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Name it, count it, end it | Femizid | bpb.de

Femizid Editorial "Wir leben in einem System, das Gewalt begünstigt" Wie tödlich ist das Geschlechterverhältnis? Name it, count it, end it. Femizide erkennen, erfassen und beenden Wissensvermittlung statt Gesetzesänderung. Beziehungsfemizide in der juristischen Praxis Gewalt gegen Frauen in den Nachrichten Ni Una Menos. Portrait einer feministischen Bewegung Hexenverfolgung. Ein historischer Femizid?

Name it, count it, end it Femizide erkennen, erfassen und beenden

Birgit Sauer

/ 15 Minuten zu lesen

Ob eine Verschärfung des Strafrechts die Tötung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts verhindern kann, ist umstritten. Unbestritten ist jedoch, dass einheitliche Maßnahmen zur Sichtbarmachung und Sensibilisierung für die Prävention von Femiziden wichtig sind.

Das Thema "Femizid" ist seit den 1990er Jahren in der öffentlichen und medialen Aufmerksamkeit sowie auf der Agenda internationaler Organisationen wie der Weltgesundheitsorganisation (WHO), dem Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) und dem Europarat angekommen – nicht zuletzt, weil Anti-Gewalt-Bewegungen die Ermordung von Frauen aufgrund des Geschlechts anprangerten und politisierten. Frauenbewegungen im Globalen Süden, insbesondere in Lateinamerika, nutzen den Internationalen Frauentag am 8. März zu Frauenstreiks, um auf die hohe Zahl von Femiziden hinzuweisen. "Ni una menos" (deutsch: nicht eine weniger) ist der Slogan dieser Bewegungen. In dieser Region gelang es feministischen Bewegungen in den 1990er Jahren, die Tötung von Frauen in nationalen Gesetzgebungen als Straftatbestand zu verankern, so in Costa Rica, Chile und Argentinien.

Bislang gibt es in keinem EU-Mitgliedstaat eine rechtliche Definition oder Verankerung von Femizid, wohl aber wird die Tötung von Frauen auf unterschiedliche Weise klassifiziert – als Mord, meist aber als Totschlag. Entsprechend unterschiedlich ist das Strafmaß, sodass auch in Deutschland eine Diskussion darüber entbrannt ist, Femizid als Straftatbestand in das Strafgesetzbuch aufzunehmen. Ob eine explizite Strafverfolgung die Tötung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts verhindern kann, bleibt in der kriminologischen wie auch sozialwissenschaftlichen Literatur umstritten. Unbestritten ist allerdings, dass es einheitlicher nationaler und internationaler Maßnahmen bedarf, um Femizide öffentlich zu machen, ins gesellschaftliche Bewusstsein zu rücken und letztlich auch zu verhindern.

Denn trotz globaler Proteste und internationaler Aufmerksamkeit für den Tatbestand werden jährlich noch immer zahllose Frauen getötet, so 2018 in den 14 EU-Staaten, für die es Daten gibt, über 600 Frauen, meist durch einen (Ex-)Partner oder ein Familienmitglied: Die höchsten Femizidraten hatten Malta, Finnland und Schweden (Mord durch einen (Ex-)Partner) sowie Lettland, Malta und Österreich (Mord durch ein Familienmitglied oder einen Verwandten). 2020 wurden laut Eurostat in den 17 EU-Staaten, für die es Daten gibt, 788 Frauen Opfer einer Tötung durch einen (Ex-)Partner oder ein Familienmitglied. 2022 wurden in Deutschland 105 Frauen durch (Ex-)Partner oder Familienangehörige umgebracht, 2021 waren es 113 und 2020 139. Laut Polizeilicher Kriminalstatistik waren 2018 in Österreich 41 Frauen Opfer eines Mordes, meist ihres (Ex-)Partners. Dies war der Höchststand in den vergangenen zehn Jahren, doch 2021 wurden noch immer 29 Frauen umgebracht.

Global sieht es kaum anders aus. Weltweit waren 2021 zwar nur 19 Prozent aller Opfer von Tötungsdelikten weiblich, doch 56 Prozent aller getöteten Frauen wurden durch eine*n (Ex-)Partner*in oder durch ein Familienmitglied umgebracht. Asien nimmt in 2021 den traurigen Spitzenplatz mit 17.800 getöteten Frauen ein, in Afrika wurden 17.200 Frauen Opfer eines Femizids und in den Amerikas 7.500.

Offensichtlich sind lokale, nationale und internationale Mobilisierungen und Maßnahmen bislang nicht in der Lage, Frauenmorde wirksam zu verhindern. Zwar existieren inzwischen nationale Maßnahmen gegen Gewalt im familiären Nahraum, die durchaus zur Verhinderung von Femiziden durch (Ex-)Partner beitragen, doch andere Formen von Frauenmorden aufgrund des Geschlechts bleiben unentdeckt. Die Fokussierung der Statistiken auf Femizide durch (Ex-)Partner deutet auf eine hohe Dunkelziffer hin, denn nicht alle Frauenmorde werden im familiären und verwandtschaftlichen Umfeld verübt.

Außerdem sind statistische Angaben über Femizide oftmals nicht gesichert. Sie werden in einigen Ländern von NGOs aus Medienberichten oder aus teilweise unvollständigen Polizeistatistiken sowie Daten des Justiz- oder Gesundheitssystems zusammengestellt. Auch die deutschen Datensammlungen sind unzureichend, weil sie zu stark auf Partnerfemizide fokussieren. Dies liegt vor allem daran, dass es keine einheitliche, operationalisierbare Definition von Femizid gibt und zu wenige Indikatoren zur Identifizierung von Femizid berücksichtigt werden. Dadurch bleibt in der EU die Datenerhebung national fragmentiert, was Ländervergleiche und Aussagen über zeitliche Entwicklungen unmöglich macht. Darauf weist das EU-finanzierte COST-Projekt "Femicide Across Europe" seit Langem hin.

Das Europäische Institut für Geschlechtergleichheit (EIGE) hat daher 2021 damit begonnen, Vorschläge für ein Klassifikations- und Indikatorensystem von Tötungsdelikten an Frauen zu entwickeln, auf dessen Grundlage vergleichbare Daten zu Femiziden in den EU-Ländern erhoben werden können: "Name it, count it, end it" lautet der Dreischritt. Dazu gehören eine möglichst anerkannte, umfassende und operationalisierbare Definition von Femizid, eine standardisierte Datenerhebung und darauf fußende Maßnahmen zur Verhinderung von Femiziden. Zu diesem Zweck erstellte die Organisation 2021 mehrere Berichte über den Stand der wissenschaftlichen Diskussion zu Femiziden, einen Überblick über existierende Datenbanken sowie ein Klassifikations- und Indikatorensystem zur Erfassung von Femiziden.

Name it

Der Begriff "Femizid" kursiert seit geraumer Zeit in der wissenschaftlichen, politischen und medialen Debatte. In seiner heutigen Bedeutung wurde er 1976 von der Soziologin Diana E.H. Russell eingeführt als "die Ermordung von Frauen durch Männer, die durch Hass, Verachtung, Vergnügen oder ein Gefühl des Eigentums an Frauen motiviert" ist, und als "die Tötung von Frauen durch Männer, weil sie Frauen sind". Während Russell und ihre Kollegin Jill Radford in ihren frühen Begriffsdefinitionen die geschlechtsspezifische Motivation für die Einstufung der Tötung einer Frau als Femizid hervorhoben, verweisen andere Autor*innen darüber hinaus auf patriarchale und gewalttätige Strukturen.

Bis heute werden nicht alle Tötungsdelikte an Frauen, die als Femizide eingestuft werden könnten, auch als solche klassifiziert – eben weil eine gemeinsame Definition fehlt, auf deren Grundlage Faktoren entwickelt werden können, die die Tötung von Frauen als Femizid identifizieren. Daher fokussieren Kriminalstatistiken bis heute auf die Tötung einer Frau im Rahmen einer existierenden oder aufgelösten Partnerschaft und, damit verknüpft, auf vorsätzliche Femizide. Diese Schwerpunktlegung auf einen intendierten Mord durch einen (Ex-)Partner führt dazu, dass weitere Formen der systematischen Tötung von Frauen ohne eine direkte Intention der Tötung, wie Tod durch illegalisierte, unsichere Abtreibungspraxen oder die Abtreibung weiblicher Föten, nicht als Femizide in den Blick geraten.

2021 schlug EIGE eine weite Definition vor und begreift seither Femizid als "the killing of women and girls because of their gender". Schlüsselkomponenten der EIGE-Definition sind die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und die geschlechtsspezifische Motivation einer Tötung. Allerdings bedarf diese Definition einer präzisen Bestimmung, was eine Tötung "aufgrund des Geschlechts" genau meint. Daraus schließen Expert*innen einen deutlichen Bedarf an Wissen über die Motivation des Täters und das Verhältnis von Opfer und Täter, also Wissen um die subjektiv-individuelle Seite eines Mordes sowie über den Tathergang. Wichtig sind aber auch der soziale, ökonomische und kulturelle Kontext der Tötung und der strukturelle gesellschaftliche Gewalthintergrund, wie zum Beispiel Armut, prekäre Arbeit, weibliche Abhängigkeit und unregulierte Arbeitsverhältnisse in feminisierten, oftmals unsicheren Arbeitsbereichen, oder kriminelle Milieus wie Drogen- und Waffenhandel.

Feministische Herangehensweisen betonen außerdem den Zusammenhang der individuellen Tat mit ungleichen geschlechtsspezifischen sozialen und ökonomischen Normen, Geschlechterrollen und Bildern von Weiblichkeit und Männlichkeit, die ein "System der Gewalt" gegen Frauen bilden können. Die strukturellen Gewalthintergründe können Gewalthandeln und die Tötung einer Frau legitimieren beziehungsweise als Handlungsmöglichkeit normal erscheinen lassen. Werden diese strukturellen Kontexte berücksichtigt, können auch unbeabsichtigte Tötungen von Frauen als Femizide qualifiziert werden. Aus diesen Debatten ist eine Typologie entstanden, die Femizide jenseits von Beziehungsfemiziden in den Blick nimmt.

Unterschiedliche Typen

Auf der Basis der Beschreibung des Tötungskontextes und der gesellschaftlichen Gewaltstruktur lässt sich eine Typologie unterschiedlicher Femizide erstellen, die sowohl direkte, intendierte als auch indirekte, nicht-intendierte Tötungen von Frauen als Femizide reflektiert. Die Tötung von Frauen aufgrund ihres Frauseins kann erstens individuell motiviert und vorsätzlich sein. Dies umfasst den bislang als paradigmatisch angenommenen Fall der Tötung im familiären Nahraum durch einen (Ex-)Partner oder Verwandten, aber auch Femizide an älteren, auf Pflege angewiesenen Frauen sowie sexuell motivierte Tötungen. Femizide können zweitens eine nicht-intendierte Folge von Gewalt in einer Partnerschaft oder der Familie sein. Drittens werden Frauen in sexualisierten Situationen getötet, als unbeabsichtigte Folge sexueller Gewalt innerhalb und außerhalb ehelicher oder partnerschaftlicher Beziehungen. Viertens können Femizide in einem kriminellen Kontext stattfinden, beispielsweise im Rahmen von Frauenhandel oder von Bandengewalt. Davon müssen fünftens politisch induzierte Femizide unterschieden werden, also Tötungen beispielsweise infolge unsicherer Abtreibungspraktiken aufgrund eines Abtreibungsverbots oder infolge unregulierter Arbeitsbedingungen in spezifischen Frauenerwerbsbereichen wie Sexarbeit. Sechstens schließlich werden Frauen im Kontext kultureller Praktiken getötet, darunter werden sogenannte Ehrenmorde, Genitalbeschneidungen, die Abtreibung weiblicher Föten, Mitgiftmorde (Ermordung der Ehefrau wegen unzureichender Aussteuer) oder die Tötung aufgrund einer unklaren Gender-Identität gefasst.

Diese erweiterte Typologie von Femiziden macht es möglich, weit mehr Morde von Frauen und Mädchen als Femizid zu klassifizieren. Dazu bedarf es aber auch eines Indikatorensystems, das die jeweiligen Kontexte, Hintergründe und Motive ausleuchten hilft. Auch in dieser Richtung haben die EU und internationale Organisationen in den vergangenen Jahren weitere Arbeit geleistet. Zahlreiche nationale und internationale Datenbanken haben dazu beigetragen, ein solches Indikatorensystem zu verfeinern. Diese Datenbanken zur statistischen Erfassung von Femiziden werden im Folgenden vorgestellt, um deutlich zu machen, dass es zwar Fortschritte gibt, dass die Vergleichbarkeit der Daten aber noch nicht gewährleistet ist.

Datenbanken

In den vergangenen zehn Jahren haben mehrere Länder, internationale Organisationen und Erklärungen wie die Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination Against Women (CEDAW) Definitionen von Femizid, verschiedene Klassifizierungen und Indikatoren für die Datenerfassung vorgeschlagen. Seit 2015 wird die Internationale Klassifikation der Kriminalität für statistische Zwecke (ICCS) der Statistischen Kommission der Vereinten Nationen und der Kommission für Verbrechensverhütung und Strafrechtspflege (CCPCJ) als internationaler statistischer Standard für die Datenerhebung anerkannt. Hier werden Tötungsdelikte nach Geschlecht aufgeschlüsselt, eine Definition von Femiziden fehlt jedoch, auch wenn das ICCS über einen eigenen Code das "intentional killing of a woman for misogynous or gender-based reasons" statistisch erfasst werden kann. Sowohl das UNODC als auch die WHO haben Datenbanken angelegt, in denen Femizide dokumentiert werden. WHO, ICCS und UNODC geben das Geschlecht des Opfers als mögliches Motiv für die Tötung an, gehen aber tendenziell nur von einer vorsätzlichen Tötung aus. Eurostat verfügt über eine EU-weite Datenbank zu Tötungsdelikten an Frauen, die sich allerdings ausschließlich auf Tötungen in der Partnerschaft, Familie und Verwandtschaft sowie auf sexuelle Gewalt, insbesondere Vergewaltigung und sexuelle Nötigung, konzentriert.

Neben diesen internationalen Organisationen erfassen einige nationale und regionale Monitoring-Systeme Femizide und schlagen Indikatoren für die Datenerfassung vor. Das Monitoring wird entweder von Regierungen und statistischen Ämtern, von Wissenschaftler*innen oder von Anti-Gewalt-NGOs durchgeführt.

International existieren der Minnesota Femicide Report (heute: Intimate Partner Homicide Report: Relationship Abuse in Minnesota) der NGO Minnesota Coalition for Battered Women (heute: Violence Free Minnesota, VFM), die 2017 ins Leben gerufene Datenbasis des Canadian Femicide Observatory for Justice and Accountability und das Australische National Homicide Monitoring Program, das seit 1989 Daten erhebt. Der Schwerpunkt dieser Datenbanken liegt auf häuslicher Gewalt und Femizid im sozialen Nahbereich. Die Lateinamerikanische Initiative für offene Daten startete 2017 eine "Sondierungsstudie" über Daten zu Femiziden in Lateinamerika. Schließlich arbeiten das Lateinamerikanische Femizid-Observatorium und das Observatorium für die Gleichstellung der Geschlechter in Lateinamerika und der Karibik an der Erstellung eines Femizid-Registers für die Region. Das Latin-American Model Protocol for the Investigation of Gender-Related Killings of Women ist ein fortgeschrittenes Modellprotokoll mit differenzierten Indikatoren, um einen Femizid zu identifizieren.

Erwähnenswert für Europa sind der European Homicide Monitor, die im Februar 2015 ins Leben gerufene UK Femicide Census Database sowie das European Observatory on Femicide. Mit Ausnahme von Finnland gibt es in keinem europäischen Land ein Register für Tötungsdelikte, in dem Femizide explizit erfasst werden. Der European Homicide Monitor begann 2007 als Pilotprojekt in Finnland, den Niederlanden und Schweden, um die Tötungs-Datenbanken dieser Länder zusammenzuführen, und enthält mittlerweile auch Daten aus der Schweiz. Dem European Observatory on Femicide gehören inzwischen vier Länder an, in denen Femizid-Monitoring-Initiativen gestartet wurden (Georgien, Griechenland, Israel und Malta), sowie 23 Länder mit Forschungsschwerpunkten zum Thema Femizid, unter anderem auch Deutschland. Die Femizid- und Homizidmonitore in Europa beziehungsweise der EU verwenden hauptsächlich administrative Datenquellen der Polizei, der Justiz und des Gesundheitswesens oder öffentlich zugängliche Medieninformationen.

Für Europa bildet die Istanbul-Konvention eine solide Grundlage, um einheitliche statistische Daten über Femizide zu erheben. Die Group of Experts on Action Against Violence against Women and Domestic Violence of the Council of Europe, die zur Umsetzung der Istanbul-Konvention eingerichtet wurde, etablierte eine Datenbank zur statistischen Erfassung von Femiziden. Darin werden die bereits existierenden Indikatoren wie Geschlecht von Opfer und Täter sowie ihr Verhältnis um administrative und rechtliche Daten über Frauenmorde wie beispielsweise die dem Mord vorhergegangene Gewalt, die Anzahl der wegen der Tötung von Frauen verurteilten Täter insgesamt in einem Land sowie die Arten von Sanktionen und Maßnahmen gegen diese Täter erweitert.

EIGE erhob 2021 die Lage in der EU: Verwaltungsdaten über Femizide werden in 26 der 27 EU-Mitgliedstaaten (außer Luxemburg) sowie im Vereinigten Königreich in der Regel von Gleichstellungsabteilungen der Ministerien für Geschlechtergleichstellung oder Gesundheit erhoben. Sieben EU-Länder erfassen Daten zu geschlechtsspezifischen Tötungen, meist anhand des Geschlechts des Opfers und der Opfer-Täter-Beziehung. Die in den nationalen Datenerhebungssystemen am häufigsten ermittelten Femizide sind Partnerfemizide. 18 Mitgliedstaaten haben auf die EIGE-Anfrage keine Klassifizierung gemeldet.

Nur etwa die Hälfte der EU-Staaten benutzt die von der UNO vorgeschlagene Definition von Femizid und das Indikatorensystem bei der Protokollierung von Tötungsmethoden und Tatort. Nur in manchen EU-Staaten werden sexuelle Motivation, frühere Gewalt in der Partnerschaft und vorausgegangene Anzeigen oder einstweilige Verfügungen gegen den Täter registriert.

Die nationalen Datenerhebungen unterscheiden sich insgesamt stark voneinander. NGOs und öffentliche Einrichtungen verfügen in einigen EU-Ländern über genaue und umfassende Datenerfassungssysteme, während andere weniger aussagekräftig sind. Dies beeinträchtigt die Qualität der Daten und insbesondere ihre Vergleichbarkeit. Aus diesen Gründen fordert EIGE für die EU, einen Katalog von Indikatoren zur Identifikation von Femiziden zu vereinbaren.

Count it

Um alle Typen von Femiziden erfassen zu können, schlagen Expert*innen vor, drei Schritte der Datengewinnung und -verwaltung in allen EU-Staaten zu implementieren: Erstens sollte eine Auswertung von Verwaltungsdaten – von Polizei, Staatsanwaltschaften, Gerichten oder Medien – vorgenommen werden. Dann sollte zweitens die Datenerhebung bei Frauenmorden verbessert werden. Die Erfassungsprozesse von Frauenmorden sollten drittens durch die Dokumentation in einem nationalen Register optimiert werden, das regelmäßig veröffentlicht und zugänglich gemacht wird. Dies sollte eine gute Datenverwaltung gewährleisten, das heißt die öffentliche Zugänglichkeit und Koordination der Datenerstellung (Verarbeitung von Rohdaten und der Verknüpfung von Daten aus verschiedenen Quellen) sowie auch Datenzugänglichkeit innerhalb und zwischen Ländern sichern. Auch über die quantitative Entwicklung von Femiziden sowie über die staatlichen Reaktionen auf Gewalt sollte in diesen Dokumentationen regelmäßig Rechenschaft abgelegt werden.

EIGE schlägt in einem ersten Schritt vor, dass sich alle EU-Mitgliedstaaten auf eine gemeinsame Definition von Femizid einigen als jede Tötung einer Frau in einer geschlechtsspezifischen Situation und/oder in einer geschlechtsspezifischen Struktur von Ungleichheit und Herrschaft. Darauf aufbauend sollten vergleichbare und disaggregierte Daten in administrativen Datenerfassungssystemen gesammelt werden.

EIGE empfiehlt, dass für die administrative Datenerhebung bei Tötungsdelikten an Frauen und Mädchen zumindest folgende Fragen beantwortet werden sollten:

  • Wer waren Täter und Opfer? Zu den Daten zählen Geschlecht, Alter, Geburtsort, Nationalität, Bildungsgrad, Beruf, Wohnort, Migrationshintergrund, ethnische Zugehörigkeit, beim Opfer außerdem noch Schwangerschaft, Kinder, Behinderung, sexuelle Orientierung. Informationen über den Täter sollten psychische Krankheiten, Alkoholmissbrauch oder Wohnungsprobleme und die Verfügbarkeit von Waffen, aber auch frühere Vorfälle von (häuslicher) Gewalt oder Vorstrafen umfassen.

  • In welcher Beziehung standen Opfer und Täter zueinander? Waren sie beispielsweise Partner oder Ex-Partner? Fand die Tötung nach einer Trennung statt? Handelte es sich beim Täter um den Sohn oder ein sonstiges männliches Familienmitglied oder um einen Fremden? Lagen geschlechtsspezifische Ungleichheiten und Abhängigkeiten zwischen Opfer und Täter vor?

  • Wie zeigte sich die Frauenfeindlichkeit des Täters sowie das Machtgefälle zwischen Opfer und Täter?

  • In welchem Kontext ereignete sich die Tötung? An welchem Ort fand sie statt? Handelte es sich um einen Mord im Rahmen einer anderen Straftat wie zum Beispiel Raub?

  • Wie war der Modus Operandi? Hierzu zählen Mittel und Mechanismen der Tötung wie Übertötung, Kinder als Zeugen, getötete Kinder.

  • Gab es einen sexuellen oder sexualisierten Gewaltkontext wie Sexarbeit oder Kontexte weiblicher Genitalbeschneidung?

Als zusätzliche Indikatoren schlägt EIGE vor, den intersektionalen Hintergrund von Opfer und Täter zu protokollieren wie Alter, Ethnizität, Nationalität, staatsbürgerlicher Status, Klasse, Religion, sexuelle Orientierung und Geschlechteridentität. Um Morde an lesbischen und bisexuellen oder Transgender-Personen zu beleuchten, müssen die Geschlechterbeziehungen, Geschlechterrollen sowie Normen und Bilder von Weiblichkeit und Männlichkeit ausfindig gemacht werden. Um westlich-zentrierte oder rassistische Perspektiven auf Femizide zu vermeiden, muss die Datenerhebung zu Femiziden kontextsensitiv sein und auch soziale, wirtschaftliche und kulturelle Faktoren berücksichtigen, die geschlechtsspezifische Tötungen begünstigen können. Schließlich sollte in einer Datenbank auch die polizeiliche Vorgeschichte erfasst werden. Diese Prozessverbesserung muss auch eine geschlechtersensible Schulung der Datenerhebenden umfassen.

End it

Wie können eine einheitliche Definition und eine verbesserte Datenerfassung und -verwaltung zur Verhinderung von Femiziden beitragen? Sollten diese Maßnahmen zu einer Kodifizierung der expliziten Strafbarkeit von Femiziden in den Strafgesetzbüchern führen? In Europa gibt es in keinem Land einen ausdrücklichen Straftatbestand des Femizids. Braucht es eine bessere strafrechtliche Verfolgung als besonders niedrige Beweggründe für die Tötung, weil es sich um eine frauenfeindliche Tat handelt? Bedarf es dieser Form der Abschreckung, oder kann die quantitative Bestimmung andere Präventionsmaßnahmen ermöglichen? Ob es eines solchen Paragrafen bedarf, ist in der kriminologischen Debatte durchaus umstritten. Mehr Wissen über Femizide, so ein vorläufiges Resümee, kann die politische Öffentlichkeit, frauenbewegte zivilgesellschaftliche und staatliche Akteure ermutigen, gezieltere Präventionsmaßnahmen zum Schutz von Frauen einzufordern und politisch umzusetzen. Die bessere Datenerfassung zur Tötung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts kann und wird die gesellschaftliche Gewaltstruktur deutlich machen. Die Transformation dieser Struktur scheint eine notwendige Bedingung zur Verhinderung von Femiziden zu sein. Dies ist meines Erachtens ein besserer Weg als die Schaffung eines neuen Straftatbestands, dessen abschreckende Wirkung höchst ungewiss ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Rita Laura Segato, Wider die Grausamkeit. Für einen feministischen dekolonialen Weg, Wien–Berlin 2021. Siehe hierzu auch den Beitrag von Alyssa Bedrosian in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  2. Vgl. European Institute for Gender Equality (EIGE), Femicide: A Classification System, Vilnius 2021.

  3. Vgl. Julia Habermann, Möglichkeiten der Sanktionierung von Femiziden im deutschen Strafecht. Ist ein Femizid-Straftatbestand notwendig?, in: Neue Kriminalpolitik 2/2022, S. 189–208.

  4. Vgl. EIGE, Gender Equality Index, 2021, Externer Link: https://eige.europa.eu/gender-equality-index/2021/domain/violence.

  5. Vgl. ebd.

  6. Vgl. One Billion Rising, Femizid Opfermeldungen 2023, Externer Link: http://www.onebillionrising.de/femizid-opfer-meldungen-2022.

  7. Vgl. Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser, Zahlen und Daten. Gewalt an Frauen 2023, März 2023, Externer Link: http://www.aoef.at/index.php/zahlen-und-daten#:~:text=Im%20vergangenen%20Jahr%202021%20wurden,2014%20wurden%2019%20Frauen%20umgebracht.

  8. Vgl. UNODC/UN Women, Gender-Related Killings of Women and Girls (Femicide/Feminicide). Global Estimates of Gender-Related Killings of Women and Girls in the Private Sphere in 2021. Improving Data to Improve Response, Wien 2022, 25.11.2022, Externer Link: http://www.unodc.org/documents/data-and-analysis/briefs/Femicide_brief_Nov2022.pdf.

  9. Vgl. Alex Wischnewski, Femi(ni)zide in Deutschland – ein Perspektivenwechsel, in: Femina Politica 2/2018, S. 126–134, hier S. 127. Vgl. auch Monika Schröttle/Ksenia Meshkova, Data Collection: Challenges and Opportunities, in: Shalva Weil/Consuelo Corradi/Merceline Naudi (Hrsg.), Femicide Across Europe. Theory, Research and Prevention, Bristol 2018, S. 33–52, hier S. 44.

  10. Vgl. Fredericke Leuschner/Elena Rausch, Femizid – Eine Bestandsaufnahme aus kriminologischer Perspektive, in: Kriminologie. Das Online Journal 1/2022, S. 20–37, hier S. 24.

  11. Vgl. Schröttle/Meshkova (Anm. 9), S. 44.

  12. Vgl. EIGE (Anm. 2, Anm. 4) sowie dass., Measuring Femicide in the EU and Internationally: An Assessment, Vilnius 2021. An der Erarbeitung dieser Berichte war ich maßgeblich beteiligt, daher stammen viele Überlegungen, die ich in diesem Text vorstelle, aus diesen Berichten.

  13. Diana E.H. Russell/Jane Caputi, "Femicide": Speaking the Unspeakable, in: Ms. Magazine 2/1990, S. 34.

  14. Vgl. Jill Radford/Diana E.H. Russell (Hrsg.), Femicide. The Politics of Woman Killing, New York 1992.

  15. Vgl. Jara Streuer, Worüber wir sprechen, wenn wir über Femizide sprechen. Eine Annäherung, in: Tillmann Bartsch et al. (Hrsg.), Gender & Crime, Baden-Baden 2022, S. 145–152.

  16. Kritisch hierzu Streuer (Anm. 15), S. 147.

  17. Vgl. ebd., S. 149.

  18. EIGE (Anm. 12).

  19. Vgl. Julia E. Monarrez Fragoso, Feminicide: Impunity for the Perpetrators and Injustice for the Victims, in: Kerry Carrington et al. (Hrsg.), The Palgrave Handbook of Criminology and the Global South, Cham 2018, S. 913–929, hier: S. 914.

  20. Vgl. Streuer (Anm. 15), S. 150.

  21. Siehe zu Beziehungsfemiziden auch den Beitrag von Julia Habermann in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  22. Vgl. Leuschner/Rausch (Anm. 10), S. 25ff.

  23. Vgl. EIGE, Femicide, Externer Link: https://eige.europa.eu/gender-based-violence/femicide. Vgl. auch dass., Glossary of Definitions of Rape, Femicide and Intimate Partner Violence, Vilnius 2017 sowie dass., Terminology and Indicators for Data Collection: Rape, Femicide and Intimate Partner Violence, Vilnius 2017.

  24. Vgl. UN Office on Drugs and Crime, International Classification of Crime for Statistical Purposes. Version 1.0, Wien 2015, S. 33.

  25. Vgl. Paul R. Smit et al., Homicide Data in Europe: Definitions, Sources, and Statistics, in: Marieke C.A. Liem/William Alex Pridemore (Hrsg.), Handbook of European Homicide Research. Patterns, Explanations and Country Studies, New York 2012, S. 5–23, hier S. 6.

  26. Siehe Externer Link: https://idatosabiertos.org.

  27. Vgl. Sandra Walklate et al., Towards a Global Femicide Index – Counting the Costs, London 2020, S. 22. Siehe auch UN Gender Equality Observatory for Latin America and the Caribbean (GEOLAC), Femicide or Feminicide, Externer Link: https://oig.cepal.org/en/indicators/femicide-or-feminicide.

  28. Siehe European Homocide Monitor, Externer Link: http://www.universiteitleiden.nl/en/research/research-projects/governance-and-global-affairs/european-homicide-monitor#tab-1.

  29. Siehe Externer Link: https://eof.cut.ac.cy.

  30. Group of Experts on Action Against Violence against Women and Domestic Violence of the Council of Europe, Questionnaire on Legislative and Other Measures Giving Effect to the Provisions of the Council of Europe Convention on Preventing and Combating Violence Against Women and Domestic Violence (Istanbul Convention), 11.3.2016, Externer Link: https://rm.coe.int/16805c95b0.

  31. Vgl. UN Women, Background Paper, A Synthesis of Evidence on the Collection and Use of Administrative Data on Violence Against Women, 2020, S. 9, Externer Link: http://www.unwomen.org/en/digital-library/publications/2020/02/background-paper-synthesis-of-evidence-on-collection-and-use-of-administrative-data-on-vaw.

  32. Vgl. Sylvia Walby et al., The Concept and Measurement of Violence Against Women and Men, Bristol 2017, S. 145.

  33. Vgl. EIGE (Anm. 12).

  34. Vgl. ebd.

  35. Vgl. Khatidja Chantler et al., Learning From Domestic Homicide Reviews in England and Wales, in: Health and Social Care in the Community 2/2020, S. 485–493, hier S. 491f.

  36. Vgl. EIGE (Anm. 12).

  37. Vgl. Consuelo Corradi et al., Exploring the Data on Femicide Across Europe, in: Weil/Corradi/Naudi (Anm. 9), S. 93–166.

  38. Vgl. Biljana Brankovic, 2017: "I have a dream". Femicide Prevention Watch, in: Academic Council on the UN System, Femicide, Vol. VII, Establishing a Femicide Watch in Every Country, Wien 2017, S. 9–13, hier S. 10f.

  39. Vgl. Leuschner/Rausch (Anm. 10), S. 29.

  40. Vgl. Habermann (Anm. 3).

  41. Vgl. ebd.

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ist Professorin i.R. für Politikwissenschaft an der Universität Wien.
E-Mail Link: birgit.sauer@univie.ac.at