Wirkt Familienpolitik auf die Geburtenrate?
Was bewegt Menschen dazu, Kinder zu bekommen? Mehr Kindergeld? Bessere Betreuung? Die Geburtenrate in Deutschland ist seit langem niedrig. Damit bleibt der demografische Wandel ein zentrales Thema – besonders für die Familienpolitik. Zunehmend werden familienpolitische Maßnahmen daran gemessen, ob sie zu mehr Kindern führen. Martin Bujard skizziert die Risiken, wenn sich Familienpolitik zu sehr an der Geburtenentwicklung orientiert. Der Politikwissenschaftler zeigt, dass Familienpolitik langfristig die Geburtenentwicklung beeinflussen kann. Jedoch sind der kulturelle Kontext und das Zusammenspiel mehrerer Maßnahmen entscheidend. Daher lässt sich die Geburtenrate nicht steuern.
Die Geburtenraten sind in Deutschland seit mehreren Jahrzehnten sehr niedrig – mit vehementen Folgen, insbesondere für die Sozialsysteme. Für viele Politiker stellt sich daher die Frage, ob und wie familienpolitische Maßnahmen junge Menschen dazu bewegen können, mehr Kinder zu bekommen. Diese Frage war in Deutschland lange ein Tabu. Es war die damalige Familienministerin Renate Schmidt, die 2003 die niedrige Geburtenrate erstmals explizit zu einem zentralen Thema der Familienpolitik machte. Seitdem wird eine Erhöhung der Geburtenrate zunehmend – wenn auch nicht für alle Politiker – als familienpolitisches Ziel (siehe auch den Beitrag "Ziele der Familienpolitik") kommuniziert.
Demografischer Wandel wertet Familienpolitik auf
Für einen Großteil der Massenmedien und der politischen Kommunikation ist die Geburtenrate mittlerweile der zentrale Indikator einer erfolgreichen Familienpolitik. Damit hat die Problematik des Geburtentiefs einen erheblichen Einfluss auf die Familienpolitik, der sich in zwei Richtungen auswirkt:- Einerseits stärkt die demografische Entwicklung die Bedeutung von Familienpolitik. Der demografische Wandel wurde in den vergangenen Jahren zu einem wichtigen Zukunftsthema. Damit verbunden ist auch die Familienpolitik in den Fokus gerückt – sogar als zentrales Wahlkampfthema. Dadurch wird ein Scheinwerfer auf die Lebensbedingungen von Familien gerichtet, und die gesellschaftliche Unterstützung für den Ausbau familienpolitischer Maßnahmen steigt. Nur so war bspw. die Einführung des Elterngeldes ab 2007 politisch überhaupt durchsetzbar.
- Andererseits wird die Wirksamkeit von Familienpolitik vielfach auch an der Geburtenentwicklung gemessen. Dies kann dazu führen, dass eine erfolgreiche familienpolitische Maßnahme diskreditiert wird, da sie nicht für mehr Geburten sorgt, sondern "nur" das kindliche Wohlbefinden oder die Wahlfreiheit der Eltern fördert. Je stärker bei der Durchsetzung familienpolitischer Maßnahmen mit dem Demografieargument hantiert wird, desto höher ist später der Rechtfertigungsdruck, wenn die Geburtenrate weiterhin niedrig bleibt.
Aber was bewegt nun die Menschen dazu, mehr Kinder zu bekommen? Geld? Kitas? Teilzeitjobs? Lassen sich potenzielle Eltern von der Politik überhaupt beeinflussen? Die Verwirrung ist groß: Einerseits zeigen Franzosen, US-Amerikaner oder Norweger, dass weitaus höhere Geburtenraten in modernen Industrieländern möglich sind. Andererseits scheint sich in Deutschland trotz diverser Reformen keine Abkehr des Geburtentiefs abzuzeichnen.
Geburtenentwicklung in Deutschland
Die Geburtenentwicklung lässt sich unterschiedlich messen. Die zusammengefasste Geburtenrate (Total Fertility Rate – TFR[1]) zum Beispiel gibt an, wie viele Kinder durchschnittlich je Frau in einem Jahr zur Welt kamen – und zwar von Frauen im Alter zwischen 15 und 49 Jahren. Die TFR liegt in der Bundesrepublik Deutschland seit 1975 (seit 1990 auch in Gesamtdeutschland) zwischen 1,24 und 1,45 (siehe Abbildung 1). Das ist insofern bemerkenswert, da es international und historisch nur wenige Beispiele für Geburtenniveaus gibt, die über vier Jahrzehnte in einem so engen Korridor verharren.
Doch die genannten Maßnahmen haben nicht für mehr Kinder gesorgt. Aus dem west- beziehungsweise ab 1990 gesamtdeutschen Beispiel jedoch auf eine komplette Wirkungslosigkeit zu schließen, wäre falsch. Denn erstens wäre die zusammengefasste Geburtenrate ohne die familienpolitischen Maßnahmen der vergangenen Jahrzehnte vermutlich noch weiter gefallen. Zweitens zeigen Studien, dass es durchaus in einzelnen Bevölkerungsgruppen gewisse Effekte gab. Drittens waren es vielleicht nicht die richtigen oder genug familienpolitischen Maßnahmen, um eine Trendwende zu schaffen. Und viertens bedarf es gerade bei neueren Reformen wie dem Elterngeld und dem Kita-Ausbau noch mehrerer Jahre, um die Effekte beurteilen zu können.
Nachhaltige Effekte auf die Geburtenentwicklung sind nur gegeben, wenn sie sich auch in der endgültigen Kinderzahl von Frauen manifestieren. Diese wird am besten durch die Kohortengeburtenrate (Cohort Total Fertility Rate – CTFR) beziffert[2]. Die CTFR zeigt an, wie viele Kinder die Frauen eines bestimmten Geburtsjahrgangs (Kohorte) während ihres Lebens durchschnittlich geboren haben. Abbildung 2 zeigt die CTFR für Deutschland, wobei die Werte ab Jahrgang 1965 auf Schätzmodellen beruhen, denn für diese Jahrgänge sind noch keine endgültigen Aussagen möglich.

In Ost- und Westdeutschland verläuft diese Entwicklung ähnlich. Der niedrigste Wert der CTFR ist bei Frauen in Ostdeutschland mit dem Jahrgang 1970 erreicht und bei Frauen in Westdeutschland minimal früher mit dem Jahrgang 1968. Außerdem macht die CTFR bildungsspezifische Unterschiede deutlich: Akademikerinnen haben deutlich weniger Kinder – allerdings deuten die Schätzungen an, dass der Geburtenrückgang bei Akademikerinnen mittlerweile gestoppt ist. Die endgültige Kinderzahl von Akademikerinnen des Jahrgangs 1975 wird demnach statistisch 1,41 (1971 noch unter 1,3) und von Nichtakademikerinnen durchschnittlich 1,61 betragen. Hier stellt sich die Frage, inwieweit die Familienpolitik zu diesem Trendende beigetragen hat. Diese wird sich allerdings nur annährend beantworten lassen: Eine genaue Zuordnung, welchen Anteil in der Veränderung der Geburtenziffer die Familienpolitik und welchen Anteil andere Faktoren haben, lässt sich aus methodischen Gründen nicht exakt quantifizieren.