Informationen zur politischen Bildung Nr. 335/2023
Dimensionen von Medienkompetenz
Sonja GanguinUwe Sander
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Bedingt durch unterschiedliche Definitionsansätze des Begriffs Medienkompetenz herrscht keine Einigkeit über dessen Bedeutung. Das Medienkompetenzmodell von Dieter Baacke vereint mehrere Dimensionen.
Politik, Eltern und Pädagogik fordern Medienkompetenz – vor allem für Kinder und Jugendliche. Die Diskussion um Medienkompetenz ist allerdings nicht neu und die inflationäre Verwendung des Begriffs legt die Vermutung nahe, dass er zum „Modewort“ geworden ist. Das lässt sich allein daran ablesen, dass der Medienkompetenzbegriff in vielen unterschiedlichen Zusammenhängen gebraucht wird. So kann er beispielsweise aus einer pädagogischen, wirtschaftlichen oder politischen Perspektive betrachtet werden. Von dieser Perspektive hängt dann wieder ab, was unter dem Begriff verstanden wird. Die unterschiedlichen Betrachtungsweisen zeigen, dass es keinen allgemeingültigen Medienkompetenzbegriff gibt.
Das Medienkompetenzmodell von Dieter Baacke
Baacke prägte den Medienkompetenzbegriff maßgeblich, bereits 1973 setzte er sich als erster damit auseinander. In seinem 1996 erschienenen Aufsatz „Medienkompetenz – Begrifflichkeit und sozialer Wandel“ geht Baacke davon aus, „dass jeder Mensch als prinzipiell ‚mündiger Rezipient‘ zu betrachten sei, der zugleich als kommunikativ-kompetentes Lebewesen auch aktiver Mediennutzer ist“. In diesem Sinne meint Medienkompetenz die Fähigkeit, mit Medien vertraut zu sein, sie sinnvoll für sich nutzen zu können und sie für den zwischenmenschlichen Austausch einsetzen zu können. Hierbei gilt der pädagogische Ansatz, Medienkritik und Medienkunde zu vermitteln, damit Menschen Medien selbstbestimmt und souverän nutzen und kreativ mit ihnen umgehen können.
Medienkritik
Die analytische Dimension beinhaltet, dass problematische gesellschaftliche Prozesse logisch-gedanklich zergliedert und erfasst werden können. Gründe, Zusammenhänge und Motive stehen im Zentrum der Analyse für bestimmte Vorgänge im Medienbereich. Es wird also nach dem „Warum“ gefragt. Konkret bezieht sich dies zum Beispiel auf das Wissen, dass private Programme oder Apps, um sich zu finanzieren, von Werbung abhängig sind und diese wechselseitigen Abhängigkeiten Auswirkungen auf die Angebote mit sich bringen. So bezieht sich der Begriff „analytisch“ auf die Fähigkeit, anhand eines Hintergrundwissens über Medienentwicklungen, Strukturen und Zusammenhänge zu reflektieren und diese dadurch differenziert zu betrachten.
Die reflexive Dimension der Medienkritik betrifft die Fähigkeit, sich selbst und das eigene Handeln zum Gegenstand der Analyse zu machen. Sie steht somit in Verbindung mit der analytischen Dimension. Die eigenen Gründe und Motive in Bezug auf die Mediennutzung werden reflektiert. Nach Baacke benötigt jeder Mensch im Medienzeitalter die Kompetenz, sein analytisches und sonstiges Wissen auf sich selbst und sein persönliches Handeln zu beziehen und anzuwenden. Als Begründung zieht er folgendes Beispiel heran: Wir neigen gerade im Medienbereich schnell dazu, über „die anderen“ zu reden und uns selbst außen vor zu lassen. Schon vor vielen Jahren beispielsweise verdeutlichten Untersuchungen, dass „Bild“-Zeitungslesende – weil das Lesen der „Bild-Zeitung“ keinen guten Ruf hatte – angaben, es „nur zum Spaß“ oder nur „nebenbei“ zu betreiben. Anderes Beispiel: In Seminaren über Serien in Vorabendprogrammen mussten die Dozent:innen erfahren, dass Studierende eine äußerst kritische Distanz zeigten, obwohl sie die Sendungen „privat“ und außerhalb ihres Studierauftrages mit Genuss und Interesse sahen.
Der dritte Aspekt von Medienkritik bezieht sich auf ethische Gesichtspunkte im Medienbereich. Ethisch meint hier den verantwortungsvollen und sozial verträglichen Umgang mit Medien. Dazu zählt beispielsweise die moralische Verantwortung, Kindern nur altersgemäße Medieninhalte zur Verfügung zu stellen oder anderen Menschen nicht mit unangemessenen Aussagen in sozialen Netzwerken zu schaden. Daher richtet sich die ethische Dimension von Medienkritik auf die Kompetenz, Werturteile über Medien und ihre Inhalte fällen zu können, indem soziale, wirtschaftliche und gesundheitliche Konsequenzen der Medienentwicklung berücksichtigt werden.
Medienkunde als die zweite Dimension von Medienkompetenz umfasst das Wissen über die heutigen Medien und ihre Systeme. Diese Dimension differenziert sich in die informative und in die instrumentell-qualifikatorische Unterdimension aus. Die erstgenannte bezieht sich dabei auf die klassischen Wissensbestände, also auf das allgemeine Wissen über Medien und Medieninhalte (z. B. die Kenntnis über die Finanzierung privater Medien oder Programminhalte). Die zweitgenannte Fähigkeit ergänzt zu diesem Wissen noch die Fähigkeit, Geräte auch wirklich bedienen zu können, beispielsweise die Fähigkeit, mit dem Schreibprogramm „Word“ zu arbeiten.
Mediennutzung als dritte Dimension bezieht sich auf Medienhandeln und muss rezeptiv-anwendbar und interaktiv-anbietend gelernt werden. Zur Nutzungskompetenz zählt zum Beispiel das Sehen von Fernsehsendungen oder Youtube-Videos, da das Gesehene verarbeitet werden muss, und stellt somit eine Rezeptionskompetenz dar. Interaktiv-anbietend bezieht sich auf den Bereich des auffordernden Anbietens, des interaktiven Handelns. Gemeint ist damit beispielsweise, dass die- oder derjenige fähig ist, sich über das Internet Kleidung zu bestellen oder seine Bankgeschäfte zu tätigen.
QuellentextWie sicher ist Deutschland im Internet
Wie sicher bewegen sich Nutzer in Deutschland im Internet? Welche Techniken kennen sie, um sich zu schützen? Und wenden sie die auch an?
Sicherheitsindex:
Er misst jedes Jahr, wie sicher sich Nutzer im Internet bewegen – je nachdem, wie sie sich verhalten. Rund 2000 Personen werden im Auftrag des Vereins „Deutschland sicher im Netz “ hierfür befragt.
Liegt der Sicherheitsindex über der Schwelle von 50 Punkten, sind die Userinnen und User stärker geschützt als bedroht.
Sicherheitsindex
Was Userinnen und User im Netz tun
Wie sie ihr Wissen nutzen
Sicherheitsmaßnahmen zu kennen, bedeutet noch nicht, sie auch anzuwenden:
Online-Banking verschlüsseln 93 % wissen von der Möglichkeit, 59 % machen von der Möglichkeit Gebrauch
Sichere Bezahlsysteme nutzen 95 % wissen von der Möglichkeit, 73 % machen von der Möglichkeit Gebrauch
Gütesiegel für Online-Shops beachten 90 % wissen von der Möglichkeit, 54 % machen von der Möglichkeit Gebrauch
Wann sie sich schützen würden
Nutzerinnen und Nutzer wurden befragt, was sie motivieren könnte, sicherer mit ihren Daten umzugehen. Ihre Antworten:
67 % Einfachere Sicherheitseinstellungen bei Programmen und Geräten
51 % Lernangebote in Beruf und Schule
25 % Solange mir nichts passiert, sehe ich keinen Grund, mein Sicherheitsverhalten zu ändern
Wie sie angegriffen werden
(in den vergangenen 12 Monaten)
Wie sie angegriffen werden (in den vergangenen 12 Monaten)
So können Nutzer sich schützen
Einfallstore schließen Dazu gehören eine Antivirensoftware, die regelmäßige Updates bekommen sollte, ebenso wie starke Passwörter, die ein spezielles Programm, der Passwortmanager, generiert und verwahrt.
Daten verschlüsseln Schützt etwa Festplatten oder einzelne Ordner vor fremden Zugriff. Die Daten werden dabei in ein codiertes Format umgewandelt. Nur mit dem Schlüssel kann man sie wieder lesbar machen.
Spuren vermeiden Cookies speichern, wie man sich im Netz bewegt. Nicht alle werden gelöscht, manche verfolgen das Verhalten der Nutzer über Jahre. Deshalb nur solche akzeptieren, die technisch notwendig sind.
Privatsphäre schützen Man sollte genau überlegen, welche Fotos oder Nachrichten man wirklich im Netz von sich wiederfinden will. Auch Freunde sollten darauf hingewiesen werden, wenn man etwas über sie veröffentlicht.
Quellen: Deutschland sicher im Netz e.V.: „DsiN Sicherheitsindex 2022“; „Digitaler Selbstschutz im Überblick“; Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik: Sicher im digitalen Alltag; Verbraucherzentrale: „Cookies kontrollieren und verwalten“; Links zu diesen und weiteren Quellen finden Sie unter: www.zeit.de/wq/2022-29
„Gefahr im Netz“, Franziska Schindler (Recherche) / Pia Publies (Grafik), in: DIE ZEIT Nr. 29 vom 14. Juli 2022 (Infografik „Digitale Sicherheit“, Nr. 681).
Mediengestaltung ist die vierte Dimension von Medienkompetenz und beinhaltet eine kreative Unterdimension (z. B. die Betonung ästhetischer Komponenten) und eine innovative Unterdimension (Veränderungen, Weiterentwicklungen des Mediensystems innerhalb der angelegten Logik). Konkret bedeutet dies etwa das Erstellen von Video-Aufnahmen, in denen Jugendliche zeigen, wie sie eine schwierige Aufgabe in einem Computerspiel lösen (Let’s play) oder die Gestaltung eines eigenen Avatars. Diese Kompetenzen der Mediengestaltung besitzen nur die wenigsten Menschen, die sich damit von lediglich konsumierenden Mediennutzer:innen durch ihre Professionalität unterscheiden.
Schulische Aufgabenfelder zur Medienkompetenzförderung
Ein wichtiger Ansatz ist zudem das Medienkompetenzkonzept von Gerhard Tulodziecki. Tulodziecki, emeritierter Professor für Allgemeine Didaktik und Medienpädagogik, benannte als einer der Ersten im Jahre 1998 konkrete Aufgabenfelder der schulischen Medienpädagogik und entwickelte einen Koordinierungsrahmen für medienpädagogische Unterrichtseinheiten.
Sein Ansatz geht von fünf Aufgabenfeldern der Medienpädagogik aus:
Erster Aufgabenbereich ist das Auswählen und Nutzen von Medienangeboten. Der zweite Bereich ist das Gestalten und Verbreiten eigener Medienbeiträge, drittens, dass Kinder und Jugendliche Mediengestaltungen verstehen und bewerten können. Darauf folgt als viertes Aufgabenfeld das Erkennen und Aufarbeiten von Medieneinflüssen und schließlich fünftens das Durchschauen und Beurteilen von Bedingungen der Medienproduktion und -verbreitung. Diese fünf Aufgabenbereiche können nicht getrennt voneinander betrachtet werden, sondern stehen immer in einem Wechselverhältnis zueinander.
In dem ersten Aufgabenbereich, Auswählen und Nutzen von Medienangeboten, sollen Kinder und Jugendliche lernen, Medienangebote, also mediale Produkte (z. B. eine Fernsehserie), Werkzeuge (z. B. ein Textverarbeitungsprogramm) und Kommunikationsdienste (zum Beispiel einen Chat) bewusst im Sinne verschiedener Funktionen, wie beispielsweise die Befriedigung von Bedürfnissen, zu nutzen. Dabei sieht Tulodziecki diesen Bereich aufgrund der starken Einbettung von Medien in den Alltag von Kindern und Jugendlichen als besonders relevant an. Bei diesem ersten Aufgabenbereich steht vor allem das mediale Produkt im Vordergrund der Betrachtung.
Das zweite Aufgabenfeld, Gestalten und Verbreiten eigener Medienbeiträge, bezieht sich darauf, dass Kinder und Jugendliche die Möglichkeit erhalten, selbst Medien zur Gestaltung eigener Interessen, Bedürfnisse sowie zur künstlerischen Produktion einzusetzen und zu verbreiten, wie beispielsweise selbst produzierte Videos bei Youtube oder Tiktok zu senden. Dadurch eröffnet sich ihnen die Möglichkeit, nicht nur zu konsumieren, sondern selbst Inhalte zu produzieren und zu veröffentlichen. So können Jugendliche Themen behandeln, die ihnen wichtig sind. Dadurch lernen sie, mediale Angebote kritisch einzuordnen, zu bewerten sowie sich mit den Strukturen medialer Verbreitung vertraut zu machen. Dieser Aufgabenbereich setzt den Schwerpunkt der Perspektive ebenfalls auf das mediale Produkt, allerdings im Gegensatz zum vorherigen Aufgabenbereich auf das selbst zu Gestaltende.
Ausgangspunkt für den dritten Aufgabenbereich, Verstehen und Bewerten von Mediengestaltungen, ist nach Tulodziecki die Problemlage, dass es aufgrund der Medienentwicklung immer schwieriger wird, Medienaussagen richtig einzuordnen. Als Basis für ein angemessenes Verstehen und Unterscheiden von Mediengestaltungen ist das erste Ziel dieses Aufgabenbereichs, dass Kinder und Jugendliche verschiedene Darstellungsformen von medialen Inhalten kennenlernen und zwischen verschiedenen Grundkategorien medialer Gestaltung und Vermittlung unterscheiden können, etwa zwischen Bericht und Meinung. Zweitens geht es darum, dass Gestaltungstechniken von Medien sowie ihre Manipulationsmöglichkeiten bewusst werden, zum Beispiel Kameraperspektiven und Kamerabewegungen bei Film und Fernsehen oder bearbeitete Fotos in sozialen Netzwerken. Schließlich geht es um die Unterscheidung und Einschätzung verschiedener Gestaltungsarten und ihrer spezifischen Möglichkeiten und Grenzen, beispielsweise um die Besonderheiten von Comics, Animes oder Computerspielen.
Der vierte Aufgabenbereich, Erkennen und Aufarbeiten von Medieneinflüssen, basiert nach Tulodziecki auf der Annahme, dass die Mediennutzung Einfluss auf Emotionen, Vorstellungen, Verhaltensorientierungen und Alltagsgeschehen nimmt. Diese Annahme gründet auf den Sachverhalt, dass für Kinder bei ihrer Mediennutzung Spannung und Humor im Vordergrund stehen und mit ihnen Gefühle wie Freude, aber auch Angst erzeugt werden können. Um diese Medienwirkungen zu verarbeiten, soll dieser Aufgabenbereich der Medienpädagogik Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit eröffnen, medienbedingte Emotionen und medienbeeinflussende Verhaltensorientierungen aufzuarbeiten und störenden Faktoren entgegenzuwirken, wie unten am Beispiel Hatespeech im Schulunterricht gezeigt wird.
Der fünfte Aufgabenbereich, Durchschauen und Beurteilen von Bedingungen der Medienproduktion und Medienverbreitung, zielt auf die Notwendigkeit ab, dass Kinder und Jugendliche Medienangebote hinsichtlich der mit ihnen verbundenen Interessen überprüfen können, indem sie lernen, richtig zu analysieren und zu bewerten. Dieser Aufgabenbereich hängt somit auch eng mit dem des Verstehens und Bewertens von Mediengestaltungen zusammen. Zugleich sollen sie, diesmal in Wechselbeziehung zum Aufgabenbereich des Erkennens und Aufarbeitens von Medieneinflüssen, lernen zu durchschauen, wie sich ihre eigenen Bedürfnisse in Medieninstitutionen widerspiegeln. Darüber hinaus ist hier die Analyse und Kritik von personalen, institutionellen, ökonomischen und rechtlichen Bedingungen der Medienproduktion und Medienverbreitung von Relevanz. Standen bei den vorhergehenden Aufgabenbereichen vor allem das mediale Produkt sowie die Rezipierenden im Zentrum, so werden hier auf der Angebotsseite die Kommunizierenden in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt. Dabei ist dieser Bereich von besonderem Interesse im Hinblick auf die Partizipation an der Medienkultur, da nur teilhaben kann, wer mit den Wegen der Verbreitung und Veröffentlichung von Inhalten vertraut ist.
Insgesamt ist hier noch zu erwähnen, dass Tulodziecki seine Überlegungen sehr ausführlich veranschaulichte, indem er zu jedem Aufgabenbereich auch zugleich Vermittlungsansätze an die Hand reichte, die sich an Jahrgangsstufen in der Schule und folglich auch an dem Alter der Schüler:innen angemessen orientieren. Tulodziecki hat im Laufe der Jahre mit Kolleg:innen sein Rahmenmodell weiter angepasst und um digitale Inhaltsbereiche ergänzt. Diese Inhaltsbereiche lauten: Medienlandschaft und ihre digitale Infrastruktur, Gestaltungsmerkmale und Prozesse der Erzeugung medialer Botschaften, Medieneinflüsse auf Individuum und Gesellschaft sowie Bedingungen der Medienproduktion und Medienverbreitung.
Insgesamt ist das Ziel medienkompetenten Handelns – und darüber sind sich alle Modelle einig – der aktive, selbstbestimmte und schließlich kritisch-reflektierende Umgang mit Medien. Diese Zielbestimmung kann als Voraussetzung verstanden werden, um in einer Mediengesellschaft angemessen an gesellschaftlichen Diskussionsprozessen teilhaben zu können.
Dabei ist die Fähigkeit zur Medienkritik die am schwierigsten zu erlernende, da das Beurteilen von Medienproduktionen und -verbreitungen auf einem hohen abstrakten kognitiven Niveau erfolgt. Wer aber gelernt hat, diese Bedingungen zu durchschauen, der kann auch Medienprodukte eher einschätzen und auch sich selbst adäquat in der Medienlandschaft verorten.
Kritikfähigkeit als zentraler Bestandteil von Medienkompetenz
Werden die hier vorgestellten Medienkompetenzmodelle in Bezug auf die Dimension von Kritikfähigkeit betrachtet, wird deutlich, welch zentrale Bedeutung der kritischen Bewertung von Medien und ihren Inhalten zugeschrieben wird.
Dieser Vorgang setzt erstens das Wahrnehmen, Verstehen und Entschlüsseln (Decodieren) von Mediensprache und Medieninhalten voraus.
Ein Beispiel wäre, das Bild hier unten in seiner Text- und Bildsprache verstehen zu können: Was bedeutet für Jugendliche ein „Opfer“? Was sollen die Icons ausdrücken? Was passiert, wenn auf „Gefällt mir“ gedrückt wird? Den meisten Heranwachsenden ist diese „Sprache“ vertraut, gelernt wird sie allerdings nicht im Elternhaus oder in der Schule, sondern in den jugendlichen Medienwelten selbst.
Zweitens werden bei Medienkritik Fähigkeiten benötigt, um soziale Konsequenzen von Medien und Medieninhalten abschätzen zu können; etwa wenn ein Post veröffentlicht wird. Dann nämlich sollte man abschätzen können, was damit angestoßen oder sogar angerichtet werden kann.
Im nächsten Beispiel sehen wir ein Mädchen, das weinend vor ihrem Laptop sitzt, möglicherweise auch ihr Smartphone in der linken Hand hält und gemobbt wurde („Loser“, „Daumen nach unten“ etc.). Das Bild trägt die Überschrift „Handeln gegen Hate Speech“ und will dazu anregen, Hatespeech nicht passiv zu erdulden, sondern aktiv zu werden. Das meint konkret: Erstens gegenzureden (Counterspeech), zweitens den Vorfall anderen Personen mitzuteilen (Melden), drittens den Vorgang zu speichern (Dokumentieren) und viertens das Geschehen nicht zu vertuschen, sondern öffentlich zu machen (zum Beispiel bei der Polizei oder in der Schule anzuzeigen).
Und drittens sollen die einzelnen Fähigkeiten von Medienkritik dazu dienen, auch gesellschaftliche Auswirkungen von Medien und Medieninhalten zu berücksichtigen und zu verstehen. So wird heute zum Beispiel das „Frauen- bzw. Geschlechterbild in den Medien“ diskutiert, weil unterstellt wird, dass Geschlechterstereotype (also weibliche/männliche/diverse Rollenbilder) oder Darstellungen ethnischer Gruppen in den Medien „heimliche Erziehung“ betreiben und sich in den Köpfen und im Handeln der Bevölkerung festsetzen.
Gesellschaftliche Veränderungen und mediale Darstellungen, das müsste erkannt werden, sind untrennbar miteinander verbunden. Was noch in den 1950er-Jahren gang und gäbe war, wäre heute nicht mehr vorstellbar. Die heutige Diskussion über diskriminierende Mediendarstellungen zeigt, dass sich Medienkritik durchaus etablieren konnte. So ist beispielsweise die rassistische und stereotype Darstellung von indigenen Bevölkerungsgruppen in Kinderbüchen deutlich zurückgegangen. Zuletzt hat dies die Diskussion um die Werke von Karl May verdeutlicht.
Während der Fußball-Weltmeisterschaft der Männer 2018 wurde die Werbeanzeige eines Nahrungsmittelunternehmens öffentlich kontrovers diskutiert und gerügt, weil darin ein veraltetes Rollenbild der Hausfrau dargestellt wurde. Als Fazit lässt sich festhalten: Wichtig ist, dass der Prozess der Entwicklung zur Medienkritik im Kontext lebenslangen Lernens als nie abgeschlossen verstanden wird. Auch im Erwachsenenalter muss das eigene Denken ständig überprüft werden. Medienkritik als Fähigkeit und Zielwert der Persönlichkeit richtet sich demnach nicht nur an Heranwachsende, sondern ausdrücklich auch an Erwachsene, die sich der rasanten Entwicklung der digitalen Medien stellen wollen.
Prof.‘in Dr. Sonja Ganguin ist Professorin für Medienkompetenz- und Aneignungsforschung am Institut für Kommunikation- und Medienwissenschaft und Direktorin des Zentrums für Medienproduktion an der Universität Leipzig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Medienkompetenz, Medienkritik, digitale Spiele und digitales Lernen. E-Mail-Adresse: E-Mail Link: sonja.ganguin@uni-leipzig.de
Prof. Dr. Uwe Sander ist Professor (i.R.) für Medienpädagogik an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld. Seine Forschungsschwerpunkte sind Mediennutzung und Medienforschung sowie Jugend und Jugendkultur. E-Mail-Adresse: E-Mail Link: uwe.sander@uni-bielefeld.de
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