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"Können Schmetterlinge traurig sein?" – Interessengeleitetes Lernen im Unterricht | Digitale Didaktik | bpb.de

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"Können Schmetterlinge traurig sein?" – Interessengeleitetes Lernen im Unterricht

Michaela Rastede Sophia Suckel

/ 8 Minuten zu lesen

Auf die individuellen Interessen und Begabungen von Schülerinnen und Schülern einzugehen – das macht interessengeleitetes Lernen möglich. Über Potenziale und Herausforderungen von interessengeleitetem Lernen sprechen wir mit Michaela Rastede, Projektleitung der "Digitalen Drehtür".

Die Digitale Drehtür öffnet Türen für interessengeleitetes Lernen. (© Caro Guarnizo)

Was ist interessengeleitetes Lernen?

Michaela Rastede: Wenn Kinder etwas lernen, das ihren Interessen entspricht, haben sie noch einmal eine ganz andere Motivation, sich damit zu beschäftigen. Genau das ist Ziel und Voraussetzung für das interessengeleitete Lernen: Wir wollen Kinder auf ihren Interessengebieten zu kleinen Expertinnen und Experten machen. Und zwar so, dass wir dieses Interesse nicht nur als Funken nutzen, sondern langfristig. Die Kinder sollen für ihr Thema brennen, sie sollen dranbleiben und aus diesem Interesse Expertise gewinnen, daraus vielleicht sogar ein Spezialgebiet machen. Das ist das, was wir in der heutigen Zeit brauchen: Kinder, die kreativ sind und Interessen für gesellschaftliche und persönliche Probleme in Lösungen verwandeln.

Für wen ist interessengeleitetes Lernen geeignet?

Michaela Rastede: Für jedes Kind. Wir gehen von einem multidimensionalen Begabungsbegriff aus und orientieren uns an der Münsterschen Empfehlung. Zielgebend ist der Erziehungswissenschaftler Howard Gardner. Ihm zufolge geht es nicht um den IQ, Intelligenz oder Fachlernen, sondern um die Potenziale der Kinder. Denn es gibt in jedem Kind bestimmte Potenziale, die in den unterschiedlichsten Bereichen schon angelegt sind, aber im regulären Unterrichtssetting nicht zum Tragen kommen, weil Schule meist in der Fachlichkeit bleibt. Wenn beispielsweise eine neunte Klasse ein halbes Jahr lang die Lernzeit im Deutschunterricht nutzt, um gemeinsam mit einer Regisseurin ein Theaterstück zu erarbeiten, werden Talente in viel mehr Dimensionen gefördert als in einem Deutschunterricht, der sich klassisch an einem Buch orientiert.

Eigentlich sind alle Kinder gleichwertig begabt – aber in unterschiedlichen Bereichen. Die Frage ist jetzt, was wir in der Schule lehren und welche Standards wir damit anlegen, um wissenschaftliche oder wirtschaftliche Karrieren auf den Weg zu bringen. Denn als Gesellschaft brauchen wir alle Begabungen: Wir brauchen auch die künstlerischen, die kreativen, die sozialen und die emotionalen Kompetenzen. Das ist wichtig und dem kann in der Schule nicht genug Rechnung getragen werden. Dabei fängt es in der Kita gut an, geht in der Grundschule meistens gut weiter, aber spätestens, wenn es um Abschlüsse, also um Leistung geht und Noten eine Rolle spielen, wird diesem kreativen, emotionalen und künstlerischen Potenzial der Schülerinnen und Schüler kaum mehr Rechnung getragen. Ich verstehe, dass wir Normen und Mindeststandards brauchen, um Abschlüsse zu generieren. Doch so wie es jetzt läuft, wird Bildung weder der Welt noch den Kindern gerecht.

Wie wurde interessengeleitetes Lernen an Ihrer Schule eingesetzt?

Michaela Rastede: Das interessengeleitete Lernen bzw. das forschende Lernen beginnt im Optimalfall mit großen philosophischen Fragen, die man dann auf vielerlei Ebenen erforscht. An der Schule, an der ich in der Schulleitung war, bekamen die Kinder Zeit, ihr eigenes Interesse in Form einer grundlegenden großen Frage zu formulieren. Das kann zum Beispiel die Frage sein: "Können Schmetterlinge traurig sein?" Danach wurde den Kindern ausreichend Zeit zur Verfügung gestellt, diese Frage bis in die Tiefen hinein zu betrachten und zu bearbeiten. Auf Grundlage so einer großen Fragestellung entwickeln sie am Ende im Idealfall ein Produkt: Das kann eine Powerpoint-Präsentation sein, aber noch viel besser ist eine praktische Aktion, wie beispielsweise ein Bienenstock im Schulgarten, ein Theaterstück oder ein Flashmob. Damit aus einer theoretischen Fragestellung etwas Praktisches wird, muss in der Schule viel vorgearbeitet werden. Bei mir an der Schule haben wir am Anfang mit einer Mindmap gearbeitet. Diese haben wir im Forschertagebuch der Kinder angelegt, was sie durch die Zeit des Projektlernens, also ein halbes Jahr, begleitet hat. Und während des ganzen Prozesses konnten die Kinder prototypische Lösungen generieren, diese testen und das Ergebnis vorstellen.

Das kann zum Beispiel so aussehen: Ich hatte ein Mädchen in meiner Klasse, bei ihr fing es z.B. mit der Frage "Warum wächst der Brotteig?" an und am Ende hat sie Hefebakterien als MINT-Thema für sich entdeckt. Und die Frage, die sich für sie dann angeschlossen hat, war: "Ist ein Bakterium ein Lebewesen? Und wenn ja, hat es Gefühle?" Man wird also nie fertig. Denn interessengeleitetes Lernen ist vor allem lebenslanges Lernen.

Die "Digitale Drehtür"

Die "Digitale Drehtür" ist ein länderübergreifendes, unterrichtsergänzendes Bildungsangebot. Sie bietet Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, ihre individuellen Interessensgebiete durch digitale und kostenlose Lernangebote zu entdecken und zu entfalten. Dabei setzt das Angebot auf den Interner Link: Blended-Learning-Ansatz. Viele der Lehrmaterialien wurden an der Justus-Liebig-Universität Gießen, der Universität Bremen und der Philipps-Universität Marburg entwickelt. Initiator der Digitalen Drehtür ist das Landesinstitut für Schule Bremen, daran mitgearbeitet haben Vertreterinnen und Vertreter aus acht Landesinstituten.

Welche Vorteile sehen Sie im interessengeleiteten Lernen im Vergleich zum klassischen Frontalunterricht?

Michaela Rastede: Meine frühere Schule steht in herausfordernder Lage – früher nannte man sie Brennpunktschule. Ich habe dort viele sozial benachteiligte Kinder erlebt, auch solche, die geflüchtet sind und keine perfekten Sprachkenntnisse hatten. Das forschende, interessengeleitete Lernen ist hier eine der besten Möglichkeiten, Kindern, die nicht die optimalen Voraussetzungen haben, sprachlich teilhaben zu lassen. Es bietet ihnen die Chance, in ihrer Sprache zu denken und zu lernen. So konnten wir ihnen die Möglichkeit geben, sich mit ihrem eigenen Interessengebiet in ihrer Sprache zu beschäftigen. Alle Kinder sollten lernen dürfen, auch wenn sie die Sprache nicht perfekt verstehen. Außerdem haben wir festgestellt, dass viele Kinder, die eigentlich komplett unter ihrem Potenzial bleiben und eigentlich viel mehr leisten könnten, durch das interessengeleitete Lernen wieder einen Motivationsschub bekommen. Weil es zum ersten Mal um sie selbst und ihre Interessen geht. Und dann haben wir auch Kinder erlebt, die im Unterricht unterfordert sind und Vieles schon wissen oder verstanden haben. Auch diese Kinder konnten mit dem interessengeleiteten Lernen aufgefangen und gefördert werden, weil sie basierend auf ihren eigenen Kompetenzen und ihrem Wissensstand weiter und tiefer lernen durften.

Welche Voraussetzungen braucht interessengeleitetes Lernen von Seiten der Lehrenden und Lernenden?

Michaela Rastede: Eigentlich beginnt es bei der Haltung. Wenn wir einen Kollegen in der Schule fragen, ob er für interessengeleitetes Lernen ist, wird jeder sagen: "Ja, auf jeden Fall." Wenn wir dann aber fragen: "Bist du damit einverstanden, dass das Kind deinen Fachunterricht verlässt, um seinen Interessen nachzugehen?" Dann wird es schon schwierig. Es wird in Schule noch viel zu viel in Fächern gedacht, die schon so in die Gene des Pädagogen übergegangen sind, dass er sich nicht vorstellen kann, dass es notwendig ist, sich zu fragen: Was braucht es, um Verantwortung fürs Lernen an das Kind zurückzugeben?

Michaela Rastede vom Landesinstitut für Schule in Bremen. (© privat)

Partizipation und Demokratie sind etwas, das wir im Bildungswesen an sehr vielen Stellen vermissen. Zu häufig ist die Haltung: Das System oder der Lehrer wissen am Besten, was für die Schülerin oder den Schüler wichtig ist zu lernen. Inklusives und zugleich begabungsgerechtes Lernen funktioniert aber nur in der Personorientierung. Dazu gehört die Interessenorientierung und die Akzeptanz des freien Willens. Daher ist es eine Frage des Mutes, den Kindern das Recht zu geben, Verantwortung für das eigene Lernen zu übernehmen, und zwar so früh wie möglich und nicht erst, wenn sie im Studium merken: Ich habe in der Schule nicht gelernt, selbstgesteuert zu lernen.

Wie kann interessengeleitetem Lernen im Unterricht genug Raum gegeben werden?

Michaela Rastede: Es gibt viele Schulen, an denen das nicht so einfach möglich ist. Bei uns wurde ein ganzer Tag dafür eingeräumt. Wir konnten dadurch alle Fachräume öffnen und die Mitarbeitenden der Schule als Expertinnen und Experten einbinden: Der Koch ist ebenso ein Experte wie die Sekretärin, der Hausmeister und auch jeder Lehrer dieser Schule ist ein Experte. Das kann oder möchte jedoch nicht jede Schule ermöglichen.

Daher wollen wir mit der Digitalen Drehtür den digitalen Weg gehen: Wir begleiten die Kinder in ihrem interessengeleiteten Lernen, indem wir ihnen digital die Türen öffnen. Unser Fokus liegt hier vor allem auf Themen, die Kinder ernsthaft interessieren. Diese Themen erfragen wir auch in unseren fast 400 Partnerschulen. Was sich Kinder aus echten Interesse aneignen, bleibt länger hängen und sie werden es in ihrem Leben vielleicht sinnvoll nutzen, um sich für ein Thema einzusetzen, auch wenn es anstrengend wird.

Welche Möglichkeiten bieten digitale Tools wie die Digitale Drehtür für interessengeleitetes Lernen? Und welche Herausforderungen gibt es?

Michaela Rastede: Die aktuellen Entwicklungen zu KI und ChatGPT zwingen uns gerade, über digitale Tools und ihren Einsatz im Unterricht nachzudenken. Wir sollten versuchen, Kinder mit allem auszustatten, was sie brauchen, um in dieser KI-Welt zurechtzukommen und uns dabei nicht an einem veralteten Verständnis von Bildung, sondern an der Lebensrealität der Kinder zu orientieren. Es ist wichtig, Kindern diese digitalen Tools als ein selbstverständliches Mittel zur Verfügung zu stellen, sowohl zum Lernen als auch um sich selbst weiterzuentwickeln, wie Stift oder Papier. Natürlich immer kritisch hinterfragt. Digitalität spart vor allem Zeit und diese Zeit können Kinder dann nutzen, um in der analogen Welt kreativ zu sein, die Natur zu entdecken und gemeinsam mit anderen daran zu arbeiten, Probleme zu lösen.

Deswegen greifen wir in der Digitalen Drehtür Themen auf, die sich in die reale Lebenswelt der Kinder zurückspiegeln lassen. Wir wollen diese Themen mit Emotionen anreichern, sie positiv erlebbar machen und fast haptisch abbilden. Es gibt deswegen viele Kurse, in denen Kinder zwar am PC sitzen und gleichzeitig kreativ sind, mit Aquarell, Bullet Journals oder Roboter. Wir bringen das analoge Leben in die digitale Welt, ohne das mit Sinnen Erlebbare zu verlieren. Besonders schön am Digitalen ist es, dass Kinder aus vielen Bundesländern und sogar im Ausland bei der Digitalen Drehtür zusammen lernen, an ihrem gemeinsamen Thema arbeiten und auch gemeinsam ein Projekt umsetzen. Jedes Kind für sich, aber im Austausch. Genauso wie es auch in der modernen Arbeitswelt ist. Nicht alle Kollegen leben an einem Ort. Auch wir im Team der Digitalen Drehtür leben verstreut in Deutschland und arbeiten erfolgreich zusammen. Und dafür müssen wir auch die Kinder befähigen. Bis vor Kurzem taten wir in der Schule oft noch so, als ob die Kinder alle irgendwann mal in einem Betrieb sitzen und auf Papierblöcke schreiben würden. Ich denke, das ist eine völlig falsche Vorstellung.

Gibt es vergleichbare Projekte zur Digitalen Drehtür?

Michaela Rastede: Wir sind das einzige ministerielle "Bildungs-Startup", das sich im Regelunterricht etabliert, das ist absolut einzigartig im deutschsprachigen Raum. Auf unserer eigenen Plattform stellen verschiedene Bundesländer ihre Angebote ein, viele davon werden von deren Universitäten in der Lehrerausbildung entwickelt. Unsere Partnerschulen können sich mit Einwilligung der Kultusministerien registrieren und erhalten einen Link, damit deren Schülerinnen und Schüler Zugriff auf alle Kurse erhalten. In der Digitalen Drehtür gibt es Selbstlernkurse, Livekurse, überfachliche und fachliche Projekte sowie Kurse basierend auf Unterrichtsfächern. Im April 2023 wird die Digitale Drehtür für alle zwölf kooperierenden Bundesländer geöffnet.

Das Interview führte Sophia Suckel.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die Münstersche Empfehlung zur Förderung begabter Kinder und Jugendlicher wurde von der Karg-Stiftung und der ICBF-Stiftung formuliert. Sie bezieht sich auf die am 11. Juni 2015 von der Konferenz der Kultusminister (KMK) verabschiedete "Förderstrategie für leistungsstarke Schülerinnen und Schüler". Im Zentrum stehen dabei die Bedürfnisse aller Schülerinnen und Schüler, wobei Inklusion so verstanden wird, dass alle die ihren Lernbedürfnissen entsprechenden individuellen Angebote erhalten.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-SA 4.0 - Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International" veröffentlicht. Autoren/-innen: Michaela Rastede, Sophia Suckel für bpb.de

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Ursprünglich Deutschlehrerin, Schulleiterin und Sonderpädagogin, leitet Michaela Rastede seit 2018 die Vernetzungsstelle "Begabungsförderung Bremen" im Landesinstitut für Schule in Bremen. Ihre Schwerpunkte sind Unterrichtsentwicklung, Networking, Innovation und modernes Projektmanagement im Kontext Schul- und Kitaentwicklung.

Sophia Suckel unterstützt die Werkstatt-Redaktion seit September 2022. Sie studierte in Stuttgart Public Relations (B.A.) und Corporate Communications (M.A.) und interessiert sich insbesondere für Medienpädagogik, Gamification, Online-Kommunikation und Nachhaltigkeit.