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Menschen unter dem Terror des Nationalsozialismus: Zwangsarbeit in Gersthofen

Annegret Ehmann

/ 4 Minuten zu lesen

Schülerinnen und Schüler der elften Klasse sammelten auf Anregung ihres Geschichtslehrers und gegen Widerstände der Stadtverwaltung regional- und lokalhistorische Fakten zum Thema Zwangsarbeit in Gersthofen. Sie veröffentlichten die Ergebnisse ihres Projekts mit einer Ausstellung, einer Broschüre und in einer Internetpräsentation. Die Schülerinnen und Schüler sammelten darüber hinaus Geld für einen "privaten Entschädigungsfonds" zu Gunsten der in Gersthofen beschäftigten Zwangsarbeiter.

Eine Stechkarte aus dem Konzentrationslager Buchenwald mit den persönlichen Angaben des russischen Zwangsarbeiters Nikolaj Tupikin. (© AP, Jens Meyer)

Die Schülerinnen und Schüler einer 11. Klasse des Paul-Klee-Gymnasiums in Gersthofen/ Bayern untersuchten das Schicksal der Augsburger Familie Pröll. Josef und Fritz Pröll wurden als Widerstandskämpfer in Gefängnissen und KZ-Lagern eingesperrt. In einem Gespräch mit der Zeitzeugin Anna Pröll erfuhren die Schülerinnen und Schüler, dass ihr Schwager Fritz Pröll im Konzentrationslager Dora den Freitod gesucht hatte, um nicht Mithäftlinge denunzieren zu müssen.

Im KZ Dora wurden unter unmenschlichen Bedingungen die berüchtigten V-2 Raketen von Zwangsarbeitern produziert. Verantwortlich für die Entwicklung der V-2 Rakete war der Raumfahrttechniker Wernher von Braun. Der Treibstoff der V-2 Rakete wurde unter anderem in dem Gersthofener Rüstungsunternehmen "Transehe", einer Tochter der IG Farben produziert. Dort arbeiteten unter anderem italienische Militärinternierte, die unter schlimmsten Bedingungen in einem Zwangsarbeiterlager am Rande Gersthofens inhaftiert waren.

Aus diesen regionalgeschichtlichen Bezügen ergaben für die Schülerinnen und Schüler vier zu untersuchende Themen:

  • Zwangsarbeit in Gersthofen,

  • Die Familie Pröll im Widerstand,

  • Die Rolle Wernher von Brauns bei der Produktion der V2-Rakete,

  • Das KZ Dora.

Dass es in Gersthofen eine Wernher-von-Braun-Straße gab, spornte die Schülerinnen und Schüler zur Ausweitung ihrer Projektarbeit an. Schließlich bedeutete der Straßenname eine permanente Provokation für die Familie Pröll, deren Angehöriger im KZ Dora zu Tode gekommen war. Mehrere Versuche der Familie Pröll bei der Stadt Gersthofen eine Umbenennung dieser Straße zu erwirken, waren gescheitert, wie die Schülerinnen und Schüler erfuhren. Ebenso motivierend war die Tatsache, dass sich in ihrer Heimatstadt im Zweiten Weltkrieg ein Zwangsarbeiterlager befand.

Probleme mit dem Zugang zu Archivmaterial

Die Schülerinnen und Schüler begannen ihre Recherchen in den einschlägigen Kirchenarchiven, im Stadtarchiv Augsburg, in Firmenarchiven und im Augsburger Staatsarchiv. Das wichtigste Archiv war jedoch das Gersthofener Stadtarchiv. Doch der Bürgermeister verweigerte die beantragte Nutzungserlaubnis mit Verweis auf schutzwürdige Interessen verstorbener Gersthofener Bürger. Diese seien über die Forschungsinteressen von "unmündigen" Schülerinnen und Schülern zu stellen, lautete die Begründung. Zudem bestünde die Gefahr einer nicht objektiven Behandlung des Themas Zwangsarbeit.

InfoMethodensteckbrief

  • Teilnehmerzahl: Klassenverband (ca. 25 Schüler)

  • Altersstufe: Sekundarstufe II/ 11. Klasse Gymnasium

  • Zeitbedarf: Außerunterrichtlich und unterrichtsbegleitend, 1 Schuljahr

  • Preis (ohne Fahrten): Nicht ermittelbar

  • Benötigte Ausstattung: PCs mit Internet-Browser, gängige Office-Software, Software für Bildbearbeitung, Materialien für die Präsentation einer Ausstellung

Der Lehrer legte Widerspruch gegen den Bescheid ein. Auch Zeitungen, Fernsehen und Rundfunk nahmen sich des Falls an. Im Mai 2001 beantragten der Lehrer und seine Schülerinnen und Schüler beim Augsburger Verwaltungsgericht eine einstweilige Verfügung auf Zugang zum Stadtarchiv Gersthofen. Am 12. Juni 2001 erging das Urteil, womit dem Antrag des Lehrers und seiner Schülerschaft in vollem Umfang stattgegeben wurde.

Das Verwaltungsgericht folgt der Argumentation der Antragsteller, dass gerade durch die Recherche im Archiv die Datenbasis über die Thematik wesentlich präzisiert werden könne. Damit konnte die entscheidende Archivarbeit beginnen.

Nachdem ZDF, Bayerischer Rundfunk, der Stern, Süddeutsche Zeitung, Bild-Zeitung und Die Welt auf das Projekt aufmerksam geworden waren, sahen die Schülerinnen und Schüler es geradezu als ihre Verpflichtung an, nicht nur ordentliche, sondern überragende Arbeit zu leisten.


Widerstand und Unterstützung

Zu den vier Themen kam nun noch ein weiteres, nämlich der Umgang einer Stadt mit ihrer Geschichte. Nicht jedermann im Ort wollte den Schülerinnen und Schülern Auskunft geben, viele lehnten eine Zusammenarbeit kategorisch ab. Einige beschimpften insbesondere den Lehrer als "Nestbeschmutzer". Der Gipfelpunkt war eine anonyme Aufforderung zum Mord an ihm: "Schlagt ihn tot, möglichst bald!".

Die Projektgruppe ließ sich nicht von ihrem Ziel abbringen. Ihre Arbeiten gingen weit über den Unterricht hinaus: In der Freizeit, den Ferien und an zahllosen Nachmittagen studierten und scannten sie die gefundenen Dokumente, recherchierten im Internet und schrieben ihre Texte für die Ausstellung. Zusätzlichen Auftrieb gaben ihnen ermutigende Zuschriften aus ganz Deutschland. Finanzielle Unterstützung bekamen sie von der Theodor-Heuss-Stiftung.

Die Schülerinnen und Schüler wollten jedoch nicht nur eine historische Arbeit leisten, sondern auch ein Zeichen der Versöhnung setzen und ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter nach Gersthofen einladen. Die Archivquellen hatten ihnen die Perspektive der Täter vermittelt, nicht jedoch die traumatischen Erlebnisse der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sowie ihre Verarbeitung von Leid und Unrecht.

Die Jugendlichen nahmen daher Kontakt mit noch lebenden Zwangsarbeitern in Russland, der Ukraine, Polen, Italien und Frankreich auf. Nach aufwändigster logistischer Arbeit machten die Schülerinnen und Schüler vier ehemalige Zwangsarbeiter aus der Ukraine ausfindig, die früher in Gersthofen bzw. in der Region gearbeitet hatten, organisierten deren Reise nach Deutschland und stellten ein Programm für die Gäste zusammen.

Einem Mitschüler gelang es, einen ehemaligen französischen KZ-Häftling aus Dora dazu zu bewegen, zur Ausstellungseröffnung nach Gersthofen zu kommen. An der Ausstellungseröffnung am 18. Oktober 2001 konnten somit fünf ehemaligen Zwangsarbeiter teilnehmen.

Durch die Übereichung von Geldbeträgen als symbolische Entschädigung, die der Schulklasse und ihrem Lehrer auf Grund der Forschungen gespendet wurden, wollten die Schülerinnen und Schüler ein Zeichen der Entschuldigung an dem an den Zwangsarbeitern von Gersthofen verübten Unrecht setzen.

2002 wurde ein erheblicher Teil des gesammelten und gespendeten Geldes in der Ukraine Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern überreicht, die aus gesundheitlichen oder anderen Gründen nicht nach Gersthofen kommen konnten.

Ausweitung des Projekts

Die Projektarbeit zur Zwangsarbeit wurde 2002 in einer 92-seitigen Broschüre veröffentlicht. Der Verkauf des Buches zeigte, dass ein enormes Interesse am Thema bestand.

Auch dann war das Engagement für das Projekt nicht beendet. Mit dem Erlös der Publikation wurde ein "Zukunftsfonds" für die früher in Gersthofen tätigen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter errichtet, denn es wurden nach der Ausstellung weitere noch in der Ukraine lebende Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ausfindig gemacht. Die Ausstellung wurde auch in anderen Teilen Deutschlands gezeigt und erhielt mehrere Auszeichnungen. Die Forschungsarbeiten werden bis heute fortgesetzt und sind auch ausgeweitet auf die italienischen Militärinternierten.

Annegret Ehmann ist Historikerin und Pädagogin und seit 2001 freiberufliche Dozentin mit dem Schwerpunkt politische Bildung. Sie hat im Jahr 2000 an der Erstellung der CD-ROM "Lernen aus der Geschichte" mitgewirkt und ist Mitglied des Vereins Externer Link: Lernen aus der Geschichte e.V..