Am 3. Juni 2015 versammelten sich über 250.000 Argentinier:innen auf der Plaza del Congreso in Buenos Aires zur ersten Demonstration von Ni Una Menos ("Nicht eine weniger"). Die Aktion war als Reaktion auf eine Reihe aufsehenerregender Frauenmorde im Land organisiert worden und wurde in mehr als 100 Städten in ganz Argentinien aufgegriffen. Schon bald entwickelte sich Ni Una Menos zu einer transnationalen feministischen Bewegung. Ziel dieser ersten Demonstration war es, auf den Femizid im Land aufmerksam zu machen und darauf hinzuweisen, dass es sich dabei nicht um ein privates, sondern ein öffentliches und gesellschaftliches Problem handelt. Mittlerweile ist Ni Una Menos deutlich gewachsen und kann als Kollektiv, Slogan und als soziale Bewegung verstanden werden.
Während sich die Demonstration von 2015 auf den Femizid konzentrierte, beschäftigt sich die Bewegung heute mit der Frage, wie verschiedene Formen von Gewalt ineinandergreifen – etwa physische Gewalt, ökonomische Gewalt, wozu Handlungen gehören, die darauf abzielen, andere Menschen finanziell abhängig zu machen, sowie Gewalt, die die reproduktive Gesundheit und reproduktiven Rechte verletzt.
Gewalt gegen Frauen und Femizid
Gewalt gegen Frauen ist nach wie vor eins der drängendsten Probleme im Bereich der Menschenrechte und der öffentlichen Gesundheit. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass weltweit jede dritte Frau im Laufe ihres Lebens Opfer körperlicher und/oder sexueller Gewalt wird.
Laut der Anthropologin Rita Segato ist Gewalt gegen Frauen das Ergebnis des im Patriarchat bestehenden "Mandats der Männlichkeit".
Bei der ersten Demonstration von Ni Una Menos 2015 erklärten die Organisatorinnen, dass im Vorjahr alle 30 Stunden eine Frau in Argentinien getötet worden sei.
Feministischer Aktivismus in Argentinien
Trotz der Gewalt zeichnet sich Argentinien auch durch seine Geschichte des feministischen Aktivismus und weiblichen Widerstands aus. Während der argentinischen Militärjunta zwischen 1976 und 1983 initiierten die Madres de Plaza de Mayo, eine Gruppe von Müttern, deren Kinder als politische Gegner zu den "Verschwundenen" gehörten, Proteste gegen das Regime und die von ihm ausgeübte Gewalt. Diese Gruppe, die auch heute noch aktiv ist, konnte erfolgreich die internationale Öffentlichkeit auf ihr Anliegen aufmerksam machen und Druck auf die Militärjunta ausüben.
Die Entstehung von Ni Una Menos geht auf eine Marathonlesung vom März 2015 in Buenos Aires zurück, bei der Autor:innen, Akademiker:innen und Aktivist:innen Texte vortrugen, die sich gegen jüngste Femizide richteten.
Die Demonstration vom 3. Juni 2015 fand auf der Plaza del Congreso statt. Über 250.000 Menschen nahmen daran teil. Obwohl die Hauptstadt des Landes das Zentrum der Bewegung war und weiterhin ist, fand die Demonstration in mehr als 100 Städten in ganz Argentinien Nachahmer. Das Manifest, das damals verlesen und später allgemein verbreitet wurde, verwies auf die zahlreichen Fälle von Femiziden in Argentinien und bezeichnete sie als gesellschaftliches und nicht als privates, häusliches Problem.
Transnationale feministische Bewegung
Die Bewegung verbreitete sich schnell auch in anderen Ländern, und "Ni una menos" wurde zu einem Slogan, der von Feminist:innen in ganz Lateinamerika und darüber hinaus verwendet wurde. So erklärt die Soziologin Lidia Salvatori: "Der Aufruf 'Nicht eine weniger' fand großen Anklang in Italien, wo Feminist:innen im November 2016 mit einer Großdemonstration und einer nationalen Versammlung in Rom eine neue Bewegung gründeten."
Ni Una Menos sieht sich als Teil einer größeren internationalen Bewegung. So wird etwa in einem Manifest aus dem Jahr 2017 die "kollektive und internationale Geschichte" betont, aus der Ni Una Menos hervorging.
Neuer politischer Kurs
2015 war Ni Una Menos zwar politisch, aber unparteiisch. Die Bewegung strebte nach politischen Veränderungen, unterstützte jedoch – da es in Argentinien ein Wahljahr war – keine bestimmte politische Partei und griff auch keine gezielt an. Stattdessen konzentrierte man sich auf den Femizid und äußerte sich nicht speziell zum Thema Abtreibung. Auch ökonomische Gewalt kam im Diskurs nicht vor. Femizid wurde mit der Machismo-Kultur und anderen Formen körperlicher und sexueller Gewalt in Verbindung gebracht, doch es gab keine Diskussionen darüber, wie körperliche, ökonomische und reproduktive Gewalt zusammenhängen. Insgesamt sollten die Botschaften von Ni Una Menos die breite Masse und nicht nur feministische Aktivistinnen ansprechen und so eine möglichst große Resonanz erzielen.
Doch seit der Gründung 2015 hat sich die Bewegung weiterentwickelt. Zum aktuellen Kollektiv gehören nur noch wenige ursprüngliche Gründungsmitglieder. Entsprechend haben sich auch der politische Kurs und die Praktiken der Bewegung verändert. Ökonomische Gewalt wurde 2016 während des ersten nationalen Frauenstreiks in Argentinien am 19. Oktober zu einem wichtigen Thema für die Bewegung. Der erste internationale Frauenstreik fand einige Monate später statt, am 8. März 2017. Ni Una Menos spielte bei der Organisation beider Streiks eine Schlüsselrolle und steht auch weiterhin im Mittelpunkt des jährlichen Internationalen Feministischen Streiks am 8. März. Verónica Gago, aktuelles Mitglied des Kollektivs, betrachtet den Frauenstreik als einen fortlaufenden Prozess und nicht als ein einmaliges Ereignis. Sie erklärt, der Streik habe zu "einem neuen Verständnis von Gewalt" geführt, das "häusliche Gewalt" mit "ökonomischer Gewalt, Gewalt am Arbeitsplatz, institutioneller Gewalt, Polizeigewalt, rassistischer Gewalt und kolonialer Gewalt" verbinde.
Auch das Thema Abtreibung wurde zu einem zentralen Anliegen der Bewegung. Ni Una Menos war zwar 2015 noch nicht an der Nationalen Kampagne für das Recht auf legalen, sicheren und kostenlosen Schwangerschaftsabbruch beteiligt, engagierte sich jedoch bald für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch im ganzen Land. Für Ni Una Menos ist der fehlende Zugang zu einer legalen, sicheren und kostenlosen Abtreibung eine Bedrohung für die Gesundheit, das Wohlbefinden und die Menschenrechte von Frauen. Im Manifest vom September 2017 heißt es dazu: "Legale Abtreibung ist Leben. Ohne legalen Schwangerschaftsabbruch gibt es kein 'Nicht eine weniger'."
Zu Beginn der Covid-19-Pandemie rückten Femizide erneut in den Mittelpunkt, da viele Frauen in Argentinien und auch in anderen Ländern während des Lockdowns mit gewalttätigen Partnern oder anderen Familienmitgliedern auf engem Raum zusammenlebten. Im März 2020 wurden in Argentinien 27 Frauen von ihren Partnern oder Ex-Partnern getötet.
Kulturwandel
Von Anfang an strebte die Bewegung einen politischen wie kulturellen Wandel an, weil klar war, dass ein kulturelles Umdenken politische Veränderungen erleichtern würde. Im Laufe der Jahre konnte Ni Una Menos Erfolge auf beiden Gebieten verbuchen. Wie Cecilia Palmeiro, derzeitiges Mitglied des Kollektivs, mir 2019 sagte, markiere die Demonstration 2015 eine Zäsur zwischen dem "Davor und Danach in der argentinischen Kultur und Geschichte". Drei einfache Wörter – Ni Una Menos – haben als Parole einen enormen Bekanntheitsgrad erreicht. Mir wurde erzählt, dass der Slogan "Ni Una Menos" von argentinischen Schulmädchen als Reaktion auf sexistische Witze oder Schikanen von Jungen verwendet werde. Die Bewegung hat ein weitverbreitetes Bewusstsein für Geschlechterungleichheit und Gewalt gegen Frauen geschaffen, das es vor 2015 nicht gab. Dieses Bewusstsein ist zumindest ein erster wichtiger Schritt.
Die Schaffung des neuen argentinischen Ministeriums für Frauen, Geschlecht und Vielfalt im Jahr 2019 wird vom Kollektiv Ni Una Menos als eine wichtige politische Errungenschaft betrachtet. Allerdings fordert das Kollektiv weiterhin, dass notwendige Mittel bereitgestellt werden, um entsprechende Maßnahmen und Programme zu unterstützen.
Weltweite Strahlkraft
Was können diejenigen, die sich nicht in Lateinamerika befinden, von Ni Una Menos lernen? Auf der grundlegenden Ebene liefert die Bewegung ein Beispiel dafür, wie man Femizid als öffentliches, gesellschaftliches Problem statt als privates, häusliches Problem darstellen kann. Ich schreibe diesen Artikel in den USA, wo die Formulierung "häusliche Gewalt" weiterhin den Diskurs in den Medien dominiert. In einem Artikel des "Ms. Magazine" schreibt Brigittine French über Gewalt gegen Frauen in den USA und darüber, wie wichtig es ist, diese Morde als "Femizide" zu bezeichnen: "Das Schweigen zum Thema Femizid in den Vereinigten Staaten führt dazu, dass die geschlechtsspezifische Natur der andauernden Morde an Frauen und die damit verbundenen größeren sozialen Muster ausgeblendet werden. Solange dieses Problem in unserem Land nicht angegangen wird, bleiben Frauen auf eine besondere und chronische Art und Weise von tödlicher geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen."
Darüber hinaus können Aktivist:innen weltweit von den Kommunikationsstrategien der Bewegung und ihrem kreativen Aktivismus sowohl im digitalen als auch im realen Raum lernen. Das Kollektiv von 2015 nutzte persönliche und berufliche Beziehungen, um für Ni Una Menos zu werben. Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Prominente teilten die Botschaft von Ni Una Menos über Social Media, und auch die traditionellen Medien berichteten ausführlich über die Bewegung.
Ni Una Menos bleibt auch auf der Straße aktiv. Abgesehen von den Unterbrechungen aufgrund der Covid-19-Pandemie bleibt der 3. Juni ein fester Termin für eine große Demonstration mit zahlreichen Teilnehmer:innen, und auch der Frauenstreik am 8. März ist mittlerweile zu einem Eckpfeiler der Bewegung geworden. Außerdem beteiligt sich Ni Una Menos an Versammlungen mit anderen Aktivist:innen, um Solidarität aufzubauen. Diese Aktionen werden von einer kreativen, aktiven Social-Media-Präsenz begleitet, insbesondere auf Instagram. Angesichts des zunehmenden Rechtsextremismus, der wachsenden Gewalt in vielen Teilen der Welt und der anhaltenden Bedrohung der sexuellen und reproduktiven Rechte können Aktivist:innen in den Vereinigten Staaten, Europa und darüber hinaus viel von der Arbeit von Ni Una Menos lernen.
Aus dem Englischen von Heike Schlatterer, Pforzheim