Prekärer Wohlstand. Spaltet eine Wohlstandsschwelle die Gesellschaft?
Werner Hübinger
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Zusammenfassung
In prekärem Wohlstand leben alle jene Personen und Haushalte, deren Einkommen zwischen 50 Prozent und etwa 75 bis 80 Prozent des gesellschaftlichen Durchschnittseinkommens liegt. Dieser Teil der Bevölkerung scheint durch eine Barriere -eine Wohlstandsschwelle -abgetrennt von denen, die in „gesichertem“ Wohlstand leben können. Zwischen prekärem Wohlstand und Armut (weniger als 50 Prozent des Durchschnittseinkommens) bestehen bei den davon Betroffenen Gemeinsamkeiten in wichtigen Merkmalen der Lebenslage: Unter-und Mangelversorgung sind in beiden Einkommensbereichen weit verbreitet. Anders ist dies jedoch bei einem Vergleich der Lebenslage von in „prekärem“ Wohlstand und in „gesichertem“ Wohlstand Lebenden. In den oberen, den gesicherten Wohlstandslagen kommen Versorgungsdefizite wesentlich seltener vor. Auf der Basis dieser Ergebnisse läßt eine Analyse ökonomischer und arbeitsmarktstruktureller Trends erwarten, daß sich die Formen sozialer Spaltungen weiter ausbreiten und vertiefen werden. In der Literatur finden sich eine Vielzahl von Lösungskonzepten und Bewältigungsstrategien, um den aktuellen und zukünftigen Problemlagen zu begegnen. Rekurriert man angesichts der Trends sowie der radikalen Diagnosen und angesichts der vorgeschlagenen Erneuerungsstrategien jedoch auf das heute realpolitisch Machbare, so muß bezweifelt werden, ob die derzeitigen Maßnahmen dem Wandel in Ökonomie und Arbeitsmarkt und der Wahrung sozialer Sicherheit angemessen sind. Ein neues politisches und gesellschaftliches „Management der Bewältigung“ zu entwickeln und zu entfalten -auch jenseits eingetretener Pfade -scheint heute dringend geboten zu sein, um erneuerte Formen sozialer Integration zu schaffen. Sonst werden Armut und prekärer Wohlstand für immer größere Teile der Bevölkerung langfristige und dauerhafte Lebenserfahrungen.
I. Prekärer Wohlstand
Fragestellungen zum prekären Wohlstand „Prekärer Wohlstand“ ist der Titel einer Studie über den Zusammenhang von Einkommenslage, Sozialstruktur und Lebenslage, deren Datenbasis der Querschnittsdatensatz aus der Caritas-Armuts-Untersuchung von Anfang der neunziger Jahre bildete 1. Die zentrale Fragestellung bei der Thematisierung des prekären Wohlstands ist, ob und wie sich die Armen von denjenigen unterscheiden, die zwar nicht als arm gelten, aber dennoch im unteren Einkommensspektrum angesiedelt sind. Für die Untersuchung wurden wichtige demographische, haushaltsstrukturelle und Statusmerkmale sowie Lebenslagenmerkmale hinsichtlich der Wohnsituation und der Versorgung in den Bereichen Ernährung, Mobiliar, Kleidung, Urlaub und Freizeit verglichen. Aus der zentralen Fragestellung ergab sich ein weiteres Thema, das in der Armuts-und Ungleichheitsforschung bis heute nur unbefriedigend beleuchtet wird: Wie beeinflußt ein Abstieg in die Armut bzw. ein Aufstieg aus der Armut die Lebenslage der Betroffenen? Konkret wird gefragt, ob das Verlassen einer Armutslage auch aus der „Nahzone der Armut“ herausführt bzw. wie groß das Risiko ist, in diesem Randbereich dauerhaft zu verharren.
Die Trennlinie für die Teilung der Untersuchungspopulation in Arme und Nichtarme stellt die relative Einkommensarmutsgrenze dar. Erreicht demnach ein nach der Größe eines Haushalts und dem Alter seiner Mitglieder gewichtetes Haushaltsnettoeinkommen pro Kopf (Äquivalenzeinkommen) nicht mindestens die Hälfte des gewichteten bundesdurchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommens pro Kopf, dann liegt „relative Einkommensarmut“ an der 50-Prozent-Grenze vor. Ausgehend von der
Zweiteilung des Einkommensspektrums wird der Armutsbereich in fünf Armutslagen und der Nichtarmutsbereich in fünf Wohlstandslagen unterteilt. Die erste Armutslage umfaßt das finanziell am besten gestellte Segment der Armutspopulation, die fünfte das am schlechtesten gestellte. Im Wohlstandsspektrum gilt: Die finanzielle Ausstattung nimmt von der ersten zur fünften Wohlstandslage hin zu.
In den verschiedenen oben genannten Untersuchungsbereichen legte die Studie Grenzwerte fest, deren Unterschreiten als Deprivation -Ausschluß von Bevölkerungsgruppen von allgemein akzeptierten Lebensstandards -bezeichnet wird. Im Hinblick auf die Wohnsituation ist dies beispielsweise der Fall, wenn ein Haushalt nicht mindestens über eine Wohnfläche von 20 Quadratmetern pro Kopf verfügt. In einem nächsten Schritt wurden für die zehn definierten Einkommenslagen die Anteile der deprivierten Befragten in diesen Einkommenslagen berechnet.
Eine empirische Untersuchung konstatierte am Ende der achtziger Jahre eine „Verflüssigung“ der Sozialstruktur, d. h. eine erhöhte Mobilität zwischen den Schichten, Klassen und Einkommens-gruppen Vieles spricht heute dafür -die Befunde zum prekären Wohlstand und die Trends in Ökonomie und auf dem Arbeitsmarkt, die unten ausgebreitet werden, sind hierfür als Belege anzusehen -, daß die Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Einkommenslagen eher begrenzt ist und daß es zunehmend mehr zu Abstiegen als zu Aufstiegen kommen wird. 2. Wichtige Ergebnisse zum prekären Wohlstand Betrachten wir zunächst das Armutsspektrum, so bleibt festzuhalten: Unterversorgung ist im gesamten Armutsbereich weit verbreitet. Sie ist zum Teil heterogen über die Armutslagen verteilt, d. h„ die größte Deprivation ist keineswegs immer in der untersten Armutslage zu finden, in einigen Fällen wurde sie in den finanziell besser gestellten oberen Armutslagen gemessen. Dies im ist großen und ganzen ein erwartungsgemäßes Ergebnis. Im Wohlstandsspektrum war hingegen eine von der ersten Wohlstandslage ausgehende, in den höheren Lagen abnehmende Mangel-und Unter-versorgung zu vermuten. Tatsächlich unterscheiden sich die drei unteren Wohlstandslagen hinsichtlich des Vorliegens von Deprivation nur wenig voneinander; sie ist dort relativ weit ver. breitet. In den beiden oberen Wohlstandslagen ist Deprivation erheblich seltener. Als statistische Gesamtgruppe weisen die unteren (drei) Wohlstandslagen wesentlich mehr Ähnlichkeiten mit den Angehörigen aller Armutslagen auf als mit den Angehörigen der beiden oberen Wohlstands-lagen.
Die Ergebnisse deuten also auf eine markante Strukturierung des Einkommens-und Ungleichheitsspektrums hin, die sich aber nicht an der 50-Prozent-Armutsgrenze manifestiert. Hieraus läßt sich eine neue Begrifflichkeit ableiten.
Die beiden oberen Wohlstandslagen gelten als „gesicherter Wohlstand“, die drei unteren als „prekärer Wohlstand“. Die deutliche Differenz zwischen beiden Wohlstandsbereichen hinsichtlich der Deprivationswerte stellt sich wie ein sozial-struktureller Bruch dar, der als „ Wohlstands-schwelle“
bezeichnet wird. Generalisierung der Ergebnisse im Hinblick auf die bundesdeutsche Einkommensstruktur Die Eigenschaften einer Wohlstandsschwelle für das westdeutsche Ungleichheitsgefüge sind resümierend wie folgt charakterisiert worden (vgl. Schaubild):
Personen oder Haushalte im Einkommensbereich unterhalb der Wohlstandsschwelle sind durch einen viel höheren Anteil von Deprivierten gekennzeichnet als solche, die über dieser Schwelle liegen. Individuelle Lebenschancen und relevante Bedürfnisse können von vielen nicht ausreichend gesichert werden.
Große Teile der Personen oder Haushalte, deren Einkommen zwischen Armutsgrenze und Wohlstandsschwelle liegen -die also in prekärem Wohlstand leben -sind armutsgefährdet.
Das gilt bei Eintreten besonderer individueller und familiärer Ereignisse, wie z. B.dem Verlust des Arbeitsplatzes, Scheidung, Geburt eines Kindes. Bei einem langfristigen (Erwerbs-)
Einkommensbezug im Bereich des prekären Wohlstands dürften zudem die Lohnersatzleistungen und auch die Altersversorgung, insbesondere die Absicherung der Hinterbliebenen, nicht selten unzureichend sein.
Die Wohlstandsschwelle wird im Zeitablauf nur von relativ wenigen Personen oder Haushalten überschritten und nur von wenigen unterschritten (vgl. die Pfeile im Schaubild). Eine Bewegung über die Schwelle führt nur bei längerfristigem Verbleib in einer höheren oder niedrigeren Einkommenslage auch zu einer Besserstellung oder Schlechterstellung der Lebenslage.
Unter Zugrundelegung der 50-Prozent-Einkommensarmutsgrenze ist eine Wohlstandsschwelle mit den oben genannten Eigenschaften auf der Äquivalenzeinkommensskala zwischen 75 und etwa 80 Prozent des Durchschnitts zu vermuten. Sie ist als ein Grenzstreifen zu verstehen. Die drei Segmente können bezüglich ihrer Bevölkerungsanteile quantitativ wie folgt abgeschätzt werden: Die Einkommensarmut umfaßt einen Anteil von etwa 10 Prozent der westdeutschen Bevölkerung, der „prekäre Wohlstand“ wird auf 25 bis 35 Prozent und der „gesicherte Wohlstand“ auf einen Anteil von 55 bis 65 Prozent zu beziffern sein.
Hieran schließt sich unmittelbar die folgende Frage an: Wie hoch ist die Fluktuation zwischen den verschiedenen Einkommenslagen? Erste Untersuchungen zur Mobilität zwischen prekärem und gesichertem Wohlstand deuten auf eine eher längerfristige Verweildauer in unteren Einkommenslagen hin 3. Aus den Ergebnissen läßt sich folgern: Der weitaus größte Teil der prekär „Wohlhabenden“ und auch der Armen dürfte längerfristig in einer ungünstigen Lebenslage verbleiben und daher in der Konsumteilhabe eingeschränkt sein. Der weitaus größte Teil der sozial gesicherten Wohlhabenden wiederum wird auch längerfristig auf seine günstige Lebenslage bauen können. Zu befürchten sind in Zukunft aber vermehrt Abstiege aus gesicherten Zonen in prekäre Einkommenslagen, wie dies die folgenden Ausführungen zeigen möchten.
II. Interpretation der Ergebnisse vor dem Hintergrund ökonomischer und arbeitsmarktstruktureller Trends
Bei der Interpretation der obigen Ergebnisse darf nicht vergessen werden, daß die Wohlstands-schwelle als ein Charakteristikum sozialer Ungleichheit der Gesamtgesellschaft eine empirisch begründete Hypothese ist, die aus der Verteilungsstruktur in einem nichtrepräsentativen Datensatz hervorgeht. Um die Gültigkeit dieser Hypothese für die gesamtdeutsche Gesellschaft (ggf. für West-und Ostdeutschland getrennt) zu belegen, muß sie auf Basis eines repräsentativen Datensatzes, am günstigsten in einer Dauerbeobachtung, empirisch überprüft werden. Darüber hinaus müssen auch der ökonomische und arbeitsmarktstrukturelle sowie sozialpolitische Wandel beobachtet und in die Analyse einbezogen werden. Die Wohlstandsschwelle gewinnt daher als ein Kennzeichen der Strukturierung sozialer Ungleichheit an Plausibilität und gesellschaftspolitischer Aussagekraft, wenn man sich den Entwicklungstendenzen in Ökonomie, Arbeitsmarkt und Sozialpolitik zuwendet.
Bereits Mitte der achtziger Jahre hat Burkart Lutz festgestellt daß die sich seit Mitte der siebziger Jahre andeutende ökonomische Abschwächung keine kurzfristige Erscheinung sein würde, sondern vielmehr einen Epochenwechsel ankündigte. Niemand zweifelt heute wohl noch daran, daß das Goldene Zeitalter, wie der englische Historiker Eric Hobsbawm die Zeit von 1950 bis 1975 nennt, in der Vollbeschäftigung und Wohlstandszuwächse für alle Teile der Bevölkerung erreichbar waren, vorüber ist. Eine neue dauerhafte, den fünfziger und sechziger Jahren vergleichbare wirtschaftliche Prosperitätsphase, die Massenarbeitslosigkeit eindämmen könnte und in der Lage wäre, den Sozialstaat in seiner bisherigen Gestalt längerfristig zu sichern, ist nicht in Sicht.
Die wichtigsten Einflußfaktoren, die prekären Wohlstand in Zukunft für einen beachtlich großen Teil der Bevölkerung zu einer permanenten gesellschaftlichen Sozialform werden lassen könnten, seien im folgenden kurz benannt. Kurz-und mittelfristig sind zu erwarten: ein moderates Wirtschaftswachstum, gleich hohe oder steigende Arbeitsproduktivität; Druck auf den Arbeitsmarkt durch weiter zunehmende Erwerbsneigung, insbesondere der Frauen; forcierte Umstrukturierung des Arbeitsmarktes mit erheblichen Folgen für Verteilung von Einkommen, Qualifikation und Arbeitsplatzsicherheit; Verringerung sozialpolitischer Gestaltungskraft. Einige dieser Aspekte werden im folgenden ausführlicher beschrieben. 1. Arbeitsnachfrage und Arbeitsangebot Nachfrage nach Arbeitskräften: Die sogenannte Prosperitätskonstellation des Wirtschaftswunders sorgte für fulminante Wachstumsraten über zwei Jahrzehnte hinweg. Das Wachstum war verantwortlich für eine beispiellose Ausweitung der Beschäftigtenzahlen und die Beseitigung der Arbeitslosigkeit. (Es sei nur an den Arbeitskräfte-mangel in den sechziger Jahren erinnert.) Ein durchschnittliches Wachstum von über drei Prozent auch in den neunziger Jahren hätte wahrscheinlich Arbeitslosigkeit in ihrem heutigen Ausmaß verhindern können. Die rigide Beschränkung von Haushaltsdefiziten auf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (gemäß den Maastricht-Kriterien) sorgt für eine restriktive Wirtschaftspolitik, die sich als eine Begünstigung des „Finanzsektors zu Lasten der Arbeiterschaft“ sehen ließe. Zumindest steht die weit verbreitete Negation von Beschäftigungseffekten der Nachfragepolitik in großen Teilen der Wirtschaftswissenschaft im auffallenden Gegensatz zu den Hoffnungen, die regelmäßig mit einer Ausweitung der Exportnachfrage verbunden werden. Mit Ausnahme des untypischen Vereinigungsbooms 1990/91 lassen sich in den neunziger Jahren keine die Dreiprozentmarke überschreitenden Wachstumsraten nachweisen (1993 sogar ein Minus von 1, 2 Prozent). Bei makroökonomischer Betrachtung kommt man heute zu dem Schluß, daß zusätzliche Arbeitsplätze erst bei einem Wachstum von etwa 2, 5 Prozent entstehen. Durch das Zusammenwirken weiterer Einflußfaktoren wie der Entwicklung der Arbeitsproduktivität und der Arbeitszeit ging zwischen 1994 und 1997 die gesamtwirtschaftliche Nachfrage nach Arbeitskräften deutlich zurück Durch die vorsichtige Konjunkturerholung und die Ausweitung der Arbeitsmarktpolitik, insbesondere in Ostdeutschland, konnte der Abwärtstrend auf dem Arbeitsmarkt im Jahr 1998 gestoppt werden. Die zurückhaltenden Konjunkturprognosen für 1999 lassen jedoch einstweilen keine weitere Ausweitung der Nachfrage nach Arbeitskräften erwarten, die den Arbeitsmarkt spürbar entlasten könnte. Es sei auch daran erinnert, daß seit den sechziger Jahren in jedem Jahrzehnt ein tiefer Konjunktureinbruch zu verzeichnen war (1967, 1974/75, 1981/82, 1993) mit sogenanntem Minus-wachstum und der Folge, daß ab Mitte der siebziger Jahre die Sockelarbeitslosigkeit von Krise zu Krise deutlich angestiegen ist. Mit einem schweren Konjunktureinbruch muß auch in Zukunft gerechnet werden -mit entsprechenden Folgen für den Arbeitsmarkt.
Angebot an Arbeitskräften: Auch die Angebots-seite trägt zur negativen Arbeitsmarktbilanz der neunziger Jahre bei. Immer mehr Menschen drängen auf den Arbeitsmarkt, was neben der starken Zuwanderung besonders in der ersten Hälfte des Jahrzehnts vor allem durch eine kontinuierliche Erhöhung der Erwerbspersonenquote aufgrund der gestiegenen Erwerbsneigung der Frauen verursacht wurde Die Erwerbsneigung der Frauen, die weiterhin niedriger ist als in anderen entwickelten Gesellschaften, wird auch in Zukunft das Angebot an Arbeitskräften weiter erhöhen 2. Arbeitsplatzabbau durch Rationalisierungen Ein Beispiel kann die ungeheuren Produktivitätsgewinne in der Industrie illustrieren Der VW-Konzern produzierte im Jahr 1993 weltweit drei Millionen Fahrzeuge; dazu wurden 270 000 Mitarbeiter benötigt. 1996, nur drei Jahre später, stellte VW weltweit vier Millionen Autos her, beschäftigte jedoch 29 000 Mitarbeiter weniger als 1993. Produktivitätsexplosionen dieser Art sind nicht nur das Markenzeichen von VW, sondern treffen auch auf die anderen großen Automobilhersteller (und auch andere Branchen) zu.
Der neue „Deutschland Report“ des Prognos-Instituts schätzt, daß in den nächsten 20 Jahren durch Rationalisierungen jeder fünfte Arbeitsplatz in der Industrie verloren gehen könnte. Vom heutigen Niveau der knapp Millionen Arbeitsplätze aus bedeutet dies eine Reduzierung um rund 2, 4 Millionen. In Erinnerung zu rufen ist, daß zwischen 1991 und 1997 im produzierenden Gewerbe rund drei Millionen Arbeitsplätze abgebaut wurden. Viele erwarten neue Erwerbschancen im Dienstleistungssektor; dort stieg zwischen 1970 und 1996 in Westdeutschland die Beschäftigung um rund 56 Prozent, während sie in der Gesamt-wirtschaft nur um 6 Prozent zunahm 12. Bert Rürup behauptet, daß sich „alle Experten“ darüber einig seien, daß in größerem Umfang nur im tertiären Sektor neue Beschäftigung entstehen könne. Doch sind hier Zweifel durchaus angebracht. Eine neuere Studie untersuchte rund 70 Prozent des Dienstleistungssektors (das entspricht rund 15 Millionen Arbeitskräften) und schätzte die möglichen Arbeitsplatzeinsparungen durch moderne Formen der Arbeitsorganisation in Verknüpfung mit der Anwendung neuer Informationstechnologien Es ergab sich ein Rationalisierungspotential von rund 6, 7 Millionen Arbeitskräften, was etwa 45 von 100 der untersuchten Arbeitsplätze entspricht. Allein im Bereich Transport/Logistik könnten drei von vier, bei Banken und Versicherungen sechs von zehn Arbeitsplätzen eingespart werden. Die Rationalisierungsgefahr bedroht jedoch keineswegs nur die „unternehmensorientierten“ Dienstleistungen, sondern ebenso und zudem in hohem Maße die sogenannten „konsumorientierten“ Dienste wie Handel, Gaststätten oder öffentliche und personenbezogene Beschäftigungen So ließe sich im Bildungswesen gut jede vierte, im Gesundheitswesen rund jede dritte und im Handel sogar etwa jede zweite Stelle einsparen Hinzu kommt ein sicherlich nicht unbedeutendes Rationalisierungspotential in den in dieser Studie nicht erfaßten Bereichen des Dienstleistungssektors, in denen heute rund sieben Millionen Menschen beschäftigt sind. die möglichen Summiert man (Brutto-) Arbeitsplatzverluste aus den genannten Studien -ohneBerücksichtigung gegebenfalls neu entstehender Arbeitsplätze so kommt man in einer mittelfristigen Sicht auf einen möglichen Verlust von über neun Millionen bzw.deutlich über einem Viertel der bestehenden Arbeitsplätze (Erwerbstätige einschließlich Selbständige). Hier kommt die bereits heute bestehende Beschäftigungslücke noch hinzu; die Schätzungen liegen zwischen sechs und acht Millionen fehlender Arbeitsplätze, darunter rund viereinhalb Millionen registrierte Arbeitslose. 3. Bedeutungsverlust des Normalarbeitsverhält-nisses und Qualifizierungsdifferenzen Neben den skizzierten Entwicklungen von Angebot und Nachfrage auf den Arbeitsmärkten zeichnen sich weitere bedeutende Veränderungen ab. Dies betrifft die Formen der Beschäftigung und die gesellschaftliche Positionierung der Erwerbsarbeitsplätze. Seit Anfang der achtziger Jahre verliert das sogenannte Normalarbeitsverhältnis (auf Dauer angelegte Vollzeitarbeit mit ausreichender sozialer Absicherung) an Dominanz. Neue Arbeitsverhältnisse treten heute häufig in Form von Teilzeitarbeit, befristeten Beschäftigungen, Leiharbeit, Scheinselbständigkeit oder Werkvertragsarbeit in Erscheinung. Am deutlichsten offenbart sich die Neuformierung des Arbeitsmarktes in den ab Frühjahr diesen Jahres versicherungspflichtigen sogenannten 630-DM-Jobs, deren Zahl auf rund 5, 5 Millionen beziffert wird. Die Normalbeschäftigung umfaßt heute noch etwa sechs von zehn aller Beschäftigungsverhältnisse, vor 20 Jahren waren dies noch 80 Prozent Nach Schätzungen für die nahe Zukunft ist ein weiterer deutlicher Rückzug „normaler“ Beschäftigungen zu erwarten. Dies hat nicht nur Folgen für die Entlohnung und die Arbeitsplatzsicherheit, sondern zeitigt fundamentale Konsequenzen für die soziale Absicherung vieler solchermaßen Beschäftigter, ist doch die soziale Sicherung (für die „großen“ Risiken Ar Jahren waren dies noch 80 Prozent 17. Nach Schätzungen für die nahe Zukunft ist ein weiterer deutlicher Rückzug „normaler“ Beschäftigungen zu erwarten. Dies hat nicht nur Folgen für die Entlohnung und die Arbeitsplatzsicherheit, sondern zeitigt fundamentale Konsequenzen für die soziale Absicherung vieler solchermaßen Beschäftigter, ist doch die soziale Sicherung (für die „großen“ Risiken Arbeitslosi, keit, Krankheitsfolgen, Invalidität, Alter) an d Höhe der Löhne und die Dauer der sozialversich rungspflichtigen Beschäftigung gekoppelt.
Zwischen 1980 und 1990 ist in Westdeutschlan ein Zuwachs der vollzeitbeschäftigten Niedrigve diener (Einkommen unter 75 Prozent des jeweil gen westdeutschen Durchschnittsverdienstes) fes zustellen -er beträgt rund 15 Prozent 18. Manch Beobachter rechnen mit einer durchgreifende „Polarisierung“ am Arbeitsmarkt, die letztlic einer Spaltung gleichkommt. Der international Wettbewerb in einer offenen Weltwirtschaft (d. 1 unter Globalisierungsbedingungen) führe, lass man den „Markt auf der ganze(n) Linie gewäh ren“, dazu, daß es in naher Zukunft zu einer Aul teilung der Beschäftigten in Kern-und Randbeleg schäften kommen werde 19. Kernarbeitsplätz („Core jobs“) sind die hochqualifizierten, mobiler kreativen, dazu auch gut und hochbezahlte: Beschäftigungen. Randarbeitsplätze („Fring jobs“) erfordern keine besonderen Qualifikationei und werden deshalb vergleichsweise schiech bezahlt. Erstere werden etwa 20 Prozent de Beschäftigten umfassen und 80 Prozent „Fring jobs“ gegenüberstehen. Franz Josef Radermacher 20 spricht von der Notwendigkeit, das ganze Job System umbauen zu müssen, von erheblichen Ein büßen beim Einkommen und einer Ausweitung der Arbeitszeit, um gleichen Lohn erhalten zu können 4. Fazit aus den Trends Alle bisher angewandten Strategien einer Förderung des Wirtschaftswachstums, wozu in den letzten Jahren die angebotsorientierten Varianten zu rechnen sind, haben nicht zu arbeitsplatzschaffenden hohen Wachstumsraten geführt. Nachfrage-orientierte Strategien einer Binnenmarktstimulierung laufen selbst dann, wenn sie Wirkung zeigen. Gefahr, durch die außenwirtschaftliche Spannung internationaler Krisen konterkariert zu werden, wie sich dies aktuell andeutet. Es ist angesichts des forcierten Wettbewerbsdrucks, unter dem heute insbesondere die international tätigen Unternehmen stehen, und des zügigen Einzugs der Informationstechnologien in den Dienstleistungssektor nicht davon auszugehen, daß die gesamtwirtschaftliche Arbeitsproduktivität sinken wird. Im Gegenteil, wahrscheinlicher ist, daß sie sich in gleichem oder gar in forciertem Tempo weiter erhöht. Auf der anderen Seite darf bezweifelt werden, daß in den nächsten Jahren einschneidende Arbeitszeit-verkürzungen gleich welcher Art durchsetzbar sein werden. Somit ist auch in Zukunft mit eher moderatem Wirtschaftswachstum bei hoher Arbeitsproduktivität und verstärktem Andrang auf dem Arbeitsmarkt zu rechnen. Wenn Industrie und Dienstleistungsunternehmen ihre beträchtlichen Rationalisierungspotentiale in naher Zukunft auch nur zum Teil realisieren, werden sich die Arbeitsmarktprobleme im allgemeinen und das der Arbeitslosigkeit im besonderen weiter verschärfen.
Die unter Globalisierungsbedingungen sich vollziehenden ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in den hochentwickelten Ländern werden von manchen Beobachtern durchaus dramatisch eingeschätzt. Richard Münch hält fest, daß es in naher Zunkunft ein „Hineinwuchern der Dritten in die Erste Welt“ geben könne. Ulrich Beck spricht von einer möglichen „Brasilianisierung Europas“. Ralf Dahrendorf sieht die Gefahr der Entstehung einer neuen Unterklasse und eine „Gefährdung des sozialen Zusammenhalts“ und warnt, daß ein „Jahrhundert des Autoritarismus . . . keineswegs die unwahrscheinlichste Prognose für das 21. Jahrhundert“ darstelle.
III. Lösungskonzepte
Den in der Literatur zu findenden Ansätzen zur Bewältigung der geschilderten Problemlagen ist eine in vielfacher Hinsicht ähnliche Bestimmung der zukünftigen Probleme von Ökonomie, Arbeitsmarkt und auch Sozjalstaat gemeinsam. Ein zentrales Kennzeichen der Lösungsvorschläge ist, daß sie einen Bruch vollziehen mit vertrauten Begriffen, Konzepten und Definitionen, die uns für das Verständnis von Ökonomie und Gesellschaft heute zur Verfügung stehen, und eine Abkehr fordern von vermeintlich wirkungslosen Reformstrategien, wie sie die Realpolitik hervorbringt. Sie zielen auf eine Neudefinition des Arbeitsbegriffs, den Umbau der Arbeitsgesellschaft und der sozialen Sicherungssysteme, auf neue ökonomische und gesellschaftliche Zielbestimmungen. Die Literatur zur Zukunft von Ökonomie, Arbeit und Sozialstaat ist nahezu unerschöpflich, weshalb an dieser Stelle nur eine Auswahl von wenigen einschlägigen Werken vorgestellt wird, deren Lösungsansätze die Breite und zugleich auch Divergenz der aktuellen Diskussionen veranschaulichen
Bei vornehmlich ökonomischer Perspektive lassen sich eine („spät“ -) keynesianische und eine neoliberale Variante unterscheiden Institutionalisiert ist erstere in der „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“ (Memo-Gruppe), die seit 1975 jährlich ein „Gegengutachten“ zum Sachverständigen-rat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung abgibt und jeweils eine Lageeinschätzung und alternative Vorschläge unterbreitet. Ein führender Vertreter der Arbeitsgruppe, Rudolf Hickel, hat kürzlich eine „Streitschrift“ veröffentlicht mit dem Ziel, die „Irrtümer deutscher Wirtschaftspolitik“ entlarven zu wollen Die „ökonomischen Hebel“ zum Abbau der Arbeitslosigkeit und der Reduzierung von Einkommensungleichheiten sind eine Stärkung des Wirtschaftswachstums, ein Ausbau der personenbezogenen Dienstleistungen und eine Verkürzung der Arbeitszeit Gefordert wird eine Ablösung der restriktiven Wirtschaftspolitik durch „expansive Finanzpolitik sowie unterstützende Geldpolitik“ (Ankurbelung des Wachstums), veränderte Steuerpolitik (Entlastung der Einkommen), eine an der Produktivität orientierte Lohnpolitik (Stärkung der Binnennachfrage) sowie verschiedene Formen der Verkürzung der Arbeitszeit Weiter werden Reformmaßnahmen im Bereich der Bildung, Innovations-, Industrie-und Arbeitsmarktpolitik vorgeschlagen. Alle diese Vorschläge sollen der Über-windung der Massenarbeitslosigkeit dienen und die „bezahlte Arbeit“ ausweiten
Eine andere, neoliberal zu klassifizierende „Erneuerungsstrategie“ für Wirtschaft und Sozialstaat schlägt die Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen in ihrem dritten Berichtsteil vor Es ist ein in aller Deutlichkeit formulierter und seine Konsequenzen reflektierender Bericht: ein neoliberales Manifest, garniert mit dem kommunitären Element „belohnter“, aber nicht „entlohnter“ Bürgerarbeit Es wird eine umfassende wirtschaftliche und gesellschaftliche „Erneuerung“ gefordert, in Wirtschaft wie auf dem Arbeitsmarkt mit „schmerzhaften Übergängen“ gerechnet und als Ziel des Abschieds von der heutigen „arbeitnehmerzentrierten Industriegesellschaft“ der Aufbau einer „unternehmerische(n) Wissensgesellschaft“ angemahnt. In dieser würden sich große Bevölkerungsgruppen „zu Unternehmern ihrer Arbeitskraft und Daseinsvorsorge entwickeln“. Im Zentrum der Vorschläge steht die Senkung des Preises für Arbeit. Die Vorschläge des Berichts kehren ihren Charakter vielleicht am markantesten hervor, wenn „Wirkungen der Differenzierung und Senkung von Arbeitseinkommen sowie mögliche Reaktionen“ ausgebreitet werden: „Statt geringe Erwerbseinkommen durch Transfers zu ergänzen, kann die Bevökerung auch hinnehmen, daß der Lebensstandard von Teilen der Erwerbsbevölkerung zusammen mit deren Einkommen abnimmt. Das setzt voraus, daß die Sozial-bzw. Arbeitslosenhilfesätze für Erwerbsfähige gesenkt werden.“ Resultat dieser Erneuerungsstrategie wären eine Entlastung der öffentlichen Haushalte, „der Wirtschaft und Gesellschaft“, wobei sich die „Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft“ steigern würde. Die Autoren des Berichts räumen weiter ein, daß dieser Strategie „unerwünschte Wirkungen“ gegenüberstünden wie eine Erhöhung der Einkommensungleichheit, der Armut, der sozialen Spannungen und der Kriminalität. Eine Steigerung der Kosten für innere Sicherheit, die Entstehung von Armutsvierteln und ein Anstieg der Kranken-rate seien nicht auszuschließen. Das Ganze könnte allerdings in kontraproduktiver Weise zu einer verstärkten „Inanspruchnahme von Leistungen der Sozialversicherung führen“. Das bedeutet: „Ob die damit verbundenen Mehrkosten durch erhöhte Beitragseinnahmen infolge von Mehrbeschäftigung ausgeglichen werden, ist ungewiß.“ Es wird weiter darüber spekuliert, ob die Niedrig(st) lohnbezieher durch Tranfers eine Aufstokkung ihrer Einkommen erfahren sollten. Davon wird jedoch abgeraten, weil sich die Erwerbsfähigen daran gewöhnen könnten, „durch Transfers versorgt zu werden“. Alles dies beeinträchtige die „Entwicklung zur unternehmerischen Wissensgesellschaft“ Die „Anpassung“ wird als „unvermeidlich“ angesehen; zwar dürfe einerseits soziale Ungleichheit nicht gesellschaftsdestabilisierend wirken, andererseits aber dürfe „der notwendige und wünschenswerte Wandel der Gesellschaft nicht behindert werden“
Einen viel umfassender angelegten alternativen Ansatz, Ökonomie, Arbeitsmarkt und Sozialstaat neu zu denken sowie Arbeit in Zukunft neu und gerecht zu verteilen, unternimmt der neue Bericht an den Club of Rome von Orio Giarini und Patrick M. Liedtke Die Autoren sehen keine Lösung des Beschäftigungsproblems mit den herkömmlichen Mitteln. Es werden die Begriffe der (produktiven) Arbeit und der Erzeugung von Wohlstand in der heutigen Dienstleistungsgesellschaft diskutiert, und es wird ein Drei-Schichten-Modell des Arbeitsmarktes der Zukunft entworfen Alle Erwerbsfähigen sollen einer gesellschaftlich nützlichen Tätigkeit nachgehen können und eine Grundsicherung die Armut vermeiden. Jeder Einkommenserwerb setzt eine Tätigkeit voraus. Die „Basiseinheit der Arbeit“, eine aus den Mitteln der Arbeitsmarktpolitik, der Sozialhilfe und anderen Transfers finanziell gestützte Teilzeittätigkeit (etwa 20 Stunden pro Woche/1 000 im Jahr) für alle 18-bis 70jährigen (ggf. bis 78 Jahre), soll „absolute Armut“ vermeiden und alle erwerbsfähigen Gesellschaftsmitglieder integrieren. Die sogenannte „zweite Schicht“ umfaßt die marktwirtschaftlichen Gesetzen unterstehenden Tätigkeiten. Sie ist „Mittelpunkt der Wirtschaft“, und die Menschen sollen frei entscheiden können, wie groß ihr Einsatz in dieser Schicht sein soll. Das Engagement in der zweiten Schicht kann die Tätigkeit in der ersten überflüssig machen. In der zweiten Schicht sollen durch Betriebsrenten und Vermögensbildung zusätzliche Mittel (neben den Einkommen aus dem bekannten Rentenversicherungsystem) für den Ruhestand angesammelt werden. In der „dritten Schicht“ fallen die soge-nannten nichtmonetisierten produktiven Tätigkeiten an, die unbezahlt und freiwillig erbracht werden.
Einen umfassenden Ansatz, im Detail weniger ausgearbeitet als bei Giarini und Liedtke, dafür gesellschaftstheoretisch weit ausgreifend, verfolgt Anthony Giddens mit dem Konzept des „dritten Weges“ Giddens entwirft darin eine „Theorie und eine politische Praxis“, die über die alte Sozialdemokratie und den Neoliberalismus hinausgehen will. Der dritte Weg will das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft neu bestimmen und soziale Gerechtigkeit in den Mittelpunkt der Politik stellen Eine grundlegende Aussage offenbart den provozierenden Ansatz des dritten Weges: „In seiner bestehenden Form kann der Sozialstaat nicht überleben.“ Ohne das Konzept im Detail würdigen zu können, seien einige Aspekte, die Ökonomie und Sozialstaat betreffen, benannt: Die Bedingungen, unter denen der Sozialstaat funktionieren konnte, werden zunehmend obsolet; unter den Verhältnissen der Globalisierung schrumpft seine Souveränität. Soziale Risiken haben ihre Gestalt verändert. Heute haben wir es immer stärker mit „hergestellten“ anstatt mit „äußeren“ Risiken zu tun „Äußere“
Risiken kann man in versicherungsmathematischer Weise angehen. Dies gelingt mit den hergestellten nicht in gleicher Weise. Sie sind von Menschen erzeugte Gefährdungen, die durch eine neue „Politik der Lebensführung“, die zu einer Änderung von Lebensstilen führen soll, zu bewältigen sind; so könnten die Risiken durch Vorbeugung und Verhütung minimiert werden. Giddens nennt als Beispiele Verkehrsunfälle oder Konflikte/Trennungen im Bereich von Ehe und Familie.
Staatliche Intervention und globale Zusammenarbeit sind allerdings weiterhin notwendig, wie er am Beispiel der Gesundheitsvorsorge durch Verminderung der Luftverschmutzung zeigt. Giddens sieht folgenreiche Spaltungen, die sich erheblich auf die Sozialsysteme auswirken werden, auf die Gesellschaften zukommen: zwischen den Generationen, zwischen den Geschlechtern und zwischen Arm und Reich. Nur eine Veränderung der Lebensstile -die Änderung der Art und Weise des Umgangs zwischen Alt und Jung, Mann und Frau, Arm und Reich -wird neue Formen der Wohlfahrt erzeugen können Der dritte Weg -sein zentrales Motto: „Keine Rechte ohne Verpflichtungen“ -fordert die Verantwortung der Einzelnen, mehr private Vorsorge zu treffen. Er tritt ein für eine Förderung der lokalen Gemeinschaften, der Selbsthilfe, und betont zugleich die Notwendigkeit der Stärkung internationaler Organisationen, an die der Nationalstaat Kompetenzen abtreten müsse.
Es kann auf zwei weitere einschlägige Publikationen verwiesen werden. Eine Studie von Andre Gorz befaßt sich in ausführlicher Weise mit dem Begriff der Arbeit und der Krise der (Erwerbs-) Arbeitsgesellschaft Gorz fordert angesichts der kontinuierlichen gesamtwirtschaftlichen Abnahme der Arbeitsmenge und der dadurch nicht vermeidbaren Arbeitslosigkeit eine drastische Reduzierung der Arbeitszeit innerhalb von 15 bis 20 Jahren auf etwa 1 000 Stunden im Jahr -und dies ohne eine Senkung des Lebensstandards. Die Einkommen dürften nicht mehr von der geleisteten Arbeitsmenge, sondern müßten von der Größe des gesellschaftlich erzeugten Reichtums abhängig gemacht werden Gorz schlägt das Tätigsein aller Gesellschaftsmitglieder in verschiedenen Segmenten der Arbeit vor: in ökonomisch zweckbestimmter Arbeit (Lebensunterhaltssicherung), in Hausarbeit und Eigenarbeit (Reproduktionsarbeit) sowie in autonomen Tätigkeiten (Tätigkeit als Selbstzweck) Da die Wirtschaft immer weniger Arbeitskraft benötige, folgert er: „Die Unterordnung aller anderen menschlichen Tätigkeiten und Ziele unter die Lohnarbeit und die ökonomischen Zwecke verliert damit ihre Notwendigkeit und ihren Sinn.“
Eine eindringliche Analyse der Globalisierung, der Erosion des Sozialstaates (und der ihnen zugrundeliegenden Sozialverträge) in den entwikkelten Industrieländern sowie eine Kritik der „Wettbewerbsideologie“ leisten die Autoren der Gruppe von Lissabon Eine Lösung der Probleme der Armut, des Arbeitsmarktes, der Ökologie, der Sozialsysteme sowie der globalen Spaltung in reiche und arme Nationen sehen die Autoren in einer „globalen Steuerung“, deren Basis vier globale Sozialverträge sein sollen der „Grundbedürfnisvertrag“ (Beseitigung von Ungleichheiten), der „Kulturvertrag“ (Ermöglichung von Toleranz und interkulturellem Dialog), der „Demokratievertrag“ (Durchsetzung der globalen Steuerung mit „globalen Bürgerversammlungen“), der „Erdvertrag“ (Förderung nachhaltiger Entwicklung).
IV. Folgerungen für den prekären Wohlstand und Ausblick
Die beschriebenen Lösungsansätze, auf die aktuellen und kommenden Herausforderungen zu reagieren, sind insgesamt sicherlich von hoher Radikalität, wenn auch ihre raumgreifenden Postulate dem Gewicht ihrer Prognosen über zukünftige Entwicklungen angemessen erscheinen. Die derzeitigen und die zukünftigen Probleme und Konflikte werden sich nicht mehr allein in einem nationalen Rahmen bewältigen lassen. Die Gruppe von Lissabon sieht nur in einer globalen Sichtweise und Handlungsweise eine angemessene und auch erfolgversprechende Bewältigung der Problem-lagen. Doch wird die Lösung auch nicht in einem „supranationalen Großstaat oder gar Weltstaat“ zu finden sein, wenngleich neue Formen internationaler Zusammenarbeit auf europäischer und globaler Ebene notwendig erscheinen Die vorgestellten Alternativen stehen in sehr starkem Kontrast zu dem, was heute realpolitisch machbar erscheint. Es ist zu erwarten, daß durch den Druck der oben erläuterten Trends die Gesellschaften vor größte Herausforderungen gestellt werden. Die Formen sozialer Spaltung in Kern-und Randbelegschaften, in Hoch-und Niedrigqualifizierte, in Gut-und Schlechtbezahlte, in Erwerbstätige und Arbeitslose werden dem Thema sozialer Ungleichheit und der sozialen Frage zu neuer Brisanz verhelfen. Schlecht bezahlte Teilzeitarbeit, gering entlohnte Dienstleistungstätigkeiten, Saisonarbeit und andere deregulierte Beschäftigungsverhältnisse werden weiter an Bedeutung gewinnen und die sogenannten Normalarbeitsverhältnisse zur Mangelware auf dem Arbeitsmarkt geraten lassen. Die soziale Absicherung wird, selbst wenn es nicht zu weiteren Einschnitten in das soziale Netz kommen sollte, für viele Menschen brüchiger werden. Sie greift bekanntlicherweise nur dann befriedigend, wenn ausreichend hohe Löhne erzielt werden und eine kontinuierliche Erwerbsintegration gewährleistet ist. Damit werden jedoch in Zukunft immer weniger Arbeitnehmer rechnen können. Wachsende Teile der Erwerbsbevölkerung werden in den kommenden Jahren die Erfahrung machen, Arbeitslosigkeit und/oder Armut im Wechsel mit der Ausübung befristeter und/oder sozial ungesicherter Beschäftigungen zu erleben. Das Risiko, in Armut zu geraten, wird steigen. Der Ausstieg aus der Armut wird meistens nicht in den gesicherten Wohlstand führen. Die Betroffenen werden in der Nähe der Armut, im prekären Wohlstand, verbleiben. Ein nicht kleiner Bevölkerungsteil könnte aber auch aus den bislang gesicherten Einkommenslagen in ungesicherte absinken. Aufstiege würden (noch) seltener und Abstiege womöglich häufiger. Der Bevölkerungsteil, der langfristig oder dauerhaft in prekärem Wohlstand wird leben müssen, wird sich erhöhen. Mehr Menschen als heute werden in Armutsgefährdung leben, vielfach unzureichend mit den Wohlstandsgütern des modernen Lebens ausgestattet sein und eine unzureichende soziale Absicherung haben.
Abschließend sei darauf verwiesen, daß bereits heute die Politik auf die sich abzeichnenden Veränderungen reagiert. Die neue Bundesregierung hat sich Ziele gesetzt („Bündnis für Arbeit“, Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit, „Rente ab 60“, Ökosteuerreform u. a. m.),'die einer Spaltung der Gesellschaft entgegenwirken dürften. Doch vergegenwärtigt man sich noch einmal die oben geschilderten Trends, die Befürchtungen einiger Beobachter und die Radikalität der Vorschläge und der alternativen Konzepte, dann scheinen die derzeitigen Maßnahmen dem beschleunigten Strukturwandel in Ökonomie und Arbeitsmarkt zu wenig angemessen zu sein. Es stellt sich die Frage, ob die Politik nicht in einen umfassenden Dialog mit der Gesellschaft (Wissenschaft, Organisationen und freie Initiativen) eintreten muß, um die (hergestellten) Risiken und die großen Gefahren, die ja offensichtlich sind, zu diskutieren mit dem Ziel, ein neues Management der Bewältigung (regional, national, europaweit, global) zu entwickeln und zur Entfaltung kommen zu lassen.
Werner Hübinger, Dr. phil., geb. 1957; geschäftsführender Gesellschafter des Instituts für Sozialberichterstattung und Lebenslagenforschung -ISL-Frankfurt am Main. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg. zus. mit Richard Hauser) Die Caritas-Armutsuntersuchung. Eine Bilanz, Freiburg 1995; Prekärer Wohlstand. Neue Befunde zu Armut und sozialer Ungleichheit, Freiburg 1996; (zus. mit Udo Neu-mann) Menschen im Schatten. Lebenslagen in den neuen Bundesländern, Freiburg 1998.