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Der Experimentalfilm als Mittler zwischen Kunst und Film Grenzgänge - Filmvermittlung und bildende Kunst

Dirk Schaefer

/ 5 Minuten zu lesen

Die Hochzeit der Avantgarde-Kunst fällt mit den Anfängen des Mediums Film zusammen. Was aber können wir von der bildenden Kunst über den Film lernen? Dirk Schaefer über den Blick des Einen auf das Andere.

Die Filmavantgarde begann schon früh das Medium Film durch sich selbst zu reflektieren. Eine Szene aus Dziga Vertovs "Der Mann mit der Kamera" von 1929. © absolut MEDIEN (© absolut medien )

Kunst des 20. Jahrhunderts ist häufig schwer vermittelbar. Dies mag mit dem Paradox zu tun haben, dass sie vom Betrachter einerseits direkte Reaktionen fordert, andererseits ohne Hintergrundwissen oft unverständlich bleibt. Denn der programmatische Bruch avantgardistischer Kunst mit der Tradition ist auch einer mit dem Vermittlungszusammenhang Kunstgeschichte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts öffnet die Avantgarde sich einer Gegenwart, die bereits von Massenmedien geprägt ist, und entdeckt den Film für sich: die technisch fortschrittlichste Kunst und zugleich ein "primitives" Jahrmarktspektakel. Zu behaupten, die Avantgardekunst sei aus dem Geist des Films entstanden, wäre sicherlich übertrieben, aber es fällt doch auf, wie viele Künstler seit etwa 1920 verkündeten, "filmisch" oder im "Kinostil" zu arbeiten.

In Umkehrung eines solchen, schon oft beschrittenen Weges zum Verständnis moderner Kunst bewegt sich die Vermittlung, um die es hier gehen soll, gewissermaßen in der Gegenrichtung, nämlich von der Kunst zurück zum Film. Denn wer ostentativ "filmisch" malt, hat vermutlich eine Idee davon, was das ist, das Filmische; er oder sie hat vielleicht sogar eher den Blick für das Wesentliche als Fachleute, die den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass bildende Künstler aus verschiedenen Generationen der Avantgarde immer wieder versucht haben, das Geschenk des Kinos an die Kunst zu erwidern. Ihre kritische Hommage bestand in der Anmaßung, dem Film das Filmische zurückzugeben. Moderne Kunst und das Medium Film stehen also ohne Frage in einem Verhältnis zueinander, das für die Vermittlung von Film eine andere Betrachtung des Mediums Film ermöglicht: Den Blick der bildenden Kunst auf das Medium Film.

Auf der Suche nach dem Nullpunkt des Kinos

Auf dem Weg vom Jahrmarkt zum Filmpalast, vom frühen Kino zum abendfüllenden Spielfilm hatte sich der Film als Medium gewissermaßen selbst aus den Augen verloren, so die Überzeugung der meisten Avantgardisten in den 20er Jahren; das eigentlich Filmische sei von Literatur- und Theaterelementen verdrängt worden. Kurzentschlossen nahmen einige Künstler das Zelluloid selbst in die Hand und begaben sich auf die praktische Suche nach dem "absoluten" Film – dem Film in seiner reinsten Form. Es entstanden kurze Streifen, teils an abstrakter Malerei orientierte Animationen elementarer geometrischer Formen. Sie beweisen zwar nicht unbedingt, was ihre Regisseure glaubten (dass nämlich Licht, Bewegung und/oder Rhythmus das einzig wahre "Wesen" des Filmischen ausmachen), vermitteln aber doch eine wichtige Einsicht: Es sind Filme möglich, die ohne Erzählung, ohne fotografische Wiedergabe der Realität, ja ohne Kamera auskommen. Und so stehen manche dieser "Filmstudien" bildender Künstler heute auf dem Lehrplan von Film Studies an der Universität.

Einer der ersten dieser Künstlerfilme erklärte den Streit um das Filmische schon im Titel für beendet: "Film ist Rhythmus" von 1921 (R: Hans Richter). Dabei war dies erst der Beginn einer mal systematischen, mal subjektiven Befragung des Kinos von seinen Grenzen, seinen Rändern oder seinem "absoluten" Nullpunkt her, die Gründung eines eigenen Genres zwischen Kunst und Film. Diese kritische, Avantgarde- oder Experimentalfilm genannte Tradition bewahrt sich den Blick von außen auf das Kino – ein gewisses grundsätzliches Befremden angesichts dessen, was aus dem einstigen Hoffnungsträger geworden ist.

Seziertisch und Nähmaschine

Manche Avantgardisten sahen im Film weniger die Utopie einer reinen als vielmehr eine "primitive" Kunst, die durch Kontamination mit Hochkultur vom Aussterben bedroht war. Wenn die Filmprogramme des frühen Kinos die Sensationen unvermittelt aufeinanderprallen ließen, so kam dies dem surrealistischen Collage-Ideal, der "unvermuteten Begegnung eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf einem Seziertisch" (Lautréamont), schon recht nah. Doch die Entwicklung des abendfüllenden Spielfilms und der sogenannten Filmsprache machte genau diese Qualität zunichte, indem sie die poetischen Ungereimtheiten des Jahrmarktkinos durch "unsichtbare" Schnitte kaschierte. Aus der surrealistischen Tradition entwickelte sich dagegen die künstlerische Praxis der Aneignung gefundenen Filmmaterials. Der sogenannte Collage- oder Found-Footage-Film wirft sozusagen einen "bösen Blick" auf das Kino. Unter diesem analytisch-zersetzenden Blick werden die Klebestellen, auf denen filmisches Erzählen beruht, wieder sichtbar. Dazu brauchte man keine Kamera, lediglich belichtetes Filmmaterial und einen handelsüblichen Schneidetisch – jene Apparatur, die den Seziertisch mit der Nähmaschine vereint.

Im Idealfall (so der Experimentalfilmer Peter Tscherkassky) beobachtet der Betrachter eines solchen Found-Footage-Films sich selbst bei der Produktion von Bedeutung. Das Lehrbeispiel hierfür ist Bruce Conners kurzer Film "A movie", produziert 1958 als Teil einer Einzelausstellung des kalifornischen Künstlers, in der ansonsten Collagen und Assemblagen zu sehen waren. Der passionierte Flohmarktbesucher Conner präsentiert in "A movie" seine Sammlung aussortierter Spiel- und Lehrfilme, Erotica und Wochenschauen. Zusammengeschnitten erinnern diese Fragmente ein wenig an einen Kinotrailer, an die spektakuläre Vorschau auf einen künftigen "universalen Film" voller Sensationen und Exotismen. In Riesenlettern wiederholt der komplett geklaute Film zu jubilierender Musik immer wieder die Behauptung, es handele sich um "A movie by Bruce Conner". Berühmt geworden ist eine besonders suggestive Schnittfolge: Ein U-Boot-Kapitän blickt in einem Spielfilm durch sein Periskop; Schnitt auf ein spärlich bekleidetes Marilyn-Monroe-Double aus einem erotischen Film; Schnitt auf Unterwasserbilder vom Abschuss von Torpedos. Allein durch die Montage macht Conner in seinem Material eine verborgene Dimension sichtbar, und das Periskop wird zum Platzhalter der voyeuristischen Sehmaschine Kino.

Durchlässige Grenzen

Von Conner gelernt haben viele, nicht nur experimentelle Filmemacher. Die Found-Footage-Arbeiten des österreichischen Künstlers Gustav Deutsch, eines gelernten Architekten, knüpfen an Conners Montagestil an, doch das Material ist hier weniger "gefunden" als aufwändig recherchiert. Für das mehrteilige, noch nicht abgeschlossene Projekt "Film ist." (1998 ff.) recherchiert Deutsch in verschiedenen europäischen Filmarchiven; er versammelt, kategorisiert und montiert Material aus den ersten Jahrzehnten des Kinos in systematischer, ja didaktischer Manier, mit dem Gestus eines Archivars, der sich in den Kopf gesetzt hat, die sich widersprechenden Thesen zum Wesen des Mediums kapitelweise zu demonstrieren: "Film ist Licht und Bewegung", "Film ist Material" etc. Doch bei näherem Hinsehen wird klar, dass jedes der "Beispiele" ein störrisches Eigenleben führt und ebenso viele Fragen aufwirft wie es beantwortet. "Film ist." demonstriert einen systematisierten Found-Footage-Ansatz – nun nicht mehr als Kunst in großen Lettern, sondern Film als eine Kulturtechnik, die Überraschung und damit Erkenntnis ermöglicht. Die Arbeiten Gustav Deutschs bewegen sich zwischen Galerie und Kino mit der heute üblich gewordenen Leichtigkeit. An ihnen zeigt sich aber auch, dass eine weitere Grenze durchlässig geworden ist: die zwischen Kunst und Wissenschaft. Damit dockt die Found-Footage-Tradition an zeitgenössische Diskussionen um künstlerische Forschung an. Am Ursprung des Kinos, das lernen wir bei Deutsch, steht neben dem Jahrmarkt das Labor; und plötzlich sieht sich die Filmwissenschaft konfrontiert mit ihrem Spiegelbild, dem Wissenschaftsfilm. Wenn sich heute im Begriff des Experiments als "Überraschungsgenerator" Kunst, Film und Wissenschaft sowohl begegnen und befruchten als auch in Frage stellen, wird die Filmvermittlung daran kaum vorbeikommen.

Fussnoten

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Dirk Schaefer lebt als Komponist und freier Autor in Berlin. Er ist Kolumnist der Zeitschrift "Cargo" und hat u.a. an den preisgekrönten Experimentalfilmen "The Memo Book" und "Home Stories" Matthias Müllers mitgearbeitet.