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Die Hyperinflation 1923 im kollektiven Gedächtnis | Inflation | bpb.de

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Die Hyperinflation 1923 im kollektiven Gedächtnis

Lukas Haffert

/ 14 Minuten zu lesen

Viele Deutsche wissen nicht, dass Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise zwei unterschiedliche Krisen waren. In ihrer Vorstellung vermischen sich beide zu einer einzigen Wirtschaftskrise. Das, woran man sich 2023 erinnert, ist viel mehr als das, was 1923 tatsächlich geschah.

"Nicht alle Deutschen glauben an Gott, aber alle glauben an die Bundesbank", lautet ein bekanntes Bonmot von Jacques Delors, dem früheren Präsidenten der Europäischen Kommission. Delors beschrieb damit die Anhänglichkeit der Deutschen an die D-Mark. Die Deutschen, so ein auch in der Eurokrise oft zitiertes Argument, hätten eine spezifische "Stabilitätskultur", also eine besondere Affinität zu ausgeglichenen Staatshaushalten und niedriger Inflation. Diese projizierten sie zudem gerne auf bestimme Symbole – früher eben die D-Mark, in den 2010er Jahren dann die "schwarze Null". Besonders prominent zeige sich diese besondere deutsche Kultur aber in der Angst vor der Inflation. So äußerten die Deutschen in Umfragen bereits seit Jahren, und lange vor dem aktuellen Inflationsschub, immer wieder ihre Sorge um die Stabilität des Geldwerts. Woher kommt dieses besondere deutsche Stabilitätsbedürfnis, und warum macht es sich so stark an der Sorge vor der Inflation fest? Ein populärer Ansatz erklärt dies mit bestimmten Lehren aus der deutschen Geschichte. Im Zentrum dabei: die Erinnerung an die Weimarer Hyperinflation. Laut dem Historiker Gerald D. Feldman, dem Autor eines der Standardwerke über die Hyperinflation, hinterließ diese "ein Trauma, das sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat".

Tatsächlich ist eine solche Langfristwirkung eines historischen Ereignisses nicht so abwegig, wie es auf den ersten Blick vielleicht scheinen mag. Es ist mittlerweile gut belegt, dass biografische Schocks in einer früheren Lebensphase die politischen Einstellungen und Problemwahrnehmungen ein Leben lang prägen können. Das gilt für die Erfahrung von Autokratie, von Krieg oder von Massenarbeitslosigkeit, es gilt aber auch für den Effekt von Inflation. So zeigt sich in ländervergleichenden Studien, dass Menschen, die in ihrem Leben eine Hyperinflation erlebt haben, noch Jahrzehnte später besonders großen Wert auf die Geldstabilität legen. Auch lässt sich nachweisen, dass das politische Verhalten der Großeltern einen systematischen Einfluss auf das ihrer Enkel hat. Wenn also diejenigen, die das Jahr 1923 erlebten, davon für den Rest ihres Lebens geprägt wurden, und wenn sie ihre Erfahrungen an ihre Nachkommen weitergaben, ob am familiären Abendbrottisch, in der Schule, oder vermittelt über Institutionen wie die Bundesbank – dann ist es zumindest nicht abwegig, dass diese Erfahrungen auch heute noch die deutsche Politik prägen.

Warum die Hyperinflation?

Auch wenn man es für plausibel hält, dass ein Ereignis, das ein Jahrhundert zurückliegt, noch immer die politischen Einstellungen prägen kann, stellt sich die Frage, warum es gerade dieses Ereignis ist. Immerhin erlebte die Weimarer Republik nur wenige Jahre nach der Hyperinflation mit der Weltwirtschaftskrise eine zweite, nicht weniger einschneidende Krise. Nach dem Abzug US-amerikanischen Kapitals und dem Zusammenbruch mehrerer Banken stürzte die deutsche Wirtschaft in eine dramatische Krise, 1932 waren über sechs Millionen Menschen arbeitslos. Diese Krise war allerdings keine Inflationskrise, ganz im Gegenteil: Der Kreislauf von steigender Arbeitslosigkeit, sinkender Kaufkraft und staatlicher Sparpolitik führte dazu, dass die Preise immer weiter fielen, also zu einer Deflation. Im Jahr 1932 sanken die Preise im Durchschnitt um neun Prozent. Trotzdem hat sich offenbar nicht die Weltwirtschaftskrise, sondern die Hyperinflation dem kollektiven Gedächtnis eingeprägt. Wie lässt sich das erklären?

Ein naheliegender Grund für die anhaltende Wirkmächtigkeit der Hyperinflation ist, dass diese zu einer Chiffre geworden ist, die weit über den Bereich der Geldpolitik und sogar der Wirtschaft hinausweist. Demnach löste die Inflation eine Verkürzung der Zeithorizonte, einen immer dringenderen Fokus auf das Hier und Jetzt aus, den der Kulturjournalist Harald Jähner auf die Formel "Nur das Heute zählt" bringt, und für den er Belege in fast allen Bereichen des Lebens und der Kultur findet. So verlangte die Inflation einen Bruch mit überkommenen Vorstellungen von Solidität, Konventionen und langfristigen Bindungen. Waren nicht genau das auch die Merkmale des Weimarer Kulturlebens und der Alltagskultur der "Wilden Zwanziger", denen noch heute immer wieder Denkmäler errichtet werden, wie zuletzt in der TV-Serie "Babylon Berlin"? Dagegen löste die Weltwirtschaftskrise, von wenigen Ausnahmen wie Hans Falladas 1932 veröffentlichtem Roman "Kleiner Mann, was nun" abgesehen, kaum eine bleibende kulturelle Erinnerung aus.

Selbst wenn man die bleibende kulturelle Wirkung der Hyperinflation in Rechnung stellt, ist die dauerhafte Verankerung des Jahres 1923 im kollektiven Gedächtnis aber kaum ohne das Jahr 1933 zu erklären. Hätte sich die Weimarer Republik auf Dauer stabilisiert, dann würde die Hyperinflation heute wohl eher als wilde Kuriosität gelten und nicht als ein wirtschaftsgeschichtliches Schlüsselereignis des 20. Jahrhunderts. Ohne Hitler kein Inflationstrauma. Allerdings kann ausgerechnet dieser Ansatz kaum erklären, warum die Hyperinflation, und nicht die Weltwirtschaftskrise, im Zentrum des deutschen Krisen-Gedächtnisses steht. Denn die Weltwirtschaftskrise ist ja erst recht und viel unmittelbarer mit dem Aufstieg der NSDAP verbunden. Ohnehin ist die Frage, inwiefern die Hyperinflation tatsächlich zum Erfolg der Nationalsozialisten beitrug, nicht leicht zu beantworten. Ein direkter Effekt lässt sich kaum finden, schließlich begann der Aufstieg der NSDAP erst bei der Reichstagswahl 1930, nicht bereits nach 1923. Auch lässt sich keine Korrelation feststellen, wonach die NSDAP in den Regionen besonders erfolgreich gewesen wäre, wo die Hyperinflation besonders schlimm gewütet hatte.

Allerdings sind mehrere indirekte Effekte plausibel. So könnten die Inflationsverlierer auch in den 1930er Jahren noch besonders anfällig für die Mobilisierung der NSDAP gewesen sein. Ein wichtiger Teil der Mittelschicht, die eine entscheidende Stütze der Demokratie hätte sein können, hatte in der Inflation sein Vermögen und damit auch das Vertrauen in die Republik verloren. Auch könnte der Versuch, die Verluste der Inflation in den Folgejahren aufzuholen, dazu beigetragen haben, dass die deutsche Wirtschaft bereits in einer fragilen Lage war, als sie von der Weltwirtschaftskrise getroffen wurde. Noch wichtiger war vermutlich aber, dass die wirtschaftspolitische Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise auch von der Angst vor einer neuerlichen Inflation geprägt wurde. Die Sorge vor einer Rückkehr der Inflation hemmte demnach alle Ansätze, der Weltwirtschaftskrise mit einer aktiveren staatlichen Wirtschaftspolitik zu begegnen. Stattdessen verfolgte der von 1930 bis 1932 amtierende Reichskanzler Heinrich Brüning eine verhängnisvolle Deflationspolitik.

In jedem Fall können solche Versuche, eine kausale Verbindung zwischen 1923 und 1933 zu ziehen, nicht wirklich erklären, warum die Hyperinflation in der öffentlichen Erinnerung so stark vor der Weltwirtschaftskrise steht. Denn selbst wenn es möglich sein sollte, die Hyperinflation direkt mit dem Untergang der Weimarer Republik zu verbinden – für die Weltwirtschaftskrise steht eine solche Verbindung völlig außer Zweifel.

Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise im öffentlichen Diskurs

Für das Nachleben der Hyperinflation im deutschen kollektiven Gedächtnis ist aber auch nicht entscheidend, ob sich historisch tatsächlich eine kausale Linie von der Inflation zum Aufstieg Hitlers ziehen lässt. Wichtiger ist die Frage, ob eine solche Linie in der heutigen Vorstellung existiert. Um sich dieser Frage zu nähern, lohnt zunächst ein Blick in den öffentlichen Diskurs. Dort lassen sich eine ganze Reihe von Beispielen finden, die eine solche Verbindung insinuieren. So gelang dem Journalisten Gabor Steingart im September 2021 das Kunststück, assoziativ genau das Gegenteil dessen zu vermitteln, was der Wortsinn der Aussage war: "Natürlich kann man die Furcht vor der Inflation kritisieren. Erst recht, wenn sie historische Analogien zur großen Geldentwertung in der Vor-Hitler-Zeit sucht." Inhaltlich wollte Steingart sagen, man solle es mit der Furcht vor der Inflation nicht übertreiben. Sprachlich allerdings zog er eine Verbindung zwischen der Hyperinflation und Hitler. Bemerkenswert ist an diesem Zitat aber vor allem, wie unpräzise es die Hyperinflation zeitlich markiert. Kaum ein Leser dürfte bei der "Vor-Hitler-Zeit" schon an das Jahr 1923 denken.

Steingarts direkte sprachliche Verknüpfung der Inflation mit dem Untergang der Weimarer Republik ist kein Einzelfall. So hatte der damalige Wirtschaftsminister Rainer Brüderle 2011 im Bundestag erklärt: "Eine Lehre der Geschichte ist: Wenn das Geld schlecht wird, wird alles schlecht. Auch das haben wir in der deutschen Geschichte gehabt: von Hyperinflation über Massenarmut bis hin zum Krieg und den fatalen Fehlentwicklungen in Deutschland." Auch Brüderle verschiebt den Zeitpunkt der Hyperinflation ins Ungefähre: Irgendwann in der deutschen Geschichte, aber auf jeden Fall im Zusammenhang mit Massenarmut und der "fatalen Fehlentwicklung" des Nationalsozialismus. Liest man Brüderles Zitat genau, fällt auf, dass er der Inflation nicht einfach den Vorrang vor der Weltwirtschaftskrise gibt. Vielmehr vermengt er die beiden zu einer Krisenmelange aus "Hyperinflation" und "Massenarmut" – aber diese Melange wird unter die Überschrift "Wenn das Geld schlecht wird" gestellt, also eindeutig auf die Inflation bezogen. Was hier geschieht, ist also keine Verdrängung der Weltwirtschaftskrise, die irgendwie als zweite, weniger wichtige Krise im Schatten der Hyperinflation steht. Vielmehr handelt es sich um eine Vermischung: Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise verschmelzen hier zu einer einzigen "Weimarer Wirtschaftskrise".

Wie repräsentativ ist diese Vermischung, wie sie im Zitat von Rainer Brüderle zum Ausdruck kommt? Wenn es sich um mehr als einen kuriosen Ausrutscher handelt, würde das eine These nahelegen: Demnach ergibt sich die besondere Rolle der Hyperinflation im deutschen kollektiven Gedächtnis nicht daraus, dass sie die Weltwirtschaftskrise verdrängt hat, sondern daraus, dass sie sich die Weltwirtschaftskrise einverleibt hat. "Hyperinflation" ist eine Formel geworden, mit der jede Weimarer Wirtschaftskrisenerfahrung aufgerufen werden kann, die Inflation ebenso wie die Massenarbeitslosigkeit. Statt an zwei Krisen erinnern sich viele Deutsche nur an eine, die aber die prägenden Merkmale beider vereint – und diese eine Krise firmiert für sie unter dem Label "Hyperinflation".

Wissen über die Weimarer Wirtschaftsgeschichte

Um diese These genauer zu untersuchen, habe ich gemeinsam mit meinen Kollegen Nils Redeker und Tobias Rommel in einer Umfrage über 2000 Deutsche auf verschiedenen Wegen nach ihrem Bild von der Weimarer Wirtschaftsgeschichte befragt. Einen Teil davon fragten wir explizit nach ihren Vorstellungen von der Hyperinflation. Einen anderen Teil fragten wir nach ihren Vorstellungen von der Weltwirtschaftskrise. Das Faszinierende: Diese Vorstellungen waren bemerkenswert ähnlich. Egal ob wir nach dem Jahr 1923 (Hyperinflation) oder nach dem Jahr 1932 (Weltwirtschaftskrise) fragten, die Mehrheit der Befragten assoziierte beide Jahre mit hohen oder sehr hohen Inflationsraten. Gefragt, welche spezifischen Probleme die Weltwirtschaftskrise kennzeichneten, nannte der größte Teil der Befragten vollkommen korrekt das Problem der hohen Arbeitslosigkeit. Auf Platz zwei folgte jedoch das vermeintliche Problem der hohen Inflation. Insbesondere wusste nur eine verschwindend geringe Minderheit derjenigen, die wir nach der Weltwirtschaftskrise fragten, dass die frühen 1930er Jahre eine Zeit der Deflation und nicht etwa sehr hoher Inflation waren. Als wir die Befragten baten, die Inflationsrate im Jahr 1932 zu schätzen (eine, zugegeben, recht komplizierte Aufgabe), nannten weniger als ein Prozent eine negative Zahl. Dagegen nannte mehr als die Hälfte der Befragten einen Wert von über 10 Prozent und 15 Prozent der Befragten sogar einen Wert von über 100 Prozent. Diese Schätzungen unterschieden sich kaum von denen der Gruppe, die wir gebeten hatten, die Inflationsrate im Jahr 1923 zu schätzen – und das, obwohl wir letztere Gruppe explizit darauf hingewiesen hatten, dass 1923 der Höhepunkt der Hyperinflation war.

Bringt man diese Befunde auf einen Nenner, lautet dieser also: Viele Deutsche wissen nicht, dass Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise zwei unterschiedliche wirtschaftliche Krisen waren. In ihrer Vorstellung vermischen sich beide zu einer einzigen Weimarer Wirtschaftskrise. Und die vermeintliche "Erinnerung" an diese imaginierte Krise lässt sich aktivieren, indem man nach der Hyperinflation fragt.

Wie kommt es zu dieser Vermischung? An diese Frage sind empirisch nur Annäherungen möglich, klar beantworten lässt sie sich nicht. Immerhin lassen sich aber einige Indizien ausmachen: So neigen Menschen mit höherer formaler Bildung häufiger dazu, die Hyperinflation und die Weltwirtschaftskrise zu vermischen. Das dürfte Ausdruck davon sein, dass man zunächst eine ungefähre Vorstellung von den beiden Krisen haben muss, ehe man sie ineinander werfen kann. Befragte mit geringerer formaler Bildung neigten eher dazu, gar keine Aussage über die Weimarer Wirtschaftsgeschichte zu treffen. Keine Unterschiede konnten wir dagegen zwischen Ost- und Westdeutschen ausmachen. Die Annahme, ihre langjährige Liebesgeschichte mit Bundesbank und D-Mark habe bei den Westdeutschen eine besonders starke Angst vor der Inflation und eine entsprechend lebendige Erinnerung an die Weimarer Hyperinflation ausgelöst, bestätigt sich in unseren Daten also nicht. Einen geringeren Einfluss als erwartet scheint auch die Familie zu haben. Nur knapp 15 Prozent der Befragten gaben an, sich ihr Bild von der Hyperinflation vor allem in der Familie gemacht zu haben. Die beliebte Vorstellung, die Großeltern hätten noch Millionen- oder Milliardenscheine aus der Hyperinflation auf dem Dachboden, mit denen sie den Enkeln am sonntäglichen Kaffeetisch die Gefahren der Inflation demonstrieren, wird von unseren Zahlen nicht gestützt. Das passt zum Befund des Historikers Sebastian Teupe: "Das vermeintliche Trauma aller Deutschen reproduzierte sich über die Generationen hinweg also keineswegs von selbst, sondern bedurfte einer aktiven Erinnerungsarbeit."

Dagegen verweisen einige Indizien auf die besondere Bedeutung der Schule. So antwortete über die Hälfte der Teilnehmer auf unsere Frage, wann sie sich zuletzt mit der Hyperinflation beschäftigt hatten, dies sei in der Schule der Fall gewesen. Dagegen konnten sich weniger als 10 Prozent an eine Auseinandersetzung über die Hyperinflation in politischen Debatten erinnern. Knapp 20 Prozent der Befragten hatten keine Erinnerung daran, sich schon einmal mit der Hyperinflation beschäftigt zu haben. Nun ist klar, dass den Schülerinnen und Schülern im Geschichtsunterricht keine Vermischung von Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise beigebracht wird. Möglicherweise wird aber nicht genug Wert darauf gelegt, den Unterschied zwischen den beiden Krisen zu betonen. Es ist vorstellbar, dass Schülerinnen und Schüler bereits nach wenigen Jahren nur noch eine schwammige Erinnerung an die Behandlung der Weimarer Republik in ihrem Unterricht haben – die dann dazu einlädt, die beiden Krisen gedanklich zu einer zu vermischen.

Wie leicht die Vermittlung der Wirtschaftsgeschichte zu so einer Vermischung beitragen kann, zeigte ausgerechnet das Beispiel der Ausstellung "Sparen – Geschichte einer deutschen Tugend" im Deutschen Historischen Museum in Berlin 2018. Die Hyperinflation wurde den Besucherinnen und Besuchern dort sehr anschaulich mit einer "inklusiven Kommunikations-Station" vor Augen geführt: Auf einer Balkenwaage konnte man unterschiedliche Güter gegen einen bestimmten Geldwert aufwiegen und sich so vor Augen führen, wie schnell der Währungsverfall vonstattenging. Dagegen wurde die Weltwirtschaftskrise vor allem mit Bezug auf die Bankenkrise thematisiert. Die damit einhergehende Deflation, unter der nicht die Gläubiger, sondern die Schuldner litten, spielte in der Ausstellung praktisch keine Rolle. Stattdessen war die Kernbotschaft: In Weimar traf es immer die Sparer.

Was ist an der deutschen Inflationserinnerung besonders?

Doch ist all das überhaupt spezifisch für die deutsche Erinnerung an die Hyperinflation? Immerhin wäre eine einfache Erklärung für unsere Befunde, dass Menschen ganz allgemein dazu neigen, verschiedene wirtschaftliche Krisenphänomene miteinander zu assoziieren. Dass Inflation und Arbeitslosigkeit sich eher entgegengesetzt entwickeln, ist alles andere als intuitiv. Zu erklären, warum Massenarbeitslosigkeit eine der effektivsten Inflationsbremsen ist, setzt einiges an ökonomischem Wissen voraus.

Diesen Einwand haben wir empirisch geprüft, indem wir in gleicher Weise auch Niederländerinnen und Niederländer befragt haben. Die Niederlande gelten als Land, das ebenfalls über eine ausgeprägte Stabilitätskultur verfügt; sie stehen in den wirtschaftspolitischen Debatten in Europa üblicherweise fest im Lager der "Falken". Mit Wim Duisenberg wurde nicht ohne ein Grund ein Niederländer der erste Präsident der Europäischen Zentralbank, um gerade den Deutschen zu signalisieren, die neue Währung werde so stabil wie die D-Mark. Außerdem wurden auch die Niederlande Anfang der 1930er Jahre hart von der Weltwirtschaftskrise getroffen. Im Unterschied zu Deutschland erlebten sie jedoch keine Hyperinflation in den 1920er Jahren.

Fragt man die Niederländer nach ihrem Bild von der Weltwirtschaftskrise, dann zeigen sich bemerkenswerte Unterschiede zu Deutschland. Zwar weiß auch in den Niederlanden fast niemand, dass die Weltwirtschaftskrise eine Zeit der Deflation war. Aber die Niederländer verbinden die Weltwirtschaftskrise auch nicht mit enorm hohen Inflationsraten – wofür sie ja auch keinerlei Anlass haben. An die Weltwirtschaftskrise erinnert man sich also in erster Linie als Zeit hoher Arbeitslosigkeit. Die Vorstellung, sie sei auch eine Zeit extrem hoher Inflation gewesen, ist also tatsächlich spezifisch deutsch.

Trauma oder kein Trauma?

Die anhaltende Bedeutung der Hyperinflation verdankt sich der besonderen historischen Konstellation, dass auf die eine Krise bald eine zweite, anders geartete Krise folgte, die im kollektiven Gedächtnis mit der ersten Krise verschmolzen und gewissermaßen in die diese integriert werden konnte. Dieser Befund lässt prinzipiell zwei verschiedene Deutungen zu. Einerseits ließe sich argumentieren, dass das Trauma noch größer ist, als ursprünglich angenommen, weil es sich in Wahrheit nicht auf eine, sondern gleich auf zwei Krisen bezieht. Andererseits ließe sich einwenden, dass es mit dem Inflationstrauma gar nicht so weit her ist, wenn dieses Trauma sich eben gleichzeitig auch auf die Massenarbeitslosigkeit bezieht. Die vermeintliche Erinnerung an die "Hyperinflation" lässt dann nämlich offen, wie man sich in Helmut Schmidts berühmtem Zielkonflikt – lieber fünf Prozent Inflation oder fünf Prozent Arbeitslosigkeit – entscheiden sollte.

Unsere Ergebnisse sprechen eher für die zweite Deutung. Denn wenn man die Menschen nach genau dieser Abwägung fragt, ob ihnen die Bekämpfung der Inflation oder der Arbeitslosigkeit wichtiger ist, dann verändert es die Ergebnisse kaum, ob sie vorher Fragen über die Weimarer Republik beantworten müssen oder nicht. Nur bei Menschen, die sich politisch eher rechts der Mitte verorten, zeigen sich gewisse Effekte. Bei ihnen löst die gedankliche Beschäftigung mit der Weimarer Republik eine noch stärkere Ablehnung der Inflation aus, und zwar unabhängig davon, ob sie Fragen zur Hyperinflation oder zur Weltwirtschaftskrise beantworten mussten – was bei einer Vermischung der beiden Krisen ja nur logisch ist. Bei Menschen links der Mitte verändert eine Beschäftigung mit Weimar die Abwägung zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit hingegen nicht.

Die beschriebenen Verweise auf die Hyperinflation in öffentlichen Debatten scheinen insofern weniger eine Ursache, sondern eher eine Folge bestimmter politischer Einstellungen zu sein. Mit ihnen gelingt es kaum, bisherige Zweifler von der Notwendigkeit einer schärferen Inflationsbekämpfung zu überzeugen. Aber diejenigen, die bereits überzeugt sind, werden von der Erinnerung an die Hyperinflation noch einmal in der Richtigkeit ihrer Überzeugung bestärkt.

Verweise auf die Hyperinflation dienen also vor allem einer rhetorischen Rechtfertigung bestimmter wirtschaftspolitischer Entscheidungen. Deshalb sollte man sie aber nicht für den eigentlichen Grund dieser Entscheidungen halten. In gewisser Weise handelt es sich bei der Vorstellung eines deutschen Inflationstraumas also um eine nützliche Autosuggestion, die es den Deutschen erlaubt, sich vor vermeintlichen wirtschaftspolitischen Zumutungen zu schützen: Wir haben ein Trauma, deshalb haben wir Anspruch auf eine besondere Form der geldpolitischen Achtsamkeit.

Die Verbindung der Hyperinflation des Jahres 1923 mit der heutigen deutschen Wirtschaftspolitik ist somit eher ein verschlungener Pfad als eine direkte Linie, wie sie die Idee eines nationalen Traumas suggeriert. Es ist eben nicht einfach die Erfahrung der Inflation selbst, die sich den Deutschen für immer eingeprägt hat. Vielmehr ist diese vermeintliche Erfahrung im Laufe der Jahrzehnte um andere Erfahrungen und bestimmte politische Deutungen angereichert worden. Das, woran man sich 2023 als "Hyperinflation" erinnert, ist deshalb viel mehr als das, was 1923 tatsächlich geschah.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Matthias Matthijs, Powerful Rules Governing the Euro: The Perverse Logic of German Ideas, in: Journal of European Public Policy 3/2016, S. 375–391.

  2. Vgl. Robert Shiller, Why Do People Dislike Inflation?, in: Christina Romer/David Romer (Hrsg.), Reducing Inflation: Motivation and Strategy, Chicago 1997, S. 13–70; Bernd Hayo/Florian Neumeier, The Social Context for German Economists: Public Attitudes towards Macroeconomic Policy in Germany, in: George Bratsiotis/David Cobham (Hrsg.), German Macro: How It’s Different and Why That Matters, Brüssel 2016, S. 64–72.

  3. Gerald D. Feldman, The Great Disorder: Politics, Economics, and Society in the German Inflation 1914–1924, New York 1993, S. 5. Ausführlich dazu Sebastian Teupe, Zeit des Geldes. Die deutsche Inflation zwischen 1914 und 1923, Frankfurt/M.–New York 2022, S. 261ff.

  4. Vgl. Michael Ehrmann/Panagiota Tzamourani, Memories of High Inflation, in: European Journal of Political Economy 2/2012, S. 174–191.

  5. Vgl. Karl-Oskar Lindgren/Sven Oskarsson, The Perpetuity of the Past: Transmission of Political Inequality across Multiple Generations, in: American Political Science Review, 7.11.2022, Externer Link: https://doi.org/10.1017/S0003055422001113.

  6. Vgl. Simon Mee, Central Bank Independence and the Legacy of the German Past, Cambridge 2019.

  7. Harald Jähner, Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen, Berlin 2022, S. 82.

  8. Vgl. Gregori Galofré-Vilà, Spoils of War: The Political Legacy of the 1923 German Hyperinflation, in: Explorations in Economic History, 12.11.2022, Externer Link: https://doi.org/10.1016/j.eeh.2022.101479. Allerdings ist ohnehin fraglich, wie sinnvoll es bei einem derartigen Ereignis noch ist, nach regionalen Differenzen zu suchen.

  9. Siehe dazu die Beiträge in Gerald D. Feldman (Hrsg.), Die Nachwirkungen der Inflation auf die deutsche Geschichte 1924–1933, München 1985.

  10. Gabor Steingart, Inflation: Die unbequeme Wahrheit, 15.9.2021, Externer Link: http://www.thepioneer.de/originals/thepioneer-briefing-economy-edition/briefings/inflation-die-unbequeme-wahrheit.

  11. Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 17/130, 29.9.2011, S. 15211, Externer Link: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btp/17/17130.pdf.

  12. Vgl. Lukas Haffert/Nils Redeker/Tobias Rommel, Misremembering Weimar: Hyperinflation, the Great Depression, and German Collective Economic Memory, in: Economics & Politics 3/2021, S. 664–686.

  13. Teupe (Anm. 3), S. 266.

  14. Vgl. Deutsches Historisches Museum, Sparen – Geschichte einer deutschen Tugend, Berlin–Darmstadt 2018, S. 254.

  15. Helmut Schmidt hatte im Wahlkampf 1972 gesagt: "Mir scheint, dass das deutsche Volk – zugespitzt – fünf Prozent Preisanstieg eher vertragen kann als fünf Prozent Arbeitslosigkeit." Zit. nach Süddeutsche Zeitung, 1972, Externer Link: https://t1p.de/schmidtsz.

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ist politischer Ökonom und Oberassistent am Lehrstuhl für Vergleichende Politische Ökonomie der Universität Zürich.
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