Zusammenfassung
Die öffentliche Debatte um Russlands Krieg gegen die Ukraine dreht sich seit fast zehn Jahren im Kreis und es fehlt ihr bezüglich der Ukraine an inhaltlicher Breite und Tiefe.
/ 7 Minuten zu lesen
Die Mediendebatte um Russlands Krieg gegen die Ukraine dreht sich seit fast zehn Jahren im Kreis und es fehlt ihr bezüglich der Ukraine an inhaltlicher Breite und Tiefe.
Die öffentliche Debatte um Russlands Krieg gegen die Ukraine dreht sich seit fast zehn Jahren im Kreis und es fehlt ihr bezüglich der Ukraine an inhaltlicher Breite und Tiefe.
Bereits im Jahr 2014 begann eine Diskussion um die Voreingenommenheit deutscher Medien bezüglich Russlands und der Ukraine, die ab 2022 mit der Debatte um den großflächigen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine einen neuen Höhepunkt erreicht hat. Kern ist die Frage, wie "russland-feindlich" bzw. "russland-freundlich" die Darstellung deutscher journalistischer Massenmedien ist.
Die eine Seite verlangt mehr Verständnis für die russische Sicht der Dinge, selbst wenn sie diese Sicht selbst oft nicht gutheißt, und behauptet durch Rücksichtnahme gegenüber russischen Interessen werde eine friedliche Lösung möglich. Die andere Seite befürchtet ein fatales Signal der Schwäche, welches Russland zu Aggression ermutigen werde und verlangt die Ukraine als Subjekt der internationalen Beziehungen ernst zu nehmen und die völkerrechtlich verbürgte und von Russland vertraglich akzeptierte territoriale Integrität der Ukraine wichtiger zu nehmen als russische Propaganda.
Bereits 2014 – im Kontext der als Euro-Maidan bekannt gewordenen Massenproteste, der russischen Annexion der Krim und dem folgenden militärischen Konflikt in der Ostukraine – warfen beide Seiten den deutschen Massenmedien vor, die jeweils andere Seite auf unverantwortliche Weise und mit potenziell fatalen Folgen für Deutschlands außenpolitische Situation zu bevorzugen. Ein Rückblick auf das Jahr 2014 hilft so auch bei der Einordnung der aktuellen Debatte.
Talkshows sind offensichtlich polemischer als Nachrichtensendungen, aber durch ihre Reichweite und die Produktion von "Gesprächsstoff" kommt ihnen für die öffentliche Meinung eine recht große Bedeutung zu. Bereits 2014 veröffentliche Fabian Burkhardt, damals als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität München, in den Ukraine-Analysen eine Auswertung der Gäste in acht Talk-Show-Formaten (Externer Link: https://laender-analysen.de/ukraine-analysen/135/die-ukraine-krise-in-den-deutschen-talkshows/) in öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern von November 2013 bis April 2014.
Es zeigt sich, dass bei Vertreter:innen deutscher Parteien auf Ausgewogenheit geachtet wird. Bei der Nationalität hingegen gilt dies nicht. Es wurden doppelt so viele russische wie ukrainische Staatbürger:innen eingeladen. Zentral ist aber natürlich die Auswertung der inhaltlichen Positionen der Talkshow-Gäste. Hier gilt für 2013/14, dass in Talkshows im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, die Gäste, die eine Entspannungspolitik gegenüber Russland vertraten im Vergleich zu denen, die eine "Eindämmung" Russland forderten, eindeutig in der Mehrheit waren. Dementsprechend gab es bei knapp einem Drittel der untersuchten Talkshows keine expliziten Fürsprecher:innen für die Ukraine. Russland wurde hingegen deutlich stärker unterstützt.
Trotzdem – oder vielleicht auch gerade wegen ihrer Präsenz in Talkshows – waren bereits damals die Stimmen, die von einer Diskriminierung russischer Positionen und einer russlandfeindlichen Stimmung sprachen, deutlich lauter.
Talkshows sind nicht nur polemischer als journalistische Berichterstattung, ihre Inhalte werden von Journalist:innen auch weniger stark kontrolliert. Eine umfangreiche Analyse der Berichterstattung großer deutscher Printmedien bietet die 2021 an der Universität Bamberg abgeschlossene und 2022 veröffentlichte Dissertation von Kinza Khan. Sie untersucht für zehn überregionale deutsche Tages- und Wochenzeitungen die Berichterstattung zur Ukraine und zur Rolle Russlands im Februar und März 2014, also im Zeitraum in dem die Massenproteste in Kiew mit der Flucht des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch endeten und Russland die Krim annektierte. Sie berücksichtigt dabei ausschließlich prominent platzierte Beiträge zum Thema, die von namentlich genannten Autor:innen verfasst wurden. Im Ergebnis hat sie 548 Artikel analysiert.
Auch hier ist der Ausgangspunkt die Dominanz des Vorwurfs einer Voreingenommenheit gegenüber Russland (nicht gegenüber der Ukraine), die sich z. B. auch in einer Stellungnahme des ARD-Programmbeirats zeigte (Khan, S. 17). Die Autorin stellt auch fest, "wie sehr der deutsche Blick auf und unser Wissen über die Ukraine durch den Blick auf und das Wissen über Russland sowie unser Verhältnis zu ihm bestimmt ist." (Khan, S. 7)
Kinza Khan gibt einen systematischen Überblick über die in der deutschen Debatte gegen die Medienberichterstattung gemachten Vorwürfe (Kapitel 2.5). In ihrer eigenen Analyse bezieht sie sich auf den Ansatz des Framing. Frames, im Deutschen auch als "Leitmotive" bezeichnet, bieten eine grundsätzliche Einordnung eines Themas einschließlich moralischer Bewertungen. Dadurch, so die Idee des Ansatzes, werden bestimmte Positionen in der Debatte legitimiert und andere diskreditiert.
Wenn z. B. allgemein von einer Voreingenommenheit gegenüber Russland geredet wird, dann werden Fürsprecher:innen der Ukraine sofort skeptisch wahrgenommen. Wenn der militärische Konflikt in der Ostukraine seit 2014 als Bürgerkrieg bezeichnet wird, dann ist wenig Platz für Berichterstattung über die Präsenz der russischen Armee oder die hohe Anzahl russischer Staatsbürger in der Führung der "Separatisten-Republiken". In ihrer eigenen Analyse erfasst Khan Frames für sechs Themenfelder (noch nicht für den Krieg in der Ostukraine, der erst nach ihrem Untersuchungszeitraum begann).
Im starken Unterschied zu den Talkshows zeigt sich bei den Printmedien – vor allem mit inhaltlichem Bezug auf die Krim-Annexion – eine kritische Position gegenüber Russland. Etwa 60 Prozent der Frames sind russland-kritisch, jeweils etwa 10 Prozent russland-freundlich (oder kritisch gegenüber dem Westen) bzw. plädieren für Ausgleich und Verständigung. Die russische Ankündigung der Krim-Annexion markiert hier einen Wendepunkt. Die Annexion wird eindeutig als Verstoß gegen das Völkerrecht thematisiert, wodurch ein Frame entsteht, der das russische Vorgehen als nicht zu rechtfertigen präsentiert. Dementsprechend wird in diesem Zusammenhang auch der Frame von Russland als autokratischem Staat oft verwendet. Trotzdem wird bei der Eskalationsverantwortung weiterhin differenziert. Nach Khans Auswertung beträgt das Verhältnis der Schuldzuweisungen an Russland und den Westen etwa 2:1. Bei der Diskussion um Sanktionen greift dann der Völkerrechts-Frame nicht mehr: Zustimmung und Ablehnung sind in der Berichterstattung der deutschen Printmedien etwa gleich stark.
Gleichzeitig zeigt sich, dass über innenpolitische Themen der Ukraine deutlich weniger berichtet wird. Zentraler Frame ist hier die "innere Spaltung der Ukraine". Gleichzeitig wird die Rolle ultra-rechter Kräfte in der Ukraine regelmäßig thematisiert. Während die Autorin mit diesen Ergebnissen "Vorwürfe des Verschweigens" zurückweist (S. 238), würde die Osteuropaforschung eher darauf hinweisen, dass hier russische Frames wiederholt wurden, die die Ukraine als "faschistisch" und als "kein echtes Land" beschreiben. Wie die Ergebnisse nationaler Wahlen in der Ukraine fünf Jahre später zeigten, basieren beide auf Fehleinschätzungen. Keine rechtsextreme Partei hat genug Stimmen für den Einzug ins Parlament erhalten und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und seine Partei erzielten jeweils überwältigende Wahlsiege in der gesamten Ukraine – ohne erkennbare Spaltung.
Die Autorin weist auch darauf hin, dass für die Ukraine "komplexe Zusammenhänge nicht auf breiter Ebene tiefergehend beleuchtet" werden (S.240), was viel damit zu tun haben dürfte, dass deutsche Journalist:innen in der Ukraine kaum noch vertreten waren und die deutsche Berichterstattung über Büros in Moskau oder Warschau erfolgte. Dies änderte sich erst wieder mit dem russischen Großangriff. Bereits Anfang März 2022 waren 25 deutsche Auslandskorrespondenten in der Ukraine. Ein Jahr später beschloss die ARD, ein Studio in Kiew zu eröffnen. Der Spiegel zum Beispiel war zu diesem Zeitpunkt mit fünf Journalist:innen in der Ukraine vertreten.
Die Bewertung der Rolle von Massenmedien orientiert sich vor allem am Ideal der Meinungsfreiheit und verlangt deshalb eine möglichst faire und ausgeglichene Wiedergabe unterschiedlicher inhaltlicher Positionen. Dabei stellt sich aber sofort die Frage, wessen inhaltliche Positionen zu berücksichtigen sind.
Während Kommentare im Internet und auf sozialen Medien von russischen "Trollfabriken" zugunsten der russischen Position verfälscht wurden und werden, zeigen repräsentative Meinungsumfragen, dass eher "russland-freundliche" Positionen in der deutschen Bevölkerung lange Zeit mehrheitsfähig waren und auch jetzt noch von einem großen Teil – wenn auch bei weitem nicht mehr der Mehrheit – unterstützt werden.
Die wissenschaftliche Osteuropaforschung ist sich hingegen weitgehend einig, dass Russland Kompromissbereitschaft als Schwäche interpretiert und dass die Ukraine das Völkerrecht auf ihrer Seite hat und deshalb Unterstützung verdient. Sie sieht deshalb eine "falsche Ausgewogenheit", wenn echter wissenschaftlicher Expertise eine populistische und inhaltlich nicht fundierte Position als gleichwertig gegenübergestellt wird. Die implizite Annahme ist dabei, dass fundierte inhaltliche Positionen, die auf jahrelanger wissenschaftlicher Beschäftigung mit der Region basieren, wichtiger sind als nur von Sorge oder Vorwürfen getragene Beiträge.
Wenn sich die Rolle der Massenmedien am Konzept der deliberativen Demokratie orientieren soll, bei der es nicht einfach um Meinungsfreiheit geht, sondern um eine sinnvolle inhaltliche Debatte, an deren Ende der beste Vorschlag sich durchsetzt, dann zeigt die Medienberichterstattung zur Ukraine und zur Rolle Russlands ganz klar die Grenzen dieser Idee für den deutschen Fall auf.
Wie die hier vorgestellten Analysen des Jahres 2014 zeigen, dreht sich die Debatte nunmehr seit zehn Jahren im Kreis. Durch den großflächigen russischen Angriffskrieg seit 2022 ist sie wieder lauter geworden, wirklich weiterentwickelt hat sie sich nicht. Immer noch wird in Talkshows prominent gefordert, dass die deutsche Außenpolitik mäßigend wirken soll, Verhandlungen mit Russland fördern soll und die Ukraine nicht zu sehr unterstützen solle, um die "weitere Eskalation" zu vermeiden. Immer noch ist die journalistische Berichterstattung vor allem damit beschäftigt, grobe Fehleinschätzungen zu den Motiven russischer Politik, zu Regeln des Völkerrechts oder zur Rolle von Sprache, regionaler "Spaltung" oder Rechtsextremismus in der Ukraine zu thematisieren.
Die öffentliche Debatte kann deshalb nicht den dringend erforderlichen nächsten Schritt machen. Wie Khan bereits für die Berichterstattung 2014 konstatiert, fehlt es bezüglich der Ukraine an inhaltlicher Breite und Tiefe. Vor allem aber werden durch die Fokussierung auf das Für und Wider von "Waffenstillstand jetzt!" in die Zukunft weisende Fragen ausgeblendet. Wie kann die Ukraine die vielen Belastungen und Zerstörungen durch permanente russische Angriffe überstehen? Wie soll eine europäische Sicherheitsordnung aussehen, die Russlands Nachbarstaaten auch außerhalb der NATO ein friedliches Weiterleben ermöglicht? Was bedeutet Russlands Angriffskrieg für die NATO, was die Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine für die EU? Was bedeutet die Tatsache, dass Russlands Präsident Wladimir Putin bei einem Besuch in Deutschland wegen Kriegsverbrechen verhaftet werden müsste, für die weiteren Verhandlungen mit ihm? Die Liste dieser Fragen ist lang. Versuche einer Antwort finden sich bisher vor allem in wissenschaftlichen Zeitschriften, kaum in journalistischen Medien. Für eine sinnvolle Diskussion der Lage sind sie aber unverzichtbar.
Prof. Dr. Heiko Pleines leitet die Abteilung Politik und Wirtschaft der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen.