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Eine Frage der Gerechtigkeit Armut und Reichtum in Deutschland | APuZ 18/1999 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 18/1999 Die Entwicklung der Einkommensverteilung und der Einkommensarmut in den alten und neuen Bundesländern Eine Frage der Gerechtigkeit Armut und Reichtum in Deutschland Prekärer Wohlstand. Spaltet eine Wohlstandsschwelle die Gesellschaft? Verdeckte Armut in der Bundesrepublik Deutschland. Begriff und empirische Ergebnisse für die Jahre 1983 bis 1995 Armut im Kindes-und Jugendalter

Eine Frage der Gerechtigkeit Armut und Reichtum in Deutschland

Lutz Leisering

/ 20 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Armut wird in Deutschland seit etwa Mitte der neunziger Jahre zunehmend als Gerechtigkeitsproblem zwischen Arm und Reich thematisiert. Statt den normativen Maßstab einer „gerechten Gesellschaft“ anzulegen, wird in dem Beitrag untersucht, welche Gerechtigkeitsvorstellungen in der Bevölkerung und bei Politikern tatsächlich anzutreffen sind, warum sich diese verändert haben und in welche politischen Konfliktlagen die Forderung nach mehr Gerechtigkeit führt. In unserer Gesellschaft koexistieren vielfältige, zum Teil gegenläufige Gerechtigkeitsvorstellungen. Historisch-kulturell mischen sich in Deutschland egalitär-etatistische Werthaltungen mit einem marktbezogenen Individualismus. In den konkreten sozialen Institutionen wirken Normen der Bedarfsgerechtigkeit, der Leistungsgerechtigkeit und einer funktionalistischen, produktivistischen Gerechtigkeit zusammen. Auch der Sozialstaat ist nicht auf egalitäre oder bedarfsbezogene Normen beschränkt. Die verstärkte Thematisierung von Ungleichheit und Gerechtigkeit kann nur eingeschränkt als Reflex tatsächlicher Veränderungen von Ungleichheit gedeutet werden. Vielmehr handelt es sich wesentlich um veränderte Wahrnehmungen und einen Formwandel von Ungleichheit, eine Veränderung der eingelebten „Verteilungsgewohnheiten“ und eine zunehmende Unsicherheit in der unteren und mittleren Mitte der Gesellschaft. In der Debatte treffen unterschiedliche, konfligierende Gerechtigkeitsvorstellungen aufeinander: Die Forderung nach Bedarfsgerechtigkeit für Arme und Ausgegrenzte fällt nicht zusammen mit der Forderung nach mehr Leistungsgerechtigkeit für „normale“ Arbeitnehmer im Zuge gewucherter Kapitaleinkommen; sie hat auch geringere politische Durchsetzungschancen. Darüber hinaus sind „alte’, schichtbezogene Gerechtigkeitsvorstellungen generell auf dem Rückzug zugunsten neuer normativer Leitmuster, die auf Gerechtigkeit zwischen kinderreichen und kinderlosen Familien, zwischen den Geschlechtern, zwischen den Generationen sowie zwischen In-und Ausländern zielen. Konflikte zwischen alten und neuen Gerechtigkeitsvorstellungen zeigen sich bereits in der Renten-, Familien-und Steuerpolitik. Trotzdem sind zahlreiche Maßnahmen denkbar, die unsere Gesellschaft gerechter machen und auf breitere politische Unterstützung treffen könnten.

I. Die Wiederkehr der Gerechtigkeitsfrage

Den Bundestagswahlkampf, der zur Ablösung der Regierung Kohl führte, bestritt die SPD mit dem Wahlspruch „Innovation und Gerechtigkeit“. Der Begriff „Gerechtigkeit“ zielte dabei gegen eine neoliberale Politik, die sich einseitig an Erfordernissen des Marktes und des „Standorts Deutschland“ orientiert. Der Begriff „Innovation“ nimmt die Betonung wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit auf, wird jedoch durch die zusätzliche Gerechtigkeitskomponente austariert. Auch nach dem Wahlkampf verwies zum Beispiel Wirtschaftsminister Werner Müller auf die „Gerechtigkeitslücke“, die aus dem Zurückbleiben der Löhne hinter den gestiegenen Gewinnen erwachse

Tatsächlich ist in den neunziger Jahren die Gerechtigkeitsfrage in die deutsche Politik zurückgekehrt, und zwar auf breiter Front: Der überkommene Generationenvertrag wird von jungen Menschen teilweise als ungerecht und revisionsbedürftig angesehen. Familien mit Kindern werden von Politikern und Verfassungsrichtern zunehmend als gegenüber Kinderlosen benachteiligt dargestellt, verbunden mit der Forderung massiver Umverteilungen. Derzeit scheint die soziale Frage streckenweise geradezu zu einer Familienfrage umdefiniert zu werden. Den Verlauf des Einigungsprozesses haben Ostdeutsche häufig als ungerecht empfunden, reaktiv traten Benachteiligungsgefühle auch bei Westdeutschen auf. Hinzu kommen Themen der achtziger Jahre, die in den neunziger Jahren weiter virulent sind, vor allem die Frage einer gerechten gesellschaftlichen Verteilung von Arbeit und der Gleichstellung von Frauen.

Armut ist bislang in der Bundesrepublik kaum als gesamtgesellschaftliches, über den begrenzten Kreis der Armen hinausweisendes Gerechtigkeitsproblem gesehen worden. Bereits in den achtziger Jahren wurde mit Formulierungen wie „Armut im Wohlstand“ auf Paradoxien der Wohlfahrtsentwicklung aufmerksam gemacht. Erst in den neunziger Jahren wird jedoch eine konkrete und personalisierende Zurechnung zu „den Reichen“ -statt „im Reichtum“ -vorgenommen. Die Gegenüberstellung von Armen und Reichen macht Armut explizit zu einer Frage der gerechten Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen.

Das Begriffspaar „arm und reich“ stammt aus vorindustrieller Zeit. Welche Vorstellungen verbinden sich mit ihm im politischen Diskurs am Ende des 20. Jahrhunderts? Welcher Zusammenhang zwischen Armen und Reichen wird hergestellt? Zum einen sind Reiche als Verteilungsgewinner angesprochen, die an Wenigerbemittelte abgeben können und sollen (Verteilungszusammenhang). Zum andern gelten Reiche teilweise sogar als Verursacher von Armut, als Personen, die reich sind, weil andere arm sind (funktionaler Zusammenhang, Ausbeutung). Schließlich geht mit „arm und reich“ eine Vorstellung sozialer Polarisierung der Gesellschaft einher: „Die Armen werden immer ärmer, die Reichen immer reicher“, „die Gesellschaft driftet auseinander“ (Strukturwandel sozialer Ungleichheit). In diesem Beitrag ist zu klären, inwiefern das Problem von Armut und Reichtum im Deutschland der neunziger Jahre zu einer Frage von Gerechtigkeit geworden ist, und zwar nicht anhand abstrakt-philosophischer Gerechtigkeitsbegriffe, sondern in Hinblick auf tatsächlich vorhandene Gerechtigkeitsvorstellungen in unserer Gesellschaft, wie sie in der neueren empirischen Gerechtigkeitsforschung untersucht werden

II. Gerechtigkeit als gesellschaftliche Wertvorstellung

Begriffe wie „gerechte Gesellschaft“ oder „ungerechte Gesellschaft“ suggerieren einheitliche, die gesamte Gesellschaft durchdringende Wertvorstellungen. Tatsächlich sind Gerechtigkeitsvorstellungen jedoch heterogen, uneinheitlich und vielschichtig. Auch innerhalb von Gruppen und bei Einzelpersonen treffen wir typischerweise auf eine Überlagerung mehrerer Gerechtigkeitsideologien

In westlichen Gesellschaften können zwei große Typen allgemeiner Gerechtigkeitsvorstellungen unterschieden werden: „egalitärer Etatismus“, also die Vorstellung einer wesentlich staatlich zu bewirkenden Angleichung von Lebensverhältnissen und Lebenschancen, kurz als „Politikgerechtigkeit“ zu bezeichnen; und ein marktbasierter Individualismus, gemäß dem die Ergebnisse freien Handelns von Marktteilnehmern als gerecht gelten („Marktgerechtigkeit“). Marktbasierter Individualismus beinhaltet also keine Aufgabe von Gerechtigkeitsmaßstäben, sondern stellt einen eigenen Maßstab dar.

Die Forschung hat gezeigt, daß in Deutschland der egalitäre Etatismus die primäre Gerechtigkeitsideologie ist und der marktbasierte Individualismus die sekundäre, die insbesondere von leitenden Angestellten, Unternehmern sowie Angehörigen freier Berufe vertreten wird. Dabei ist ein erhebliches Ausmaß marktgenerierter Ungleichheit breit akzeptiert. Empirisch vertreten die Bürger und Bürgerinnen neben egalitär-etatistischen Wertvorstellungen gleichzeitig marktindividualistische Verteilungskriterien

In Ostdeutschland finden wir erwartungsgemäß einen ausgeprägteren egalitären Etatismus: Diese Werthaltung wird von 89 Prozent der Bevölkerung gestützt, im Unterschied zu 66 Prozent im Westen (1992) Ähnlich finden sich im Osten verstärkt fatalistische Gerechtigkeitsvorstellungen, ein sozialer Pessimismus mit einer düsteren Sicht der Armutsrisiken im Kapitalismus Dies ist, so scheint es, auf kulturelle Unterschiede zurückzuführen. Eine empirische Analyse kam jedoch zu dem Ergebnis: „Die Varianz der Gerechtigkeitsideologien geht wesentlich auf strukturelle Unterschiede zurück, nicht auf kulturelle Differenzen, die zwischen Ost-und Westdeutschland bestehen mögen.“ Gemeint sind die Struktureinflüsse von Alter, Schicht, Geschlecht und Mobilitätserfahrung: So findet sich der egalitäre Etatismus in den neuen Bundesländern besonders unter den Älteren, also der Aufbaugeneration, weniger jedoch unter den Jüngeren, während in den alten Ländern die Älteren eher antiegalitär eingestellt sind. Berufsaufsteiger haben in Ost wie West gleichermaßen eine starke individualistische Marktorientierung. Aufgrund dieser Ergebnisse ist damit zu rechnen, daß im Zuge fortschreitenden Struktur-wandels in Ostdeutschland sich die Gerechtigkeitsvorstellungen in West und Ost angleichen könnten.

III. Gerechtigkeit als institutioneile Zuteilungsregel

Auch die Gerechtigkeitsvorstellungen im kleinen, in konkreten sozialen Institutionen, zeigen eine Vielfalt unterschiedlicher Normen und faktisch vollzogener Praktiken. Es können drei allgemeine Normen gerechter Zuteilung unterschieden werden: -Leistungsgerechtigkeit: , Wer mehr leistet als andere, soll auch mehr erhalten'.

-Bedarfsgerechtigkeit: Ansprüche auf Ressourcen werden nach -unterschiedlich definierbaren -sozial zugeschriebenen, vor allem staatlich festgelegten Bedarfen bemessen.

-Funktionalistische Gerechtigkeit, auch produktivistische Gerechtigkeit: Soziale Verhältnisse, etwas Ungleichheit am Markt, sind gerecht, wenn sie mittel-und langfristig Nutzen stiften, nämlich die Wohlfahrt aller maximieren. Während Leistungs-und Bedarfsgerechtigkeit beides Formen von Verteilungsgerechtigkeit (distributive Gerechtigkeit) sind, die auf die Verteilung eines gegebenen Verteilungsvolumens („Kuchens“) abheben, zielt funktionalistische oder produktivistische Gerechtigkeit auf Erhöhung des Verteilungsvolumens im Zeitverlauf. Aufgrund der Gesetzmäßigkeiten des Marktes, so wird angenommen, führe eine Vermehrung von Ungleichheit -durch Lohnsenkung bzw. Spreizung des Lohnspektrums und durch Abbau sozialer Leistungen, also Verminderung von Verteilungsgerechtigkeit -zu einem höheren Verteilungsvolumen in der Zukunft und dadurch zu einem größeren Wohlstand aller Zu betonen ist: Alle drei Gerechtigkeitsnormen setzen auf Ungleichheit. Auch „Bedarf“ ist häufig ungleich definiert, was in der Forderung einer „Bedarfsorientierung“ der Sozialpolitik nicht selten übersehen wird. Ebensowenig ist Bedarfsgerechtigkeit mit , Bedürfnisgerechtigkeit‘ gleichzusetzen, da es immer um institutionell zugemessene Ansprüche auf Ressourcen und nicht um , eigentliehe'Bedürfnisse der Individuen geht.

In besonderem Maße setzt das Konzept funktionalistischer Gerechtigkeit strategisch auf Ungleichheit. In den neunziger Jahren ist diese Denkfigur in Deutschland in den Vordergrund gerückt in Form der neoliberalen Forderung von Lohnzurückhaltung, Senkung der Sozialhilfe und der Arbeitslosenunterstützung -Stichwort „Lohnabstand“ -und der Einrichtung eines Niedriglohnbereichs. Die Gewerkschaften und tendenziell auch die SPD akzeptieren die funktionale Begründung von Lohnzurückhaltung grundsätzlich, wenn auch eher verschämt. In der Tarifauseinandersetzung in der Metallbranche im Februar 1999 forderten die Gewerkschaften schließlich die Gewinne ein, die nach dem Modell , Einige verzichten heute, alle gewinnen morgen aus den tatsächlich gewucherten Gewinnen an die Arbeitnehmer abzuführen wären.

Der Sozialstaat wird am ehesten mit Bedarfsgerechtigkeit assoziiert, realisiert aber in mindestens gleichem Maße Formen von Leistungsgerechtigkeit. In seiner Rechtssprechung hat das Bundesverfassungsgericht das Sozialstaatsprinzip mehrfach als Verpflichtung zur Schaffung einer „gerechten Sozialordnung“ interpretiert. Im Gegensatz zu den verbreiteten egalitären Bildern ist der deutsche Sozialstaat allerdings mehr auf Sicherheit als auf Gleichheit ausgerichtet. Fragt man nach konkreteren Normen, so stellt sich der Sozialstaat als ein heterogenes Konglomerat unterschiedlicher Gerechtigkeitsprinzipien dar Die Sicherheitsorientierung nimmt vor allem zwei Formen an: erstens Sicherung eines Existenzminimums, vor allem durch die Sozialhilfe, also eine bedarfsorientierte Strategie der Armutsvermeidung, und zweitens Sicherung eines einmal erreichten Lebensstandards in der Sozialversicherung, vor allem als „lohnbezogene“ Rente. Sie überträgt die Ungleichheiten des Marktes in erwerbsfreie Lebensphasen, folgt also einer Leistungsgerechtigkeit, allerdings kombiniert mit einer familienbezogenen Bedarfsorientierung in Form der Hinterbliebenenrente.

Während der egalitäre Gehalt des deutschen Sozialstaats als Ganzes häufig überschätzt wird, werden Egalitarismus und Bedarfsorientierung auf der Ebene der konkreten Leistungsinstitutionen aber nicht selten unterschätzt. Das deutsche Sozial-system leidet an einer „versicherungsrechtlichen Über-und Fehlinterpretation seiner selbst“, also an einer Überschätzung des Gewichts von Leistungsgerechtigkeit Denn es gibt substantielle Zonen auch oberhalb des Niveaus der Sozialhilfe, in denen Bedarfsgerechtigkeit, teilweise sogar Gleichheitsnormen herrschen: -Die Gesetzliche Krankenversicherung ist, was Sachleistungen angeht, egalitär orientiert: Leistungen sind für alle gleichermaßen nach dem „Stand der medizinischen Erkenntnisse“ und dem „medizinischen Fortschritt“ zu bemessen (Sozialgesetzbuch V, § 2 [1]), trotz nach Einkommen gestaffelter Beiträge.

-Die kostenlose Mitversicherung von Familienangehörigen in der Krankenversicherung beinhaltet ein immenses Umverteilungsvolumen. -Auch in der Gesetzlichen Renten-und der Arbeitslosenversicherung gibt es ein wesentliches egalitäres Element: Gemäß der erst 1957 eingeführten Lohnersatzfunktion der Rente ist das Niveau einer Eckrente so zu bemessen, daß sie dem Alten grundsätzlich ein Lebensniveau sichert, das dem des Erwerbstätigen vergleichbar ist (was in der aktuell suspendierten Rentenreform 99 wieder in Frage gestellt wird).

-Im Bildungswesen werden Leistungen -Schulund Studienplätze -grundsätzlich egalitär und kostenfrei vergeben.

-Leistungen für Beamte und Kriegsopfer sind nach dem sogenannten „Versorgungsprinzip“

organisiert, verbunden mit einer Fürsorgepflicht des Dienstherrn.

-Der Familienlastenausgleich ist teilweise an Bedarfen orientiert.

-In den neuen Bundesländern drangen vorübergehend als politische Konzession weitere Bedarfselemente in die soziale Sicherung ein, etwa in Form der bis 1995/1996 geltenden Sozialzuschläge in der Renten-und Arbeitslosenversicherung. Gerechtigkeitsnormen finden sich aber nicht nur auf der Leistungsseite des Sozialstaats, sondern nicht weniger bedeutsam auf der Finanzierungsseite. Der Sozialstaat bekämpft Armut durch Sozialleistungen, aber er fördert Reichtum durch Abgabenentlastung: „Vier Faktoren: Arbeitsentgelt statt Einkommen als Beitragsbemessungsgrundlage, Nichteinbeziehung der Selbständigen und Beamten in die Versicherungspflicht, Versicherungspflichtgrenzen und Beitragsbemessungsgrenzen bewirken, daß sich . Reichtum* allen sozialstaatlichen Verpflichtungen entzieht. Für die deutsche Sozialversicherung gilt: Die Lohnarbeitszentrierung der Sozialversicherungen ist überwiegend eine der unteren und mittleren, schon weit weniger eine der höheren Einkommen.“

IV. Gerechtigkeit als subjektive Wahrnehmung und Bewertung

In soziologischer Sicht ist Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit keine objektive Eigenschaft einer Gesellschaft, sondern eine individuelle oder kollektive subjektive Bewertung sozialer Verhältnisse. Eine Bewertung als gerecht oder ungerecht hat eine weitere subjektive Voraussetzung, nämlich ob und wie ein Sachverhalt subjektiv überhaupt wahrgenommen wird. Wenn Ungleichheit und Gerechtigkeit in den politischen Debatten der neunziger Jahre verstärkt thematisiert werden, so ist dies nicht als bloßer Reflex objektiv gestiegener Ungleichheit zu nehmen, sondern es ist auch zu fragen, ob und wie sich subjektive Wahrnehmungs-und Bewertungsmuster verändert haben. Mit dem Erklärungsmodell . wachsender Erwartungen* (rising expectations) kann etwa das Paradoxon verständlich gemacht werden, daß eine zunehmende Bedürfnisbefriedigung u. U. nicht zu mehr, sondern zu weniger Zufriedenheit führt.

Von drei Effekten ist anzunehmen, daß sie einer verstärkten Wahrnehmung und Problematisierung sozialer Ungleichheit in den neunziger Jahren Vorschub leisten: 1. Verlangsamung des kollektiven Wohlstands-wachstums: Materielle Ungleichheit ist leichter akzeptierbar und legitimierbar, wenn und solange das kollektive Wohlstandsniveau ständig steigt -wenn Schlechtergestellte erwarten können, das, was Bessergestellte heute haben, morgen selbst zu haben. Historisch war dies lange das Erfolgsrezept im Nachkriegsdeutschland: Soziale Ungleichheit blieb im wesentlichen unverändert, aber die Ungleichheit der Lebenslagen bewegte sich auf einem ständig steigenden Niveau. Ulrich Beck hat dies als „Fahrstuhleffekt“ beschrieben. Nach Beck wird dadurch die soziale Bedeutung der statistisch weiterbestehenden materiellen Ungleichheiten und ihre Wahrnehmung nachhaltig verändert. Seit den siebziger Jahren und verstärkt nach dem vorübergehenden Einigungsboom Anfang der neunziger Jahre hat sich dieser Effekt im Zuge verlangsamten und teilweise sogar negativen Wirtschaftswachstums vermindert. 2. Das Gleichheitsparadoxon: Wirtschaftswachstum und Sozialstaatsausbau haben seit dem Zweiten Weltkrieg in wesentlichen Bereichen mehr Gleichheit und konkrete Gleichheitserfahrungen in der Bevölkerung gestiftet. Infolge des Massen-konsums sind bzw. scheinen Reiche nicht mehr derart entrückt zu sein wie früher, anschaulich etwa durch die Verbreitung technischer Haushaltsgeräte in den fünfziger und sechziger Jahren, des Telefons und des Urlaubs in den siebziger und achtziger Jahren und elektronischer Kommunikationsmittel in den neunziger Jahren. Hier wird Gleichheit oder doch zumindest Teilhabe zu einer kollektiven Generationserfahrung jenseits von Klasse und Schicht. Im Gesundheitswesen wird die egalitäre Bedarfsnorm konkret in Arztpraxen und Krankenhäusern erlebt. Auch die gesellschaftliche verbreitetere und bezüglich der Geschlechtszugehörigkeit mittlerweile sogar ausgeglichene Teilhabe an höherer Schulbildung wirkt in diese Richtung. Diese gesteigerte Gleichheit hält in den neunziger Jahren an und erhöht so auf paradoxe Weise die Sensibilität für sich verschärfende Ungleichheiten in anderen Bereichen, die deshalb an Legitimation verlieren. 3. Entstrukturierung sozialer Ungleichheit: Die Wahrnehmung von Ungleichheit kann sich auch dann ändern, wenn Ungleichheit neue Formen annimmt, ohne daß sich an ihren Ausmaß etwas geändert haben muß. Tatsächlich hat sich sozioökonomische Ungleichheit in Deutschland wesentlich um-und partiell entstrukturiert. Lebenslagen und Wohlstandspositionen sind instabiler geworden, Lebensläufe diskontinuierlicher -im Guten wie im Schlechten: Ein sozialer Absturz erfolgt leichter, gute Qualifikation und ordentliche Erfüllung von Arbeitspflichten sind immer weniger Garanten eines sicheren Status; gleichzeitig sind auch Aufstiege schneller möglich, zumindest scheint die „schnelle Mark“ besonders für junge Menschen erreichbar, wenn sie die Attribute des Reichtums sehen, die von den Erfolgreichen gern zur Schau gestellt werden. Die „Verteilungsgewohnheiten“ haben sich verändert. Mit der stärkeren Fluktuation von Lebenslagen geht eine „Entgrenzung sozialer Risiken“ einher: Armut, Sozialhilfebezug, Arbeitslosigkeit, Überschuldung und Geldprobleme bei Pflegebedürftigkeit reichen über traditionelle Randschichten in mittlere Schichten hinein. Die Erfahrung von Armut und Ungleichheit, wenn auch nur temporär, streut breiter. Sie wird zum Wahrnehmungshorizont breiterer Bevölkerungskreise.

Inwieweit spiegelt die Gerechtigkeitsdebatte aber auch eine objektive Zunahme von Ungleichheit? Gibt es empirische Anhaltspunkte für das Bild einer ungerechten, in Arm und Reich zerfallenen Gesellschaft? Zunächst: „Arm“ und „Armut“ sind ursprünglich Kategorien einer vorindustriellen Gesellschaft, in der die Masse der Bevölkerung arm war -„der arme Mann“ -und es nur relativ dünne mittlere Schichten zwischen Armen und Reichen gab. Der Duden verzeichnet unter „arm und reich“: „veraltet für jedermann 1“. Heute wird jedoch die Masse der Bevölkerung, die Mitte des Ungleichheitsspektrums, durch das Begriffspaar arm/reich ausgeblendet. Der Gegensatz zu , arm‘ ist nicht mehr , reich', sondern , nicht-arm'.

Der Wandel betrifft vor allem zwei Ungleichheitsindikatoren, die die älteren Klassenkategorien Arbeit und Kapital abbilden und von daher einen hohen Symbolgehalt aufweisen, gut medial darstellbar sind und eine Bewertung unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten nahelegen: Die „funktionelle Einkommensverteilung“ zwischen Löhnen und Kapitaleinkünften und die Besteuerung der funktionellen Einkommensarten haben sich erheblich zuungunsten der Lohnseite verändert

Dagegen ist dort nur ein geringer Wandel von Ungleichheit festzustellen, wo es um die konkreten Einkommens-und Lebenslagen der einzelnen Bürger und Bürgerinnen geht Die stark wahrgenommenen aggregierten Unterschiede der funktionellen Einkommensverteilung schlagen nur sehr begrenzt auf die konkrete Lebenssituation der einzelnen durch, u. a.deshalb, weil Löhne nur ein Teil des Gesamteinkommens einer Person bzw. eines Haushalts sind, da auch abhängig Beschäftigte neben ihrem Lohn oder Gehalt-nicht selten Vermögenseinkommen, etwa aus Vermietung oder, zunehmend, aus Aktien, haben, aber auch weil die Größe der Haushalte tendenziell sinkt, also Einkommen auf weniger Personen zu verteilen ist, und schließlich weil, nicht zuletzt aufgrund der Kinderlosigkeit vieler Paare, häufiger als früher ein Zweitverdiener im Haushalt vorhanden ist, letzteres im Osten noch mehr als im Westen. Tatsächlich ist die Armut und das Ausmaß der Ungleichheit insgesamt nur wenig gestiegen.

Auch eine soziale „Polarisierung“ im Sinne sozioökonomisch, räumlich und kulturell greifbarer und individuell erfahrbarer sozialer Spaltungen zwischen Bevölkerungsgruppen und Lebensverhältnissen (und nicht nur rein statistisch feststellbarer Veränderungen der Einkommens-und Vermögensverteilung) ist kaum erkennbar. Während in weiten Teilen der politischen Öffentlichkeit eine Polarisierung als fraglose Gegebenheit angenommen wird, teilen die meisten empirischen Forscher diese Sicht nicht

V. Welche Gerechtigkeit? Die Rückkehr des Konflikts in die deutsche Sozialpolitik

Die verstärkte Thematisierung von Ungleichheit und Gerechtigkeit kann also nur sehr eingeschränkt als Reflex tatsächlicher Veränderungen von Ungleichheit gedeutet werden. Vielmehr handelt es sich wesentlich um veränderte Wahrnehmungen. Auch ist ein Formwandel von Ungleichheit, eine Veränderung der eingelebten „Verteilungsgewohnheiten“ festzustellen. Die Formel arm/reich bzw. Armut und Reichtum ist als Metapher zu verstehen, die auf diesen Formwandel reagiert und aufmerksam macht, sein Wesen jedoch eher verdunkelt. Der reale Gehalt der Metapher ist ein anderer, als durch die Worte Armut und Reichtum nahegelegt wird. Tatsächlich verschlingen sich in der sozialpolitischen Gerechtigkeitsdebatte zwei Teildebatten, die in unterschiedliche Richtungen weisen.

In dem einen Strang der Debatte wird Bedarfsgerechtigkeit gegen übersteigerte Leistungsgerechtigkeit geltend gemacht. Gerechtigkeit wird angemahnt für die Opfer der „Ellbogengesellschaft“, für aus dem System Herausgefallene und „Überflüssige“. Zentraler Bezugspunkt ist die Vorstellung einer Ausgrenzung von Menschen aus einer Gesellschaft, die an ihrem oberen Wohlstandsende gleichzeitig exzessiv floriert. Das gesellschaftliche Gewicht dieses Zweigs der Debatte ist begrenzt, sie wird primär von Stellvertretern der Betroffenen, von Sozialanwälten und der Armutslobby, geführt. Themen sind etwa der Kampf gegen „Sozialabbau“, für eine Erhöhung der Sozialhilfe und für eine soziale Stadtentwicklung. Der begrenzte Einfluß dieser Debatte ist auch daran zu erkennen, daß „Armut“ als Ganzes kaum mehr wirksam dramatisierbar und problematisierbar zu sein scheint. Vielmehr gelingt dies nur noch unter spezifischen Teilaspekten, in den letzten Jahren vor allem durch die Fokussierung auf Armut und Sozialhilfebezug bei Kindern

In dem anderen, stärkeren, primär gemeinten, obgleich mit dem ersten vermischten Strang der Gerechtigkeitsdebatte geht es um , Leistungsgerechtigkeit gegen Leistungsgerechtigkeit', also eine

Kritik der Veränderung der Leistungsgesellschaft, gemessen an ihren eigenen Maßstäben. Gerechtigkeit wird hier nicht für Arme oder Randgruppen eingefordert, sondern für über Armutsgrenzen liegende breite Arbeitnehmerschichten in der unteren und mittleren Mitte der Gesellschaft, also für Menschen im System, nicht für Ausgegrenzte. Dieser Personenkreis ist für Wahlen entscheidender als die Armen und scheint in der Tat den Ausgang der letzten Bundestagswahl mitbestimmt zu haben.

Für diese Menschen hat sich, wie angesprochen, tatsächlich etwas verändert, was Anlaß zur Frage nach Gerechtigkeit gibt: Zwischen dem Wachstum von Kapital-und Lohneinkommen hat sich eine Schere aufgetan, ebenso zwischen der Entwicklung der Steuerlast dieser Einkommensarten, was sich aber nur sehr eingeschränkt in eine wachsende Ungleichheit der individuell verfügbaren Einkommen übersetzt hat. Gewachsen ist vielmehr die Unsicherheit von Einkommens-und Lebenslagen, wodurch auch überkommene Wertmaßstäbe unsicher werden. Tatsächlich haben sich die Verteilungsregeln im „Turbokapitalismus“ verändert. Pflichterfüllung im Beruf sichert nicht vor Risikolagen, so wie umgekehrt am oberen Ende der Wohlstandsskala sprunghafte Vermögenszuwächse möglich werden, etwa an Finanzmärkten, die kaum noch auf „Leistungen“ im traditionellen Sinne beziehbar sind.

Der Rückgriff auf die einprägsame vorindustrielle Formel arm/reich zielt also weniger, so meine These, auf den durch die Worte angesprochenen unteren und oberen Rand der Wohlstandsverteilung, verbunden mit der Annahme einer Vereinfachung der Ungleichheitsstruktur, sondern im Gegenteil primär auf Verwerfungen in der breiten Mitte der Gesellschaft und die Verunsicherungen dieser Menschen in einer entwickelten Wohlstandsgesellschaft. „Arm“ steht dabei für die Armutsbedrohung, die Armutsängste und die tatsächliche Zunahme sozialer Risiken auch in mittleren Schichten; „reich“ steht für den Aspirationshorizont fortgeschrittener Wohlstandsgesellschaften, in denen der Wohlstand Bessergestellter historisch erstmals in den Möglichkeitshorizont einfacher Arbeitnehmer gerückt ist, was aber aktuell brüchig geworden ist. Die Debatte erinnert also an fundamentale Ungleichheiten kapitalistischer Gesellschaften, die in Zeiten ständigen kollektiven Wohlstandswachstums und noch bescheidenerer Teilhabeansprüche breiter Bevölkerungskreise hinnehmbar schienen. „Aus der Schieflage heraus“ -so lautet der Titel eines aktuellen Buches von Friedhelm Hengsbach und Matthias Möhring-Hesse (Bonn 1999) zur sozialpolitischen Gerechtigkeitsfrage. Die „Gerechtigkeitslücke“ schließen -aber wie? Bezüglich welcher Gerechtigkeit? Für welche gesellschaftlichen Gruppen? Daß in der aktuellen Gerechtigkeitsdebatte sehr unterschiedliche Gerechtigkeitsvorstellungen und Adressatengruppen angesprochen sind, läßt die politischen Konflikte ahnen, mit denen in der laufenden Legislaturperiode zu rechnen ist und die sich bereits seit einigen Jahren abzeichnen.

Der in der sozialkritischen Gerechtigkeitsdebatte verdrängte Konflikt zwischen Bedarfsgerechtigkeit für Arme und Ausgegrenzte einerseits und Leistungsgerechtigkeit für „normale“ Arbeitnehmer und deren Familien andererseits wird zusätzlich erschwert durch das beiden Formen von Verteilungsgerechtigkeit entgegenstehende Konzept funktionalistischer, produktivistischer Gerechtigkeit, das im sozialkritischen Diskurs nicht mitgedacht ist und gerade auf eine Erhöhung von Verteilungsungleichheit setzt. Einflußreiche Träger dieses Konzepts sind „die Wirtschaft“, die freien Berufe, aber auch, verschämt, Gewerkschaften und SPD.Zielgruppe dieser Gerechtigkeitsvorstellung ist die Gesamtbevölkerung, also ausdrücklich auch Arme und Arbeitnehmer.

Der Konflikt zwischen Verteilungs-und produktivistischer Gerechtigkeit, die sich beide auf Fragen sozioökonomischer, aus dem Erwerbssystem erwachsender Ungleichheit beziehen, wird wiederum erschwert durch die neuen sozialen Ungleichheiten und die damit verbundenen neuen, auf soziale Teilhabe zielenden Gerechtigkeitsfragen, die sich an askriptiven (nicht erworbenen bzw. nicht erwerbbaren) sozialstrukturellen Unterscheidungsmerkmalen festmachen: an Geschlecht, Alter, Kinderzahl, Ethnizität bzw. Nationalität.

Träger dieser neuen Gerechtigkeitsfragen sind vor allem soziale Bewegungen und Initiativen im außerparlamentarischen Raum, zum Teil auch die diesen am nächsten stehenden Bündnis 90/Die Grünen. Das Eintreten für Kinderreiche oder „die Familien“ zieht sich mittlerweile durch alle politischen Parteien. In der Alterssicherungs-und Gesellschaftspolitik sind , die Jungen'besonders der CDU, der FDP und den Bündnisgrünen ein Anliegen. Diese Ungleichheiten haben auch materielle Aspekte, jedoch stellen sie eigenständige Ungleichheitsdimensionen dar, die quer zur Frage sozioökonomischer Ungleichheiten zwischen sozialen Schichten, also quer zu den Merkmalen Herkunftsfamilie, Bildung und Berufsposition, liegen. Die hier vorgebrachten sozialen, nicht nur ökonomischen Gerechtigkeitsvorstellungen haben unterschiedlichste Ausprägungen, etwa Gleichheit, aber auch Ungleichheit, Diversität und Pluralität, soziale Anerkennung, Menschenwürde und Partizipation. Hier zeichnet sich eine neue Gerechtigkeitsvorstellung ab, eine Teilhabegerechtigkeit, die sich tendenziell von herkömmlicher Bedarfsgerechtigkeit als etatistische Zuteilung unterscheidet. Vertreter , älterer', auf Verteilung abzielender Gerechtigkeit neigen dazu, die Konflikte mit den neuen Formen von Gerechtigkeit zu unterschätzen, etwa in der oft zu hörenden, aber empirisch nicht triftigen Redeweise „Die Armut ist weiblich“.

Die deutsche Sozialpolitik ist traditionell durch Konsens, Harmoniebestreben und soziale Integration gekennzeichnet. Um die Mitte der neunziger Jahre mehrten sich jedoch Zeichen eines Einbruchs Die , große Koalition'zwischen den politischen Parteien in Fragen der Sozialgesetzgebung, die seit 1948 herrschte, hält nicht mehr. Auch zwischen den Tarifparteien haben sich die Frontstellungen verschärft, worauf nicht zuletzt die FDP hingewirkt hat. Auch auf Grund der wirtschaftlichen Entwicklung ist die Macht des Kapitals wieder gewachsen. Franz-Xaver Kaufmann spricht von einer Wiederkehr des Konflikts in die deutsche Sozialpolitik In diesem Umfeld steht der aktuelle Streit um Gerechtigkeit in Deutschland. Welche Konfliktfelder, aber auch welche Koalitionen zwischen unterschiedlichen Akteuren und welche Handlungsoptionen tun sich hier auf?

Die beschriebenen Zielkonflikte zwischen unterschiedlichen Gerechtigkeitsformen scheinen derzeit zumindest tendenziell entschieden. Zum einen scheint die Forderung von Bedarfsgerechtigkeit für Arme und Ausgegrenzte deutlich hinter der Leistlingsgerechtigkeit für Arbeitnehmer und mittlere Schichten zurückstehen zu müssen. Dies gilt auch für die SPD, selbst wenn es teilweise anders klingt. Die Sozialanwälte für die Untersten in unserer Gesellschaft haben in der Politik keinen wirklichen Ansprechpartner. Zum andern sind alte, auf soziökonomische Verteilung zielende Gerechtigkeitsvorstellungen generell im Rückmarsch zugunsten , neuer‘ Ungleichheiten und diesbezüglicher Vorstellungen von Teilhabegerechtigkeit.

Nicht Unterschiede von arm und reich, von sozialen Schichten oder zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, sondern Ungleichheiten zwischen kinderreichen und kinderlosen Familien bzw. zwischen Familien und Alleinstehenden stehen derzeit im Vordergrund der Politik. Die jüngsten Steuer-und Kindergeldreformen entlasten nicht die Arbeitnehmer und die (Arbeitnehmer-) Rentner generell, sondern nur „die Familien“. Arbeiter und Rentner generell sowie Arme werden eher belastet, etwa durch die Ökosteuer. Ähnliches gilt für Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern. Während Frauen durch nach den Reformen von 1985 und 1997 anerkannte Erziehungsjahre nicht unerheblich begünstigt werden, unabhängig davon, ob sie arm oder wohlhabend sind, werden die generellen Rentenleistungen vermindert, etwa das Rentenniveau langfristig gesenkt und versicherungsmathematische Abschläge für Invaliditätsrenten angeführt, wie in der (bis Ende 2000 suspendierten) 1997 verabschiedeten Rentenreform ’ 99 geschehen. Die Gerechtigkeit zwischen den Generationen wird in den neunziger Jahren erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik ebenfalls in Richtung einer Kollision mit herkömmlichen sozialpolitischen Gerechtigkeits-und Gleichheitspostulaten entwickelt. „Die Jungen“ fühlen sich durch den bisherigen Generationenvertrag in der Gesetzlichen Rentenversicherung vielfach benachteiligt, zumindest berufen sich Politiker teilweise darauf. Aus der gewachsenen Zahl alter Menschen in der Gesellschaft und der verlängerten Rentenlaufzeiten infolge ständig steigender Lebenserwartung wird gefolgert, daß das „Rentenniveau“, also das Verhältnis der Renten zu den Erwerbseinkommen, zu senken sei. Damit wird mit dem 1957 in der großen Rentenreform etablierten Lohnersatzprinzip, also der Gleichstellung von Jung und Alt, gebrochen Gerechtigkeit zwischen den Generationen führt in dieser Variante zu einer Abkehr von herkömmlichen Kriterien gerechter materieller Verteilung. Die neue Regierung will hier gegenhalten, dürfte aber um andere Einschnitte kaum herum-kommen.

Daneben klingt in den Begründungen einer Neuformulierung des Generationenvertrages auch eine neue, demographisch und nicht ökonomisch formulierte funktionalistische Gerechtigkeitsvorstellung an: Die verstärkte Umwidmung gesellschaftlicher Ressourcen zu jungen Menschen, etwa auch im Bildungsbereich, stärke die Innovationsund Zukunftsfähigkeit der deutschen Gesellschaft.

In den Bereichen Familie und Frauen wird tatsächlich eine neue Form von Leistungsgerechtigkeit begründet, nämlich eine Anerkennung des Kinderhabens und -erziehens als eigenständige Leistung, unabhängig von Erwerbsleistungen am Markt. Auch die erweiterte steuerrechtliche Freistellung familienbezogener Arbeiten und Aufwendungen durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1998 wirkt in diese Richtung. Zahlungen für diese , Leistungen'sind weitgehend vom Bedarf der Leistungsempfänger abgekoppelt, stehen also im Gegensatz zu einer Bedarfsgerechtigkeit.

Dies ist eine partikularisüsche Reformstrategie, die einzelne Gruppen besserstellt. Universalistische Strategien, verkörpert durch das Konzept einer Grundsicherung, zielen demgegenüber stärker auf Bedarfs-und Teilhabegerechtigkeit Grundsicherungsvorstellungen üben eine hohe Attraktivität aus und finden sich in unterschiedlichsten Varianten in allen politischen Parteien. Zu bedenken ist jedoch, daß Grundsicherungsleistungen häufig niedrig ausfallen und daher nur minimale Teilhabestandards sichern können -im Kern wie die Sozialhilfe.

Neben Reformen kann auch die Sicherung vorhandener sozialer Sicherungssysteme ein wichtiges Ziel von Gerechtigkeitspolitik sein. Denn wichtige , Inseln'der Gleichheit und Teilhabe sind im wesentlichen intakt, vor allem die Gesetzliche Krankenversicherung, die Schulen und nicht zuletzt die Sozialhilfe als ein ausgebautes System . realer'Grundsicherung. Bei entsprechender politischer Kreativität und Gestaltungswillen sind eine Fülle weiterer Maßnahmen denkbar:

-Hierzu zählen einmalige Umverteilungsmaßnahmen, die dadurch nicht strukturell in Marktprozesse eingreifen. Eine weitreichende Umverteilung fand in Form des Lastenausgleichs in der Folge des Kriegs statt (1952), während bei der Wiedervereinigung auf eine entsprechende Option verzichtet wurde. Tony Blair hat kurz nach seiner Wahl die windfall Profits der privatisierten Staatsunternehmen mit einer Einmalabgabe von DM 14 Mrd. abgeschöpft. -Auch jenseits der staatlich-politischen Sphäre sind Änderungen zu erwägen, etwa durch Stärkung privater Stiftungen. Die aktuelle Debatte hierzu verdeutlicht zugleich, daß auch , gesellschaftliche'Aktivitäten in der Regel rechtlich-politisch flankiert werden müssen, sei es durch geldliche Unterstützung, durch rechtliche Rahmung oder durch Bereitstellung einer organisatorischen Infrastruktur. Bloße Appelle an Gemeinsinn und Zivilgesellschaft greifen zu kurz.

-Am Markt wäre eine Stauchung der Ungleichheitsspanne der Markteinkommen denkbar.

Auch Vertreter von Marktgerechtigkeit könnten grundsätzlich bereit sein, sehr hohe Einkommen und Vermögen abzuschmelzen. Denkbar ist auch . Ungleichheit auf Zeit': Für Einkommensarmut und Sozialhilfebezug wissen wir, daß es sich häufig nur um vorübergehende Phasen im Lebenslauf der Betroffenen handelt. Wenn . Armut auf Zeit', warum nicht . Reichtum auf Zeit'? Eine stärkere Transparenz, Durchlässigkeit und Wechselbereitschaft bei den Reichen könnte aus dem allgemein geteilten Postulat der Chancengleichheit abgeleitet werden.

In jedem Fall ist gesellschaftliche Verantwortung gefordert. Die Gerechtigkeitsdebatte der neunziger Jahre erinnert uns an die moralischen Grundlagen unserer Gesellschaft, fordert auf, Werte und Ziele zu reflektieren und auf eine bessere Praxis hinzuwirken.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Wir brauchen mehr Gerechtigkeit, Interview mit Werner Müller, in: Die Zeit vom 18. Februar 1999, S. 21.

  2. Vgl. Hans-Peter Müller/Bernd Wegener (Hrsg.), Soziale Ungleichheit und soziale Gerechtigkeit, Opladen 1995: Diether Döring/Frank Nullmeier/Roswitha Pioch/Georg Vobruba (Hrsg.), Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat, Marburg 1995.

  3. Vgl. Bernd Wegener, Gerechtigkeitsforschung und Legitimationsnormen, in: Zeitschrift für Soziologie, 21 (1992)

  4. Vgl. Ideologischer Konsens Dissens im 4 Steffen Mau, und Wohlfahrtsstaat. Zur Binnenvariation von Einstellungen zu sozialer Ungleichheit in Schweden, Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland, in: Soziale Welt, 48 (1997) 1, S. 28-30.

  5. Vgl. ebd., S. ähnlich Bernd Liebig, 30; Wegener/Stefan Eine Grid-Group-Analyse sozialer Gerechtigkeit. Die neuen und alten Bundesländer im Vergleich, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 45 (1993) 4, mit Daten von April/Mai 1991.

  6. Vgl. B. Wegener/S. Liebig, ebd.

  7. Ebd., S. 683.

  8. Vgl. Georg Vobruba, Die Faktizität der Geltung, in: Lars Clausen (Hrsg.), Gesellschaften im Umbruch, Verhandlungen des 27. Soziologiekongresses in Halle/Saale, Frankfurt am Main-New York 1996, S. 969.

  9. Vgl. Frank Nullmeier/Georg Vobruba, Gerechtigkeit im sozialpolitischen Diskurs, in: D. Döring u. a. (Anm. 2), S. 11.

  10. Vgl. ebd., S. 15.

  11. Ebd., S. 29.

  12. Uwe Jean Heuser, Wohlstand für wenige, in: Die Zeit vom 24. Oktober 1997, S. 23.

  13. Vgl. Lutz Leisering, Dynamische Armutsforschung, in: Theorie und Praxis der sozialen Arbeit, 45 (1994) 8.

  14. Die Vermögenseinkommen haben sich 1980-1996 verdreifacht (von DM 73 Mrd. auf DM 223 Mrd.), während sich die Nettolohn-und Gchaltssumme nur knapp verdoppelt hat (von DM 506 Mrd. auf DM 995 Mrd., nominell). Während die Steuerbelastung der Gewinne im Zeitraum 1980-1997 von 22 Prozent auf 8 Prozent gesunken ist (allein 1993-1997 von 17 Prozent auf 8 Prozent), ist die Belastung der Arbeitseinkommen von 16 Prozent auf 19 Prozent angewachsen. Vgl. Tatjana Fuchs, Sozialpolitik und Reichtum. Wieviel Reichtum verträgt eine Gesellschaft?. Ms. 1998 Universität München, Anlage (berechnet aufgrund von Daten des Statistischen Bundesamts, die allerdings die Steuerbelastung der Arbeitseinkommen überschätzen).

  15. Siehe den Beitrag von Richard Hauser in diesem Heft.

  16. Vgl. Roland Habich/Peter Krause, Armut, in: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Datenreport 1997, Bonn 1997: Hans-Jürgen Andreß, Leben in Armut. Analysen der Verhaltensweisen armer Haushalte mit Umfragedaten, Opladen-Wiesbaden 1999; Lutz Leisering und Stephan Leibfried, Time and Poverty in Western Welfare States, United Germany in Perspective, Cambridge 1999 (i. E,). Richard Hauser tendiert zu einer pessimistischeren Deutung der Daten, wobei der Begriff „soziale Polarisierung“ aber eher als zusammenfassende Metapher für eine statistische Zunahme von Einkommens-Ungleichheit verwendet zu werden scheint denn als ausgearbeitetes Konzept der Analyse des Strukturwandels sozialer Ungleichheit (vgl. etwa Irene Becker /Richard Hauser [Hrsg. ], Vorwort, in: dies., Einkommensverteilung und Armut. Deutschland auf dem Weg zur Vierfünftel-Gesellschaft? Frankfurt am Main-New York 1997, S. 7). Werner Hübinger (in diesem Heft) nimmt eine vermittelnde Position ein, insbesondere durch Betonung einer Zone „prekären Wohlstands" oberhalb der eigentlichen Armutspopulation.

  17. Vgl. Bärbel Peters, Das öffentliche Bild von Armut. Aktuelle Armutsbilder im Spiegel der Presse, in: Zeitschrift für den Beitrag von Sozialreform, 42 (1996) 8. Siehe hierzu auch Christian Palentien, Andreas Klocke und Klaus Hurrelmann in diesem Heft.

  18. Vgl. Manfred G. Schmidt, Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, Opladen 19982.

  19. Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Herausforderungen des Sozialstaates, Frankfurt am Main 1997.

  20. Vgl. Lutz Leisering/Andreas Motel, Voraussetzungen eines neuen Generationenvertrags, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 42 (1997) 10.

  21. Vgl. F. Nullmeier/G. Vobruba (Anm. 9), S. 35-39.

Weitere Inhalte

Lutz Leisering, Ph. D. (Econ.), Dipl. -Math., Dipl. -Soz., geb. 1953; Privatdozent für Soziologie und Sozialpolitik an der Universität Bremen. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg. zus. mit Robert Walker) The Dynamics of Modern Society, Poverty, Policy and Welfare, Bristol 1998; (zus. mit Stephan Leibfried) Time and Poverty in Western Welfare States. United Germany in Perspective, Cambridge 1999 (i. E.).