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Die Entwicklung der Einkommensverteilung und der Einkommensarmut in den alten und neuen Bundesländern | APuZ 18/1999 | bpb.de

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APuZ 18/1999 Die Entwicklung der Einkommensverteilung und der Einkommensarmut in den alten und neuen Bundesländern Eine Frage der Gerechtigkeit Armut und Reichtum in Deutschland Prekärer Wohlstand. Spaltet eine Wohlstandsschwelle die Gesellschaft? Verdeckte Armut in der Bundesrepublik Deutschland. Begriff und empirische Ergebnisse für die Jahre 1983 bis 1995 Armut im Kindes-und Jugendalter

Die Entwicklung der Einkommensverteilung und der Einkommensarmut in den alten und neuen Bundesländern

Richard Hauser

/ 15 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Beitrag behandelt die Entwicklung der relativen Einkommensarmut von Personen in den alten und den neuen Bundesländern. Als Wohlstandsindikator wird ein gewichtetes Pro-Kopf-Nettoeinkommen, das sogenannte Nettoäquivalenzeinkommen, herangezogen. Als Armutsgrenze werden 50 Prozent des durchschnittlichen Nettoäquivalenzeinkommens in den jeweiligen Landesteilen zugrunde gelegt. In den alten Bundesländern läßt sich von 1973 bis 1988 nur eine leichte Zunahme der Einkommensungleichheit, verbunden mit einem Anstieg der Armutsquoten von 6, 5 Prozent auf 8, 8 Prozent, feststellen. In diesem Zeitraum ist aber auch der durchschnittliche Lebensstandard um etwa ein Viertel gestiegen. Von 1991 bis 1995 ist der durchschnittliche Lebensstandard in den alten Bundesländern leicht und in den neuen Bundesländern stark angestiegen. In den alten Bundesländern hat die Ungleichheit der Einkommensverteilung von 1991 bis 1995 weiter leicht zugenommen, und auch die Armutsquoten sind nochmals von 10, 2 Prozent auf 11, 9 Prozent angestiegen. Zwischen 1988 und 1991 sind diese Quoten wegen unterschiedlicher Statistiken und unterschiedlicher Bevölkerungsabgrenzung allerdings nicht voll vergleichbar. In den neuen Bundesländern zeigt sich ebenfalls eine deutliche Zunahme der Einkommensungleichheit und ein starker Anstieg der Armutsquoten von 4, 2 auf 8, 0 Prozent. Einkommmensungleichheit und Armutsquoten liegen in den neuen Bundesländern allerdings immer noch niedriger als in den alten. Es ist zu erwarten, daß sich in dieser Hinsicht noch eine weitere Annäherung an die westdeutsche Situation ergibt.

I. Zur Einführung

Tabelle 1: Verteilung des Nettoäquivalenzeinkominens auf die Quintile in den alten Bundesländern 1973-1988 (nur Personen in deutschen Haushalten) Quelle: EVS Datenbank der Professur für Sozialpolitik. Die Ergebnisse basieren auf Jahreseinkommen unter Einschluß des Mietwerts selbstgenutzten Wohneigentums.

Die verteilungspolitische Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland hat in den letzten Jahren an Schärfe zugenommen. Dies zeigt sich bei Vorschlägen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, bei den Lohnverhandlungen, bei Reformvorschlägen im Bereich der direkten Besteuerung und auch bei Überlegungen über einen Umbau des Sozialstaats. Es zeigt sich aber auch, wenn über weitere Hilfen für die neuen Bundesländer diskutiert wird; denn es ist kaum zu bestreiten, daß die den neuen Bundesländern seit der Wiedervereinigung gewährten Hilfen zu einem starken Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Sozialleistungsquote geführt haben Zwei Vorgänge sind dabei allerdings auseinander-zuhalten: erstens der Wechsel von einem sozialistisch-planwirtschaftlichen Wirtschaftssystem zu einer Marktwirtschaft mit starker sozialpolitischer Komponente, wie er auch in anderen ehemals sozialistischen Ländern stattgefunden hat (diesem Systemwechsel ist vor allem der Zusammenbruch vieler auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähiger Industriezweige und der starke Anstieg der Arbeitslosigkeit mit entsprechenden Einkommensausfällen zuzuschreiben); und zweitens der Beitritt der DDR zur wirtschaftlich wesentlich besser gestellten alten Bundesrepublik, der mit den genannten Hilfezahlungen unterstützt wurde Hierdurch wurde der Übergang erleichtert, und es wurden die mit dem Systemwechsel verbundenen verteilungsmäßigen Turbulenzen wesentlich gemildert Beide Vorgänge wirken sich auf die perso-nelle Verteilung der Nettoeinkommen aus, und zwar in den neuen Bundesländern stärker als in den alten; aber man kann sie nicht analytisch trennen, sondern nur ihren Gesamteffekt beobachten. Unter Nettoeinkommen wird dabei das gesamte durch Erwerbstätigkeit und durch Kapitalbesitz erzielte Markteinkommen zuzüglich aller Sozialleistungen und abzüglich direkter persönlicher Steuern und Sozialabgaben verstanden.

Im folgenden wird zunächst die Entwicklung der personellen Verteilung der Nettoeinkommen in den alten Bundesländern von 1973, dem letzten Jahr mit Vollbeschäftigung, bis 1988, dem letzten Jahr, bevor die Mauer fiel, in einem knappen Überblick beschrieben. Hieran schließt sich dann eine detailliertere Analyse der Verteilungsentwicklung in West-und Ostdeutschland im Zeitraum von 1991 bis 1995 an. Abschließend werden einige Vermutungen über künftige Entwicklungstendenzen angedeutet.

Als Datenquellen liegen der folgenden Darstellung für die Jahre von 1973 bis 1988 die vom Statistischen Bundesamt in fünfjährigem Abstand erhobenen Einkommens-und Verbrauchsstichproben (EVS) und für die Jahre 1991 bis 1995 das Sozioökonomische Panel (SOEP) zugrunde, das kurz vor der Währungsunion auf die damalige DDR ausgedehnt werden konnte. Während die EVS 1973-1988 nur deutsche Haushalte in Westdeutschland umfaßt, sind im SOEP auch Informationen über die ausländische Wohnbevölkerung enthalten.

II. Zur Verteilungsentwicklung in den alten Bundesländern von 1973 bis 1988

Tabelle 2: Verteilung von Personen auf Nettoäquivalenzeinkommensklassen in den alten Bundesländern 1973 -1988 (Personenanteile in Prozent) Quelle: Wie Tabelle 1.

Von 1973 bis 1988 ist das durchschnittliche monatliche Nettoeinkommen der westdeutschen Haushalte von 1 979-DM auf 3 592, -DM, d. h. um 81, 5 Prozent, angestiegen Berücksichtigt man jedoch die in der gleichen Periode aufgetretene Anstieg des Preisindex für die Lebenshaltung aller privaten Haushalte von 69, 3 Prozent, so betrug der Zunahme der durchschnittlichen Nettorealeinkommen nur 2 Prozent 7.

Allerdings eignet sich das Haushaltsnettoeinkommen nicht für eine wohlstandsorientierte Betrachtung der personellen Nettoeinkommensverteilung, da hierbei die unterschiedliche Haushaltsgröße unberücksichtigt bleibt. Das Pro-Kopf-Einkommen ist ebenfalls ungeeignet, weil bei seiner Berechnung die Einsparungen beim gemeinsamen Wirtschaften im Haushalt und die geringeren Bedürfnisse von Kindern vernachlässigt werden. Es hat sich in der wissenschaftlichen Literatur weitgehend durchgesetzt, für Verteilungsanalysen ein gewichtetes Pro-Kopf-Einkommen heranzuziehen, das diesen Einwänden Rechnung trägt. Dabei wird eine Äquivalenzskala verwendet, die den Haushaltsmitgliedern unterschiedliche Gewichte zuordnet. Bei der hier verwendeten älteren OECD-Skala erhält der Haushaltsvorstand ein Gewicht von 1, weiteren Haushaltsmitgliedern über 14 Jahre wird ein Gewicht von 0, 7 zugeordnet, und Kinder unter 15 Jahre bekommen ein Gewicht von 0, 5 Die Division des Haushaltsnettoeinkommens durch die Summe der Gewichte der Haushaltsmitglieder ergibt dann das gewichtete Pro-Kopf-Einkommen, das jedem Haushalts-mitglied zugeordnet wird. Diese Größe, die auch als Nettoäquivalenzeinkommen bezeichnet wird, dient für die folgenden Verteilungsanalysen als Wohlstandsindikator. Dieses durchschnittliche Nettoäquivalenzeinkommen stieg im Betrachtungszeitraum von 981 DM auf 2 000 DM, d. h. um 103, 9 Prozent an. Die im Vergleich zum Anstieg des durchschnittlichen Haushaltseinkommens stärkere Zunahme kam dadurch zustande, daß der Anteil kleiner Haushalte zugenommen hat. Berücksichtigt man wiederum die Preisniveausteigerung, so liegt der reale Anstieg bei 20, 5 Prozent. Der durchschnittliche Lebensstandard ist also in diesen 15 Jahren in Westdeutschland um etwa ein Fünftel angestiegen.

Haben von diesem Anstieg des Lebensstandards alle gleichmäßig profitiert, oder sind einzelne Gruppen vorausgeeilt und andere zurückgeblieben? Dies ist die Verteilungsfrage, der wir uns nun zuwenden. Wenn man alle Personen nach der Höhe ihres Nettoäquivalenzeinkommens vom niedrigsten zum höchsten anordnet, dann kann man die Bevölkerung in Fünftel {Quintile) einteilen und fragen, wie hoch ihr jeweiliger Anteil am Gesamteinkommen ist (s. Tabelle 1).

Wären die Einkommen völlig gleich verteilt, dann müßte jedes Quintil auch ein Fünftel des Gesamteinkommens beziehen. Dies ist aber nicht der Fall, wie die erste Spalte von Tabelle 1 zeigt. Das unterste Qunitil bezog nur gut ein Zehntel des Gesamt-einkommens, das oberste Quintil mehr als ein Drittel Wenn die Verteilung des Wohlstandszuwachses gleichgeblieben wäre, dann hätten sich die Anteile der einzelnen Quintile von 1973 bis 1988 nicht verändern dürfen. Dies ist aber geschehen. Der Anteil des untersten Quintils sank von 5 Prozent auf 9, 9 Prozent ab, während der Anteil des obersten Quintils fast gleich blieb. Man kann diese Verschiebung als eine leichte Zunahme der Ungleichheit interpretieren, die sich insbesondere im untersten Bereich auswirkte.

Einen genaueren Einblick in die Veränderungen der Einkommensverteilung erhält man, wenn man Einkommensklassen bildet, und zwar als Prozentsätze des jeweiligen durchschnittlichen Nettoäquivalenzeinkommens. Wenn dann die einzelnen Personen nach der Höhe ihres Nettoäquivalenzeinkommens in die einzelnen Einkommensklassen einreiht, wird ersichtlich, ob im Zeitablauf die Besetzungshäufigkeit einzelner Klassen zu-oder abgenommen hat. Tabelle 2 zeigt, wie hoch die Anteile der Bevölkerung in den einzelnen Einkommensklassen waren.

Fragt man zunächst, wie hoch der Anteil der Personen ist, die weniger als das durchschnittliche Nettoäquivalenzeinkommen zur Verfügung hatten, so erkennt man aus der Addition der Anteile in den drei linken Spalten, daß dies im Jahr 1973 62, 3 Prozent der Bevölkerung waren, während 1988 nur noch 60, 7 Prozent unter dem Durchschnitt lagen; es sind also 1, 6 Prozent aufgestiegen 10.

Gleichzeitig hat sich jedoch auch die unterste Gruppe, deren Nettoäquivalenzeinkommen weniger als die Hälfte des Durchschnitts beträgt, von 6, 5 Prozent um ein Drittel auf 8, 8 Prozent vergrößert; dabei erfolgten die Abstiege vor allem aus der Gruppe mit Einkommen zwischen 50 und 75 Prozent des Durchschnitts. Die Gruppe, die weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens zur Verfügung hat, wird nach den in den Sozialwissenschaften entwickelten Konventionen, aber auch nach den Festlegungen der Europäischen Union in ihren Armutsberichten, als relativ einkommensarm bezeichnet In diesem Sinne kann man also feststellen, daß von 1973 bis 1988 die Einkommensarmut deutlich zugenommen hat. Gleichzeitig sind auch die Gruppen mit überdurchschnittlichen Einkommen größer geworden. Dies bestätigt die bereits aus der Quintilsbetrachtung gewonnene Einsicht einer leichten Zunahme der Ungleichheit, die seit dem Ende der siebziger Jahre zu beobachten ist

III. Nettoäquivalenzeinkommen und Armutsquoten in den alten und neuen Bundesländern von 1991 bis 1995

Tabelle 3: Verteilung des Nettoäquivalenzeinkommens auf die Quintile in den alten und neuen Bundesländern 1991-1995 Quelle: Sozio-ökonomisches Panel. Die Ergebnisse basieren auf erfragten monatlichen Haushaltsnettoeinkommen, die um ein Zwölftel der einmaligen Zahlungen (abzüglich pauschalierter Abgaben) korrigiert wurden; der Mietwert selbstgenutzten Wohneigentums ist nicht im Nettoeinkommen enthalten.

1. Vorbemerkung Bei einem verteilungs-und wohlstandsbezogenen Vergleich zwischen den alten und den neuen Bundesländern erhebt sich eine grundlegende Frage, auf die unterschiedliche Antworten gegeben werden können. Die Frage lautet: Sind wir schon eine einzige vereinigte Gesellschaft, oder kann man noch mit guten Gründen von zwei Teilgesellschaften in Ost und West ausgehen? Aus der Antwort auf diese Frage folgt, ob man für Verteilungsanalysen einen gesamtdeutschen Einkommensdurchschnitt und entsprechende, davon abgeleitete Armutsgrenzen oder die Durchschnitte der jeweiligen Teilgesellschaften und die hieraus abgeleiteten Grenzen zugrunde legen soll. Angesichts des immer noch unterschiedlichen Lohn-und Produktivitätsniveaus und der daran anknüpfenden unterschiedlichen Rentenniveaus spricht einiges dafür, der Analyse für die Jahre 1991 bis 1995 zwei Teil-gesellschaften zugrunde zu legen. Andererseits sind vom Gesetzgeber die einkommensteuerlichen Regelungen sowie einige Sozialleistungsregelungen auf westlichem Niveau in die neuen Bundesländer übertragen worden (Sozialhilfe, Kindergeld, Familienlastenausgleichsleistungen), und auch das Anspruchsniveau der Ostdeutschen scheint sich -nach dem Ergebnis von Befragungen -eher am westdeutschen als am ostdeutschen Durchschnittseinkommen zu orientieren. Beides würde für die Zugrundelegung eines gesamtdeutschen Durchschnitts oder sogar des westdeutschen Durchschnitts für beide Landesteile sprechen. Trotz dieser nicht leicht von der Hand zu weisenden Argumente wird im folgenden der Durchschnitt jedes Landesteils verwendet. Man muß sich daher der hieraus resultierenden Einschränkungen bewußt sein 2. Einige Ergebnisse Von 1991 bis 1995 ist das durchschnittliche nominelle monatliche Haushaltsnettoeinkommen in den alten Bundesländern von 3 366 DM auf 3 947 DM, d. h. um etwa 17, 3 Prozent, und in den neuen Bundesländern von 1 892 DM auf 3 076 DM, d. h. um ca. 63 Prozent, gestiegen Das durchschnittliche Nettoäquivalenzeinkommen stieg in den alten Bundesländern von 1 881 DM auf 2 232 DM und in den neuen Bundesländern von 982 DM auf 1 659 DM an. Berücksichtigt man die während dieses Zeitraums eingetretene Steigerung des Preisindex für die Lebenshaltung von Arbeitnehmerhaushalten mit mittlerem Einkommen die im Westen 12, 9 Prozent und im Osten 29, 4 Prozent betrug, so kann man von einem mit 5, 1 Prozent nur leicht gestiegenen durchschnittlichen realen Nettoäquivalenzeinkommen im Westen und von einer Zunahme um ca. 30, 6 Prozent im Osten ausgehen. Damit kann man auch für diese Periode die Frage stellen, ob alle Personen gleichmäßig an diesem Anstieg des Lebensstandards Anteil hatten oder ob sich einzelne Gruppen stärker und andere weniger als der Durchschnitt verbesserten.

Aus Tabelle 3 erkennt man wieder die Verschiebungen in den Quintilsanteilen. Wenn man anhand der Angaben in Tabelle 3 den Anteil des fünften zum Anteil des ersten Quintils ins Verhältnis setzt, zeigt sich, daß 1991 in den alten Bundesländern das oberste Quintil das 3, 8fache des Einkommensanteils des untersten Quintils erhielt; in den neuen Bundesländern war es nur das 2, 8fache. Schon dieser Vergleich zeigt, daß die Verteilung der Nettoäquivalenzeinkommen nach der Wiedervereinigung in den neuen Bundesländern wesentlich weniger ungleich war als in den alten. Vergleicht man die Entwicklung von 1991 bis 1995 jeweils anhand des untersten und obersten Quintils, so sieht man sowohl im Westen als auch im Osten eine Verringerung des Einkommensanteils der untersten Quintile und eine Zunahme bei den obersten Quintilen. Das Quintilsverhältnis stieg in den alten Bundesländern auf 4, 15 und in den neuen auf 3, 15. Dies zeigt, daß in diesem Zeitraum in beiden Landesteilen die Ungleichheit der Verteilung der Nettoäquivalenzeinkommen zugenommen hat. In den neuen Bundesländern war aber das Ausmaß der Ungleichheit auch 1995 immer noch deutlich geringer als in den alten.

Qunitilsanteile zeigen nur in sehr abstrakter Form Ausmaß und Veränderung der Einkommensungleichheit. Mehr Details erkennt man, wenn man wieder die Verteilung der Personen auf einzelne Einkommensklassen betrachtet.

Blickt man auf Tabelle 4, so kann man zunächst feststellen, daß im Westen die Verteilung etwas asymmetrischer ist als im Osten; denn im Westen lagen 60, 4 Prozent (1991) bzw. 62, 8 Prozent (1995) der Bevölkerung unterhalb des Durchschnitts, während es im Osten nur 58, 0 (1991) bzw. 57, 5 Prozent (1995) waren.

Wenn man die Besetzungsdichte der untersten und der obersten Einkommensklasse betrachtet, ersieht man auch aus dieser Darstellung, daß die Ungleichheit in den alten Bundesländern größer ist als im Osten; denn beide Randklassen sind im Westen weit stärker besetzt. Weiterhin erkennt man, daß in den alten Bundesländern die Besetzungsdichte der untersten Randklasse -d. h.der Anteil der relativ Einkommensarmen -von 1991 bis 1995 um etwa ein Sechstel zugenommen hat, während die Besetzungsdichte der obersten Rand-klasse nur um ein Zwölftel anstieg. In den neuen Bundesländern ist vor allem in der untersten Klasse eine sehr deutliche Zunahme zu beobachten, und zwar auf fast das Doppelte. Hier hat sich auch eine merkliche Zunahme des Bevölkerungsanteils in der zweituntersten Einkommensklasse (zwischen dem 0, 5fachen und dem 0, 75fachen des jeweiligen Durchschnitts) ergeben. Man kann feststellen, daß der Anstieg der Ungleichheit und insbesondere der Armutsquote der „Preis“ für das starke Wachstum des durchschnittlichen Lebensstandards nach dem Systemwechsel gewesen ist.Andererseits kann aber auch mit hoher Wahrscheinlichkeit vermutet werden, daß diese Armutsquote und vermutlich auch die gesamte Ungleichheit der Einkommensverteilung noch viel stärker angestiegen wären, falls man sich für einen System-wechsel ohne Wiedervereinigung entschieden hätte und die von den alten Bundesländern finanzierten Transferleistungen ausgeblieben wären.

IV. Armutsquoten ausgewählter Bevölkerungsgruppen

Tabelle 4: Verteilung von Personen auf Nettoäquivalenzeinkommensklassen in den alten und neuen Bundesländern 1991-1995 (Personenanteile in Prozent) Quelle: Wie Tabelle 3.

Der Systemwechsel und die Wiedervereinigung haben sich keineswegs auf alle Bevölkerungsgruppen in den neuen Bundesländern in gleicher Weise ausgewirkt. Die Armutsbetroffenheit einzelner Gruppen unterscheidet sich deutlich. Auch in den alten Bundesländern gibt es deutliche Unterschiede in den gruppenspezifischen Armutsquoten (Anteil der relativ Einkommensarmen an der jeweiligen Bevölkerungsgruppe).

Aus der Tabelle 5 sind die Armutsquoten von älteren Menschen, von Personen in Haushalten mit mindestens einem Arbeitslosen, von Personen in Ehepaarhaushalten mit mindestens einem Kind unter 17 Jahren und in Alleinerziehendenhaushalten zu ersehen. Die Armutsquoten unter den Alten in den neuen Bundesländern sind aufgrund der günstigen Rentenumstellung so niedrig, daß kein statistischer Nachweis möglich ist.

In den alten Bundesländern wiesen im Jahr 1991 Personen in Haushalten von Arbeitslosen und Alleinerziehenden weit höhere Armutsquoten auf als die Gesamtbevölkerung. Die Quoten lagen bei mehr als einem Viertel. Auch die Armutsquoten von Personen in Ehepaarhaushalten mit Kindern lagen über den gesamtwirtschaftlichen Quoten. Bei alten Menschen zeigten sich ungefähr die gleichen Quoten wie bei der Gesamtbevölkerung, aber die Quoten der Frauen lagen jeweils höher als die der Männer.

Im Zeitablauf lassen sich bei den alten Menschen und bei den Ehepaaren mit Kindern nur leichte Schwankungen der Armutsquoten feststellen. Bei den Personen in Haushalten von Alleinerziehenden und Arbeitslosen ist jedoch eine deutlich steigende Tendenz der Armutsquoten zu erkennen, die bei den Arbeitslosenhaushalten sogar nochstärker ausgeprägt ist. Man kann konstatieren, daß 1995 in den alten Bundesländern etwa ein Drittel aller Personen, die in Haushalten mit mindestens einem Arbeitslosen lebten, mit weniger als der Hälfte des Durchschnittseinkommens auskommen mußten. Die Alleinerziehenden stehen nicht weit zurück. Bei ihnen sind es 31 Prozent.

In den neuen Bundesländern stellte sich die Lage bei insgesamt niedrigeren, aber stärker steigenden gesamtwirtschaftlichen Armutsquoten etwas anders dar. Ehepaare mit mindestens einem Kind liegen um einiges über der Gesamtquote; Personen in Haushalten von Alleinerziehenden und Arbeitslosen zeigen die höchsten Quoten, wobei aber hier die Armutsquoten der Arbeitslosen -im Gegensatz zum Westen -etwas niedriger liegen als jene der Alleinerziehenden. Die Quoten der Alleinerziehenden weisen allerdings wegen der geringen Fallzahlen in der Stichprobe einen größeren Unsicherheitsspielraum auf. In den neuen Bundesländern mußten 1995 ein Fünftel der Personen in Arbeitslosenhaushalten und etwa ein Viertel der Personen in Alleinerziehendenhaushalten mit weniger als der Hälfte des dortigen, im Vergleich zum Westen um etwa 25 Prozent niedrigeren durchschnittlichen Nettoäquivalenzeinkommens auskommen.

Wenn man die Bevölkerung nach Altersgruppen unterteilt, dann sieht man, daß Kinder und Jugendliche unter 17 Jahren in beiden Landesteilen die höchsten Armutsquoten aller Altersgruppen aufweisen Diese Kinder-und Jugendquoten liegen im Jahr 1995 um mehr als die Hälfte über den jeweiligen durchschnittlichen Quoten. Man muß daher konstatieren, daß die sich in den alten Bundesländern bereits seit etwa 1980 abzeich-nende Tendenz zu einer Infantilisierung der Armut nunmehr auch die neuen Bundesländer erfaßt hat.

V. Abschließende Bemerkungen

Tabelle 5: Armutsquoten ausgewählter Personengruppen in den alten und neuen Bundesländern 1991-1995 (in Prozent der jeweiligen Bevölkerungsgruppe) Quelle: Siehe Tabelle 3; Zahlenangaben in Klammern weisen einen großen statistischen Unsicherheitsspielraum auf.

Angesichts des noch bestehenden Unterschieds in der Einkommensungleichheit zwischen den alten und neuen Bundesländern muß man zumindest für die neuen Bundesländer noch eine weitere Zunahme der Ungleichheit und auch der Armutsquoten erwarten; denn die Arbeitslosigkeit wird nur sehr langsam abgebaut werden, und sie wird sich stärker auf einen kleineren Kreis von Betroffenen und schwer Vermittelbaren konzentrieren. Außerdem wird die Spreizung der Lohnstruktur weiter zunehmen, und Vermögenseinkommen werden für eine kleine Schicht an Bedeutung gewinnen. Auf der Ebene der Nettoeinkommen werden einige sozialpolitische Sonderregelungen, die insbesondere auf die unterste Einkommens-schicht gerichtet waren, auslaufen, und die Arbeitsförderungsmaßnahmen werden allmählich eingeschränkt werden.

Insgesamt gesehen wird man sich der Einsicht nicht verschließen können, daß die Bevölkerung der DDR mit dem Systemwechsel und dem Beitritt zur Bundesrepublik zwar eine beträchtliche Erhöhung des durchschnittlichen Lebensstandards erfuhr und auch weitere Wachstumsperspektiven gewann, daß hierfür aber auch eine wesentlich größere Ungleichheit der Verteilung der Erwerbseinkommen und auch der Nettoeinkommen in Kauf zu nehmen ist. Die mit dieser zunehmenden Ungleichheit einhergehende Erhöhung der Armutsquoten stellt ein besonderes sozialpolitisches Problem dar, dessen gesellschaftspolitische Auswirkungen noch kaum abzuschätzen sind.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die Sozialleistungsquote (Anteil aller Sozialleistungen am Bruttoinlandsprodukt) betrug 1990 in den alten Bundesländern 29 Prozent, 1995 in Gesamtdeutschland aber 34 Prozent. Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Statistisches Taschenbuch '98. Bonn 1998, Tabelle 7. 2.

  2. Diese Unterstützung äußerte sich unter anderem in jährlichen West-Ost-Nettotransfers von 120 bis 140 Milliarden DM; das sind vier bis fünf Prozent des westdeutschen Bruttoinlandsprodukts (vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 1995/96, Bonn, Bundestagsdrucksache 13/3016).

  3. Ein wesentlicher Teil dieser Transfers floß entweder an Unternehmen zur Subventionierung von Löhnen und Gewinnen und damit indirekt oder in Form von Sozialleistungen und Steuerbegünstigungen direkt an Haushalte. Ein weiterer Teil ging im Rahmen des Finanzausgleichs an öffentliche Gebietskörperschaften zur Finanzierung des Nachholbedarfs bei der Infrastruktur. Auf dem erstgenannten Weg wurde die personelle Verteilung der Markteinkommen (Löhne, Gewinne) beeinflußt, auf dem zweitgenannten die personelle Verteilung der Nettoeinkommen (Markteinkommen zuzüglich Sozialleistungen abzüglich Steuern und Sozialabgaben).

  4. Die Einkommens-und Verbrauchsstichproben werden beschrieben in: Statistisches Bundesamt, Wirtschaftsrechnungen (Fachserie 15), Einkommens-und Verbrauchs-stichprobe 1983 und 1988, H. 7, Aufgabe, Methode und Durchführung, Stuttgart 1994.

  5. Aufbau und Informationsgehalt des Sozio-ökonomischen Panels werden ausführlich beschrieben in: Gert Wagner/Jürgen Schupp/Ulrich Rendtel, Das Sozio-ökonomische Panel (SOEP) -Methoden der Datenproduktion und -aufbereitung im Längsschnitt, in: Richard Hauser/Notburga Ott/Gert Wagner (Hrsg.), Mikroanalytische Grundlagen der Gesellschaftspolitik. Band 2: Erhebungsverfahren, Analysemethoden und Mikrosimulation, Berlin 1994, S. 70-112.

  6. Die Angaben über die Entwicklung von Durchschnittseinkommen beruhen jeweils auf einer Auswertung der Stichproben. Da die Stichproben nicht alle Einkommensarten in gleicher Güte erfassen und da die EVS explizit eine obere Abschneidegrenze verwendet und auch im SOEP vermutlich die sehr reichen Haushalte unterrepräsentiert sind, wird hierbei die tatsächliche Höhe des Durchschnittseinkommens unterschätzt. Hinzu kommt, daß einige Bevölkerungsgruppen nicht erfaßt sind. In der EVS sind dies Haushalte mit ausländischem Haushaltsvorstand, Wohnungslose sowie Personen in Einrichtungen. Außerdem wurden vom Statistischen Bundesamt aus Datenschutzgründen nur jeweils zufällig ausgewählte Teilstichproben zur Verfügung gestellt. Auch beim SOEP ist von einer starken Untererfassung von Personen in Einrichtungen sowie von Wohnungslosen auszugehen.

  7. Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Anm. l), Tab. 6. 9.

  8. Diese Äquivalenzskala entspricht ungefähr den in der Bundesrepublik in den institutioneilen Regelungen enthaltenen Abstufungen. Vgl. Jürgen Faik, Institutionelle Äquivalenzskalen als Basis von Verteilungsanalysen -Eine Modifizierung der Sozialhilfeskala, in: Irene Becker/Richard Hauser (Hrsg.), Einkommensverteilung und Armut, Frankfurt am Main -New York 1997, S. 13-42.

  9. Hier muß nochmals darauf hingewiesen werden, daß die EVS die sehr reichen Haushalte nicht erfaßt. Im Jahr 1973 lag die obere Abschneidegrenze bei 15 000 DM, im Jahr 1988 lag sie bei 25 000 DM. Man kann schätzen, daß hierdurch 200 000 bis 400 000 Haushalte nicht erfaßt wurden. Könnte man diese Haushalte einbeziehen, so läge der Anteil des obersten Quintils noch höher, und die Anteile der unteren Quintile wären niedriger.

  10. Bei einem Zeitvergleich von einzelnen Stichproben, in denen jeweils unterschiedliche Haushalte befragt wurden, kann man nur das „Nettoergebnis“ von Aufstiegen und Abstiegen ermitteln, d. h. welche Bewegung überwiegt. Dies ist bei der Interpretation dieser Zahlen zu beachten.

  11. Armut meßbar zu machen ist eine schwierige Aufgabe, die im streng wissenschaftlichen Sinn nicht zu lösen ist; denn letztlich stehen hinter jeder Interpretation des Armutsbegriffs und hinter jedem darauf beruhenden Meßverfahren Wertüberzeugungen, über deren Richtigkeit im ethischen Sinn sich wissenschaftlich nicht abschließend urteilen läßt. Aus diesem Grund kann jedes Ergebnis einer empirischen Armutsmessung von einer anderen Wertbasis aus angegriffen werden. Die folgenden Überlegungen beschränken sich auf die Analyse der Einkommensarmut, weil Einkommen in einer hochentwickelten Volkswirtschaft eine notwendige, wenn auch nicht immer hinreichende Bedingung für die Erfüllung von Grundbedürfnissen darstellt, deren angemessene Befriedigung für das Erreichen eines soziokulturellen Existenzminimums erforderlich ist. Außerdem wird Armut relativ zum jeweiligen durchschnittlichen Wohlstandsniveau gemessen. Es wird vermutet, daß Personen und Familien, die zu weit unterhalb der durchschnittlichen Lebensverhältnisse existieren müssen, gesellschaftlich ausgegrenzt werden, d. h., daß das gesellschaftspolitische Ziel der Integration aller Gesellschaftsmitglieder zunehmend verletzt wird. Für eine ausführliche Erläuterung verschiedener Armutsbegriffe vgl. Richard Hauser, Das empirische Bild der Armut in der Bundesrepublik Deutschland -Ein Überblick, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 31-32/95, sowie ders., Armut, Armutsgefährdung und Armutsbekämpfung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 216, (1997) 4 u. 5, S. 524-548.

  12. In seinem neuesten Jahresgutachten 1998/99 analysiert der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ebenfalls die Entwicklung der personellen Einkommensverteilung. Er stellt fest, „ .. . daß die Ungleichheit zwischen 1983 und 1993 geringfügig zugenommen hat. Dies muß in Verbindung damit gesehen werden, daß im gleichen Zeitraum das Niveau der Einkommen angestiegen ist“. (Bundestagsdrucksache, -14/73 vom 20. November 1998, S. 163.)

  13. Alternativrechnungen finden sich in Richard Hauser/Gert Wagner, Die Einkommensverteilung in Ostdeutschland -Darstellung, Vergleich und Determinanten für die Jahre 1990 bis 1994, in: Richard Hauser (Hrsg.), Sozialpolitik im vereinten Deutschland III, Berlin 1996, S. 79-127. Die bereits 1994 veröffentlichte Studie von Walter Hanesch u. a. (Armut in Deutschland, hrsg. vom Deutschen Gewerkschaftsbund und dem Paritätischen Wohlfahrtsverband -Gesamtverband in Zusammenarbeit mit der Hans-Böckler-Stiftung. Reinbek 1994) legt dagegen bereits den gesamtdeutschen Durchschnitt zugrunde.

  14. Da für den Zeitraum von 1991 bis 1995 eine andere Stichprobe -das SOEP -benutzt wird, unterscheiden sich die Durchschnittseinkommen deutlich. Dies hängt u. a. damit zusammen, daß der Mietwert selbstgenutzten Wohneigentums nicht einbezogen werden konnte und daß hier die im Durchschnitt niedrigeren Einkommen von ausländischen Haushalten einbezogen sind. Diese Unterschiede beeinträchtigen den Zeitvergleich von 1991 bis 1995 nicht. Jedoch sind die Ergebnisse für 1988 und 1991 nur begrenzt vergleichbar. Auch der Vergleich des Preisniveaus in der DDR mit dem Preisniveau von 1991 in den neuen Bundesländern sowie der Anstieg der Realeinkommen von 1989 bis 1991 ist wegen vielfältiger Verzerrungen nur mit vielen Vorbehalten ermittelbar. Hierauf wird hier verzichtet.

  15. Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Anm. 7), Tab. 6. 11.

  16. Anmerkung der Redaktion: Siehe hierzu auch den Beitrag von Christian Palentien, Andreas Klocke und Klaus Hurrelmann in diesem Heft.

Weitere Inhalte

Richard Hauser, Dr. oec. publ., geb. 1936; 1974-1977 o. Prof, an der Technischen Universität Berlin; seit 1977 Professor für Sozialpolitik am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Helga Cremer-Schäfer u. Udo Nouvertne) Arme unter uns: Ergebnisse und Konsequenzen der Caritas-Armutsuntersuchung, 2 Bde., Freiburg 1993; (zus. mit Werner Hübinger) Ziele und Möglichkeiten einer sozialen Grundsicherung, Baden-Baden 1996.