicht war das klug. Vielleicht gibt es Kudrin als halb-politische Kraft nur deshalb (noch), weil er es nicht versucht hat. Alle, die es versucht haben, sind jedenfalls außer Landes oder marginalisiert oder tot. Alle, die es versucht haben, waren aber auch nicht Kudrin.

In allen autoritären Systemen, die sich mehr oder weniger friedlich zu demokratischen Systemen transformiert haben, gab es moralische Autoritäten (manchmal waren das einzelne Menschen, manchmal auch Institutionen wie Armee oder Kirche), die eine Radikalisierung oder eine Zuspitzung der Krise des Ancien Régime verhindert und diesen Übergang moderiert und in gewisser Weise erzwungen haben. In Russland heute, gibt es, außer dem Halbpolitiker Kudrin, niemanden und nichts Vergleichbares. Das stimmt nicht zuversichtlich.

Diesen und andere Texte finden Sie auf Jens Siegerts Russlandblog http://russland.boellblog.org/.



Fussnoten

Jens Siegert ist Diplompolitologe und leitete bis 2015 das Länderbüro Russland der Heinrich Böll Stiftung in Moskau. Davor arbeitete er in Moskau als Korrespondent für Radiostationen, Zeitschriften und Zeitungen im deutschsprachigen Raum.