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Armut im Kindes-und Jugendalter | APuZ 18/1999 | bpb.de

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APuZ 18/1999 Die Entwicklung der Einkommensverteilung und der Einkommensarmut in den alten und neuen Bundesländern Eine Frage der Gerechtigkeit Armut und Reichtum in Deutschland Prekärer Wohlstand. Spaltet eine Wohlstandsschwelle die Gesellschaft? Verdeckte Armut in der Bundesrepublik Deutschland. Begriff und empirische Ergebnisse für die Jahre 1983 bis 1995 Armut im Kindes-und Jugendalter

Armut im Kindes-und Jugendalter

Christian Palentien/Andreas Klocke/Klaus Hurrelmann

/ 13 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Betraf Armut noch bis zur Mitte der achtziger Jahre vor allem ältere Menschen, die aufgrund einer unzureichenden Rentenversorgung als arm galten, so rückt heute überproportional, durch das Ereignis „Arbeitslosigkeit“, die Altersgruppe der Kinder und Jugendlichen in die Armutspopulation vor. Parallel dazu wächst ein ebenfalls zunehmender Anteil von Kindern und Jugendlichen in sehr wohlhabenden Familien auf. Die Folgen dieser Auseinanderentwicklung der Lebensbedingungen der heranwachsenden Generation stehen im Mittelpunkt dieses Beitrags. Gezeigt wird, daß die tendenzielle Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich insbesondere bei den von Armut betroffenen Kindern und Jugendlichen zu erheblichen Anspannungen und Belastungen führt.

Lange Zeit galt Armut in der Bundesrepublik Deutschland als ein zu vernachlässigendes Problem. Heute, rund 25 Jahre nachdem erstmals von der Europäischen Union für alle Mitgliedsstaaten die Erstellung sogenannter „Armutsberichte“ beschlossen wurde setzt sich die Erkenntnis durch, daß auch in zahlreichen fortgeschrittenen Gesellschaften ein Armutsproblem besteht. Ausschlaggebend für diese Veränderung des öffentlichen und fachöffentlichen Diskurses in der Bundesrepublik Deutschland ist vor allem der rasant steigende Anteil derjenigen, die dauerhaft oder zeitweise auf „laufende Hilfe zum Lebensunterhalt“ (Sozialhilfe) angewiesen sind.

Charakteristisch für die Lebenslage „Armut“ ist, daß mit ihr nicht nur in einem sozialen Bereich, z. B.dem Einkommensbereich, Ausgliederungsprozesse zu verzeichnen sind, sondern in verschiedenen Lebenslagen. Dabei können sich Desintegrationseffekte in einem Bereich, etwa der Erwerbsarbeit (z. B. durch Arbeitslosigkeit), auf Desintegrationsprozesse in einem anderen Bereich (z. B. soziale Netzwerke) und auf Desintegrationsprozesse im Versorgungsbereich (z. B. Krankenversorgung) übertragen.

Gegenstand des folgenden Beitrags sind diese Folgen für die immer stärker von Armut betroffene Altersgruppe der Kinder und Jugendlichen. Hierzu werden -neben einer Darstellung der Ursachen und der Verbreitung von Armut in dieser Altersgruppe -die Ergebnisse eines Forschungsprojekts vorgestellt, das sich mit den Auswirkungen von Armut bei Kindern und Jugendlichen beschäftigt. Sie zeigen, daß Armut die gesamte Lebenssituation eines jungen Menschen betrifft. Im Anschluß hieran werden Folgerungen dargestellt, die sowohl auf die Vermeidung wie auf die Abschwächung der mit der Armut verbundenen Konsequenzen gerichtet sind.

I. Ursachen und Wandel der Armut: Kinder-und Jugendliche als Armutsgruppe

Tabelle 1: Kinder und Jugendliche in Einkommensarmut: 1990 und 1995 (in Prozent) Quelle: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Datenreport 1997, Bonn 1997, S. 523 f. Datenbasis: Sozioökonomisches Panel (SOEP) 1984-1995.

Nach dem Rückgang der Nachkriegsarmut war das Armutsthema als soziales Problem lange Zeit nicht präsent. Erst seit den achtziger Jahren wird es erneut intensiv diskutiert. Bezeichnete Armut bis dahin eine abgeschottete und damit in beide Richtungen nahezu undurchlässige Grenze zwischen gesellschaftlich integrierten und ausgegrenzten Menschen -zur Armutsbevölkerung zählten dauerhaft marginalisierte Gruppen wie Obdachlose, Sozialhilfeempfänger, Gelegenheitsarbeiter, ausländische Mitbürger und eine „Randschicht“ von sozial schwachen Haushalten, die oftmals in der Generationenfolge in Armut lebten so setzte Anfang der achtziger Jahre eine Veränderung des Bildes von Armut ein. Unter dem Stichwort der „neuen Armut“ wurde eine zunehmende Heterogenität innerhalb der Armutspopulation beobachtet, die immer weniger durch die „traditionellen“ Armen (Obdachlose, Gelegenheitsarbeiter) geprägt war. Vielmehr waren es vermehrt Normalhaushalte, die aus verschiedenen Gründen von Armut bedroht waren und in Armut gerieten.

Diese Entwicklung hat sich in den letzten Jahren in rasantem Tempo fortgesetzt. Heute ist das Armutsrisiko bis in die Mittelschicht vorgedrungen, insbesondere durch das Ereignis Arbeitslosigkeit. Etwa jeder fünfte Bundesbürger zählt heute zur Gruppe der Niedrigeinkommensbezieher (weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens); und sogar 45 Prozent aller Westdeutschen waren im Zeitraum von acht Jahren (1984 bis 1992) mindestens ein Jahr lang hiervon betroffen

Verändert hat sich in den letzten Jahren aber nicht nur das Ausmaß der von Armut Betroffenen, verändert haben sich auch die Ursachen der Armut. Waren bis vor etwa 10 bis 15 Jahren vor allem Menschen von Armutslagen bedroht, auf die das Kriterium „nicht mehr im Erwerbsleben“ zutraf,also insbesondere die alten Menschen im Renten-status, so gilt das heute nicht mehr. Seit einigen Jahren rücken statt dessen vor allem Kinder und Jugendliche in die Armutsgruppe vor:

-Heute ist die Hauptursache für die Betroffenheit von Armut die Arbeitslosigkeit. Arbeitslosigkeit bezieht sich definitionsgemäß auf Personen im erwerbsfähigen Alter, also Menschen im Alter von etwa 20 bis 60 Jahren. Sie leben zum überwiegenden Anteil in Familien, zusammen mit Kindern.

-Weiterhin hat der Anteil von Alleinerziehenden in den letzten Jahren stark zugenommen.

Insgesamt sind etwa 15 Prozent aller Familien in der Bundesrepublik Deutschland Einelternfamilien. Von diesen Familien leben mehr als 40 Prozent in Armut.

-Kinderreiche Familien stellen eine weitere Bevölkerungsgruppe dar, die von Armut bedroht ist. Kinder verursachen in der Bundesrepublik Deutschland monatliche Kosten, die gegenwärtig mit etwa 500 bis 800 DM pro Kind zu veranschlagen sind Familien mit drei und mehr Kindern gelten dementsprechend zu 46 Prozent in Ostdeutschland und zu 31 Prozent in Westdeutschland als arm (Tabelle 1).

II. Verbreitung von Kinder-und Jugendarmut

Tabelle 2: Soziale Lage und psychosoziales Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen im Extremgruppenvergleich (Angaben in Prozent) Datenbasis: Health Behaviour in School-Aged Children (HBSC) Survey, Universität Bielefeld (Odds-RatioWerte geben das relative Risiko an, auf Grund der sozialen Lebenslage gesundheitliche Beeinträchtigungen davonzutragen); alle Zusammenhänge sind signifikant auf dem 1-Prozent-Niveau.

Tabelle 1 weist die Armutsbetroffenheit in der Gruppe der Kinder und Jugendlichen auf der Grundlage der Einkommensarmut aus. Relative Armut ist hier als 50-Prozent-Abweichung vom äquivalenzgewichteten Durchschnittseinkommen, das Personengewichte nach dem Alter und der Anzahl der Personen im Haushalt berücksichtigt, definiert.

Zunächst kann festgehalten werden, daß gegenüber den Zahlen von 1990 sich im Jahre 1995 die Struktur der Armut in West-und Ostdeutschland angeglichen hat. Die Zusammenstellung der Daten macht deutlich, daß Kinder und Jugendliche überproportional stark von Armut betroffen sind. So sind im Jahre 1995 13 Prozent der Westund 11, 5 Prozent der Ostdeutschen arm, die Altersgruppe der Kinder und Jugendlichen unter 15 Jahren weist deutlich erhöhte Armutsquoten von 21, 8 Prozent in West-und von 19, 7 Prozent in Ostdeutschland auf. Des weiteren kann in der Tabelle abgelesen werden, daß kinderreiche Familien, alleinerziehende Haushalte sowie ausländische Haushalte besonders von Armut betroffen sind

III. Auswirkungen der Armut bei Kindern und Jugendlichen

Anzunehmen, daß die Folgen dieser überproportionalen Armutsbetroffenheit von Kindern und Jugendlichen lediglich auf die finanzielle Situation der Familie beschränkt bleiben, wäre verfehlt. Im Gegenteil: Gerade bei Kindern und Jugendlichen führt die zunehmende Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich zu zahlreichen Anspannungen und Belastungen.

Neben einer wachsenden Minderheit der Kinder und Jugendlichen, die in Armutsverhältnissen auf-wächst, lebt -auf der anderen Seite des sozialen Spektrums -eine ebenfalls wachsende Zahl in sehr wohlhabenden Familien. Insbesondere diese Auseinanderentwicklung der Lebensbedingungen der heranwachsenden Generation hat erhebliche Auswirkungen auf deren Wohlbefinden sowie Teilnahmemöglichkeiten und Lebenschancen der in Armut lebenden Kinder und Jugendlichen Haben ältere Menschen noch den Vorteil, daß sie ihre Armutssituation verschweigen können, gilt das für jüngere Menschen meist nicht. Soziale Auffälligkeit, Angst vor Stigmatisierung, Leistungsstörungen, Abbruch sozialer Kontakte, Delinquenz, soziale Isolation und psychosomatische Störungen sind vielfach die Folge.

Deutlich wird dieses Bild bei einem Blick auf den zentralen Lebensbereich der Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, der erhebliche Auswirkungen und Belastungsfaktoren von Armut erkennen läßt. Datenbasis ist hier die Studie „Health Behaviour in School-Aged Children -A WHO Cross National Survey“. Die Studie ist Teil eines internationalen Forschungsverbundes, der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO, Regionalbüro Europa in Kopenhagen) unterstützt und koordiniert wird. Die Studie liefert sozialepidemiologisch aussagekräftige Daten über den körperlichen, psychischen und sozialen Gesundheits-und Krankheitszustand Jugendlicher und erhebt gesundheitsrelevante Daten über Einstellungen und Verhaltensweisen. Befragt wurden 341 Kinder und Jugendliche an Schulen im Bundesland Nordrhein-Westfalen im Alter von 10 bis 17 Jahren. Die Studie wurde im Frühsommer 1994 durchgeführt.

Die Ergebnisse dieser Untersuchung zeigen, daß der Ausschluß von Aktivitäten und Lebensmustern der Gleichaltrigen bei den Kindern und Jugendlichen aus sozial schwachen Familien zu einer starken Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls, des psychosozialen Wohlbefindens und der Lebensfreude führt 6. Psychosoziales Wohlbefinden kann im Kindes-und Jugendalter als quasi bilanzierendes Maß der sozialen Integration in der Gleichaltrigengruppe und des Zurechtfindens in der Gesellschaft angesehen werden und ist in hohem Maße für die kognitive und emotionale Entwicklung der Jugendlichen bedeutsam. Den Auswirkungen sozialer Randstellung auf die psychosoziale Gesundheit der von sozialer Randstellung betroffenen Kinder und Jugendlichen kommt somit aus entwicklungspsychologischer Sicht eine große Bedeutung zu.

Die Nicht-Teilnahme an den Alltagsroutinen der Gleichaltrigengruppe und die Nicht-Teilhabe an den Symbolen der Warenwelt wird in der Entwicklungsphase von Kindern und Jugendlichen als besonders belastend empfunden und erschwert den Prozeß der sozialen und personalen Identitätsbildung, wie die Indikatoren des psychosozialen Wohlbefindens in Tabelle 2 unterstreichen.

Betrachtet man die in Tabelle 2 ausgewiesenen Ergebnisse, so zeigt sich durchgängig ein Einfluß der sozialen Lage auf die von den Kindern und Jugendlichen berichtete psychosoziale Gesundheit. Diejenigen Kinder und Jugendlichen, die in Armut aufwachsen, berichten eine signifikant höhere psychosoziale Morbidität, Ängstlichkeit, Hilflosigkeit und ein geringeres Selbstvertrauen.

Insgesamt ist das Risiko der Jugendlichen aus der untersten sozialen Schicht um das 2, 48 fache gegenüber den Gleichaltrigen aus der obersten sozialen Schicht erhöht, den eigenen Gesundheitszustand als „sehr schlecht“ zu bewerten, wie dieBetrachtung der Odds-Ratio-Werte in Tabelle 2 deutlich macht.

Die dargestellten Ergebnisse, die sich mit denen der kanadischen Studie von Lipman, Offord & Boyle decken, weisen auf eine erhöhte psychosoziale Morbidität von Kindern und Jugendlichen aus sozial schwachen Familien und auf zahlreiche Konsequenzen für die kindlichen und jugendlichen Sozial-und Sozialisationsbeziehungen hin. Rückzug aus sozialen Beziehungen und eine zunehmende Einsamkeit, wie es als Reaktionsmuster von armen Menschen im Erwachsenenalter bekannt ist, zeigt nach den präsentierten Befunden seine Gültigkeit auch für die Gruppe der Kinder und Jugendlichen in Armutsfamilien. Hiernach verfügen Kinder und Jugendliche nicht nur über ein ausgeprägtes Gespür für soziale Ungleichheiten, sie antizipieren darüber hinaus eine negative Reaktion der sozialen Umwelt und reagieren mit Rückzug und Verleugnung der familialen Armut. Die langfristigen Auswirkungen von Armut auf die Sozialisation und die Biographie von Kindern und Jugendlichen bleiben, so erste Anhaltspunkte der dargestellten Untersuchung, nicht auf die Jugendphase beschränkt Sie setzen sich auch in späteren Lebensphasen fort. Ausgewählte Ergebnisse zum Gesundheitsverhalten Jugendlicher in Armut sprechen für eine Internalisierung ungünstiger Lebensstile, die oftmals in das Erwachsenen-alter mitgenommen werden.

IV. Handlungsansätze zur Vermeidung von Armut und ihren Folgen

Ansätze und Maßnahmen, die zum Ziel haben, Armut zu verhindern bzw. in ihren Konsequenzen abzuschwächen, müssen auf verschiedenen Ebenen ansetzen.

Für den Bereich der Familie zeigt sich, daß soziale Orientierungsprobleme, größere Anforderungen an die individuelle Lebensführung, veränderte und instabile familiale Lebensformen und häufig ambivalente emotionale Bindungen von den Kindern und Jugendlichen ohnehin eine ungewohnt hohe Bewältigungsfähigkeit verlangen. Sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche sind mit diesen Anforderungen in einer höheren Intensität konfrontiert. Geht es darum, der Entstehung von Überforderungen und Streßerleben durch die Familie vorzubeugen, dann müssen sich jegliche Ansätze und Maßnahmen primär auf die Unterstützung solcher Eltern konzentrieren, deren finanzielle -und damit zusammenhängend oft auch psychische und pädagogische -Kräfte erschöpft sind.

Hierneben müssen die veränderten Lebens-und Berufsperspektiven von Eltern berücksichtigt werden: Noch immer kann die Entscheidung, eine Familie mit Kindern zu gründen, mit einer Entscheidung für gravierende und langfristige Einschränkungen von Lebensspielräumen gleichgesetzt werden. Ein völlig unzureichendes Angebot an Tageseinrichtungen für Kleinstkinder, Kinder im Vorschulalter und Schulkinder hat zur Folge, daß eine große Anzahl von Eltern gezwungen ist, selbständig Lösungen für die Kinderbetreuung zu finden. Je nach den sozialen und finanziellen Möglichkeiten fallen diese Lösungen sehr unterschiedlich aus: Materiell schlechter gestellte Eltern sind oftmals auf eine kostenneutrale und eine vielfach für alle Beteiligten sehr anstrengende und aufopferungsvolle Versorgung ihrer Kinder durch Freunde und Verwandte angewiesen, während Eltern aus bessergestellten Bildungs-und Einkommensschichten sich private Betreuungsarrangements leisten können. Nicht nur, daß diese Eltern eine größere Anzahl an Wahlmöglichkeiten haben, in der Regel steigen hierdurch auch die Chancen der Kinder, vielfältige und anregende Betreuungsbedingungen vorzufinden. Schon frühzeitig werden auf diese Weise soziale Differenzierungen, die sich in der Schule und im Beruf fortsetzen können, sozial reproduziert.

Soll der Kreislauf sozialer Deprivation auf der Ebene der Familie abgeschwächt werden, dann erfordert dieses verstärkt eine Familienpolitik, die dafür Sorge trägt, daß eine möglichst stabile, sozial und wirtschaftlich gesicherte und öffentlich anerkannte Form der Erziehung und des Unterhalts aller beteiligten Partner der Familienerziehung möglich wird

Für den Bereich der Schule zeigt sich, daß sie -neben erzieherischen und sozialisatorischen Gesichtspunkten -verstärkt auch kompensatorische Elemente in ihr Konzept einzubinden hat, will sie den gesellschaftlichen und pädagogischen Ansprüchen gerecht werden. Diese dürfen nicht als punktuelle und isolierte Einzelfallhilfe gestaltet sein, sondern müssen vielmehr als eine soziale Unterstützung von problembelasteten Schülerinnen und Schülern verstanden und in eine umfassende lebensweltbezogene Jugendarbeit innerhalb des gesamten Schulsytems einbezogen werden.

Der Schule kommt heute, geht es um Belastungen und Anforderungen im Kindes-und Jugendalter sowie um die Zuweisung gesellschaftlicher Status-positionen, unter den jetzigen Bedingungen des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen ein entscheidender Stellenwert zu. Sie betreffen oftmals die gesamte Persönlichkeit eines jungen Menschen und stehen in einem direkten Zusammenhang zur familialen Situation.

Sollen Anforderungen und Belastungen in der Schule abgebaut bzw. das Entstehen von Überforderungen und Streßerleben im Vorfeld verhindert werden, dann bedarf es -neben den dargestellten Erfordernissen, die die Familie betreffen -dringend Veränderungen, die zum einen an der äußeren Struktur des Schulwesens, also an der gesellschaftlich ausgedrückten Chancenstruktur, und zum anderen an der inneren Strukturierung des Schullebens und des Unterrichts ansetzen. Ziel muß es sein, im inneren Bereich und auch in der äußeren Struktur zu einer Schule zu gelangen, die stärker als bisher ein soziales Forum und einen sozialen Lebensraum, also einen anregenden Bestandteil des Alltags von Schülerinnen und Schülern darstellt und sich zur Aufgabe setzt, die individuelle Verarbeitungs-und Bewältigungskapazität Jugendlicher in ihrer ohnehin schon schwierigen Lebenssituation zu fördern und zu stärken. Hierzu gilt es -im inneren Bereich der Schule -sowohl die curriculare wie auch die interaktive Ebene zu berücksichtigen

Für den Bereich der Jugendhilfe ergeben sich -ähnlich für die Bereiche Familie und Schule -verschiedene Folgerungen. Sie betreffen sowohl die formale -innere -Struktur als auch die Einbindung dieser Hilfeform in andere soziale Netzwerke und Institutionen professioneller Hilfe. Hierzu zählt z. B. die Förderung einer erhöhten Politikfähigkeit und die aktive Parteinahme der Jugendhilfe für sozial, kulturell und materiell benachteiligte Kinder und Jugendliche ebenso wie eine Vernetzung dieser Dienste mit anderen professionellen und informellen Unterstützungs-und Sozialisationssystemen sowie Politikfeldern

Der Aufbau einer stärker dezentral und ambulant ausgerichteten jugendhilfespezifischen Infrastruktur, die eine Vernetzung von Angeboten der Kinder-betreuung mit offenen und zielgruppenbezogenen Beratungsangeboten ermöglicht, ist hier ebenso zu nennen wie bspw. eine weitere Förderung der Jugendberufshilfen, und hier insbeondere der , sozialpädagogischen Hilfen für junge Menschen im Übergang von der Schule zum Beruf'. Die Entwicklung bzw. Anwendung innovativer Bedarfsermittlungsstrategien, in deren Rahmen möglichst das gesamte Spektrum der (kommunalen) Benachteiligungslagen von Kindern und Jugendlichen erfaßt werden kann, bildet die Grundlage einer zielgenauen Jugendhilfeplanung.

All diese Ansätze und Maßnahmen haben zum Ziel, kurz-und mittelfristig die Folgen, die durch ein Aufwachsen in relativer Armut entstehen, abzuschwächen. Langfristig sollte es jedoch darum gehen, bereits im vorhinein das Entstehen sozialer Ausgrenzungs-und Benachteiligungsprozesse zu verhindern, da die Folgen von Armut gegenwärtig für einen Großteil der von ihr Betroffenen weder von der Familie noch von der Schule, noch von der Jugendhilfe adäquat kompensiert werden können. Hier müssen Familienhilfen mit dem nötigen Nachdruck und zugleich der nötigen Feinfühligkeit ansetzen. Aufgabe des Staates ist es, jede Form von Familie zu unterstützen, unabhängig davon, welche religiöse, rechtliche oder soziale Konstellation von den betreffenden Menschen gewählt wird.

V. Veränderung arbeitsmarkt-und familienpolitischer Zielsetzungen

Sind es einerseits sozialpolitische Erwägungen, die eine Familienpolitik erfordern, die dafür Sorge trägt, daß eine möglichst stabile, sozial und wirtschaftlich gesicherte und öffentlich anerkannte Form der Erziehung und des Unterhalts aller beteiligten Partner der Familienerziehung erreicht werden kann, so muß diese ihren Ausgangspunkt andererseits in den veränderten Lebens-und Berufsperspektiven von Eltern haben.

Seit geraumer Zeit nimmt der Anteil der Allein-lebenden, Alleinerziehenden sowie der nichtehelichen Lebensgemeinschaften kontinuierlich zu. Das herkömmliche Bild der sogenannten Durchschnittsfamilie (Vater, Mutter und zwei Kinder) ist längst überholt. Neben der Pluralisierung der Familien-bzw. Lebensformen sind nachhaltige strukturelle Veränderungen auf dem Erwerbssektor zu beobachten. Auf der einen Seite wird die Debatte durch die Schlagworte Globalisierung und Rationalisierung bestimmt und Mobilität, Flexibilität und stetige Weiterqualifizierung der Erwerbstätigen ein-gefordert. In diesem Zusammenhang erfolgt zusehends eine Verschiebung des Arbeitsplatzangebotes zugunsten des Dienstleistungssektors und zu Lasten des produzierenden und verarbeitenden Gewerbes. Dem stehen auf der anderen Seite die Interessen und Bedürfnisse der Nachfrageseite entgegen. Beispielsweise suchen vor allem Frauen in der Familien-phase Teilzeitarbeitsplätze, um Familie und Beruf miteinander in Einklang zu bringen. Zudem ist es für viele Jugendliche schwer, einen adäquaten Ausbildungsplatz und im An-schluß an die Ausbildung eine dauerhafte Anstellung zu finden.

Sollen Überforderungen und Streßerleben sowohl auf Seiten der Eltern wie auch auf Seiten der Kinder und Jugendlichen verhindert werden, dann ist eine wirksame Unterstützung, die hier ansetzt, als eine der dringlichsten Maßnahmen aller gesellschaftspolitischen Kräfte anzusehen. Verstärkt muß erkannt werden, daß die Förderung und Unterstützung von Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern in wirtschaftlicher, sozialer und in erzieherischer Hinsicht immer auch eine Investition in die Zukunft der gesamten Gesellschaft darstellt

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Richard Hauser, Das empirische Bild der Armut in der Bundesrepublik Deutschland -ein Überblick, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 31-32/95, S. 9; Anmerkung der Redaktion: Siehe auch den Beitrag von Richard Hauser in diesem Heft.

  2. Vgl. Stephan Leibfried/Lutz Leisering, Zeit der Armut. Lebensläufe im Sozialstaat, Frankfurt am Main u. a. 1995.

  3. Vgl. Hans-Jügen Andreß/Gero Lipsmeier, Kosten von Kindern -Auswirkungen auf die Einkommensposition und den Lebensstandard der betroffenen Haushalte, in: Andreas Klocke/Klaus Hurrelmann (Hrsg.), Kinder und Jugendliche in Armut. Umfang, Auswirkungen und Konsequenzen, Opladen 1998, S. 26-50.

  4. Vgl. Gunter E. Zimmermann, Formen von Armut und Unterversorgung im Kindes-und Jugendalter, in: A. Klocke/K. Hurrelmann (Anm. 3), S. 51-71.

  5. Vgl. Andreas Klocke, Reproduktion sozialer Ungleichheit in der Generationenabfolge, in: Peter A. Berger/Michael Vester (Hrsg), Alte und neue soziale Ungleichheiten in postindustriellen Gesellschaften, Opladen 1998, S. 211-229; A. Klocke/K. Hurrelmann (Anm. 3).

  6. Vgl. Sabine Walper, Wenn Kinder arm sind. Familienarmut und ihre Betroffenen, in: Lothar Böhnisch/Karl Lenz (Hrsg.), Familien, Weinheim -München 1997. S. 265-281; Andreas Klocke, Aufwachsen in Armut. Auswirkungen und Bewältigungsformen der Armut im Kindes-und Jugendalter, in: Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie (ZSE), 21 (1996) 4, S. 390-409.

  7. Vgl. Ellen L. Lipman/David R. Offord/Micalel H. Boyle, Relation between economic disadvantage and psychosocial morbidity in children, in: Canadian Medical Association, (1994) 151, S. 431-437.

  8. Vgl. Greg Duncan/Jeanne Brooks-Gunn (Hrsg.), Consequences of Growing Up Poor, New York 1997.

  9. Vgl. Andreas Klocke, The Impact of Poverty on Nutrition Behavior in Young Europeans, in: Barbara M. Koehler u. a. (Hrsg.), Poverty and Food in Welfare Societies, Berlin 1997, S. 224-237.

  10. Vgl. Christian Palentien, Jugend und Streß. Entstehung, Ursachen und Bewältigung, Neuwied u. a. 1997.

  11. Vgl. Jürgen Mansel/Christian Palentien, Vererbung von Statuspositionen.'Eine Legende aus vergangenen Zeiten? in: P. A. Berger/M. Vester (Anm. 5), S. 231-251; Klaus Hurrelmann/Christian Palentien, Ganztagsschule als bildungspolitische Aufgabe in Ost-und Westdeutschland, in: Wolfgang Melzer/Uwe Sandfuchs (Hrsg.), Schulreform in der Mitte der 90er Jahre. Strukturwandel und Debatten um die Entwicklung des Schulsystems in Ost-und Westdeutschland, Opladen 1995, S. 103 -117.

  12. Vgl. Elisabeth Helming, Sozialpädagogische Familien-hilfe -Hilfe zur Selbsthilfe für arme Familien, in: A. Klocke/K. Hurrelmann (Anm. 3), S. 288-308.

  13. Vgl. C. Palentien (Anm. 10).

Weitere Inhalte

Christian Palentien, Dr. PH., Dipl. -Päd., geb. 1971; wissenschaftlicher Assistent an der Fakultät für Pädagogik der Universität Bielefeld. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Jürgen Mansel) Vererbung von Statuspositionen. Eine Legende aus vergangenen Zeiten?, in: Peter A. Berger/Michael Vester (Hrsg), Alte und neue soziale Ungleichheiten in postindustriellen Gesellschaften, Opladen 1998. Andreas Klocke, Dr. rer. soz., geb. 1958; Arbeitsbereichsleiter am Staatsinstitut für Familienforschung an der Universität Bamberg. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg. zus. mit Klaus Hurrelmann) Kinder und Jugendliche in Armut. Umfang, Auswirkungen und Konsequenzen, Opladen 1998. Klaus Hurrelmann, Dr. rer. pol., geb. 1944; Professor für Jugend-und Gesundheitsforschung sowie Direktor des Instituts für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik an der Universität Bielefeld. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg. zus. mit Andreas Klocke) Kinder und Jugendliche in Armut. Umfang, Auswirkungen und Konsequenzen, Opladen 1998.