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Dokumentation: Der Fall des CISR | Russland-Analysen | bpb.de

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Dokumentation: Der Fall des CISR

/ 8 Minuten zu lesen

Das in Sankt-Petersburg ansässige Zentrum für Unabhängige Soziologische Studien (CISR) hat eine Verwarnung des russischen Justizministeriums erhalten, dass es gegen das sogenannte "Agentengesetz" verstoßen hätte. Daraufhin brachten die Mitarbeiter des Zentrums einen offenen Brief heraus.

Menschenrechtsaktivisten auf einer Pressekonferenz, wo sie sich über das sog. "Agentengesetz" beschweren. (© picture-alliance/dpa)

Offener Brief der Mitarbeiter des "Zentrums für Unabhängige Soziologische Studien" (St. Petersburg)

Am 12. März 2015 erhielt die Autonome nichtkommerzielle Organisation "Zentrum für Unabhängige Soziologische Studien" ([engl. Abk.:] "CISR") eine Externer Link: Verwarnung der Hauptverwaltung St. Petersburg des Justizministeriums, da das Zentrum gegen Gesetze der Russischen Föderation verstoßen habe; das Schreiben enthält die Anordnung, dass das Zentrum bis zum 20. April 2015 einen Antrag auf Aufnahme in das Register für "Nichtkommerzielle Organisationen", die die Funktion eines ausländischen Agenten erfüllen" zu stellen habe.

Wir, die Mitarbeiter des Zentrums für Unabhängige Soziologische Studien, halten diese Anordnung für unbegründet. Gemäß § 2 Punkt 6 des Föderalen Gesetzes "Über nichtkommerzielle Organisationen" wird unter einer "nichtkommerziellen Organisation, die die Funktion eines ausländischen Agenten erfüllt" eine russische nichtkommerzielle Organisation (NKO) verstanden, die eine Finanzierung aus ausländischen Quellen erhält und sich auf dem Territorium der Russischen Föderation mit politischer Tätigkeit befasst. Unter "politischer Tätigkeit" wird in diesem Gesetz die "Beteiligung (unter anderem durch Finanzierung) an der Organisation und Durchführung von politischen Aktionen, die auf Entscheidungen von Staatsorganen Einfluss nehmen sollen, auf eine Änderung der von ihnen durchgeführten staatlichen Politik ausgerichtet sind, oder auf eine Änderung der öffentlichen Meinung zu den genannten Zwecken" verstanden. Das Gesetz führt aus, dass "[Zu] politischer Tätigkeit nicht eine Tätigkeit in den Bereichen Wissenschaft, Kultur, Kunst [und vielen anderen] gehört" (§ 2 Punkt 6 Abs. 3). Das Verfassungsgericht der Russischen Föderation hat eingehender klargestellt, dass eine Tätigkeit in diesen Bereichen nicht als politisch betrachtet werden kann, selbst in dem Falle, dass sie "den Zweck hat, auf Entscheidungen von Staatsorganen oder auf durch diese verfolgte staatliche Politik einzuwirken" (Punkt 3.3 des Verfassungsgerichtsbeschlusses Nr. 10-P vom 8. April 2014).

Unserer Ansicht nach belegt kein einziger der in der Verwarnung der Verwaltung des Justizministeriums aufgeführten Umstände eine "politische Tätigkeit" des CISR im Sinne von § 2 Punkt 6 des Föderalen Gesetzes "Über nichtkommerzielle Organisationen". Alles, was dort aufgeführt wird, gehört zur satzungsgemäßen Tätigkeit des CISR, entspricht der Definition von "wissenschaftlicher Tätigkeit", wie sie im Föderalen Gesetz "Über die Wissenschaft und die staatliche Wissenschafts- und Technologiepolitik" gegeben wird […], sowie der "professionellen Tätigkeit" eines Soziologen (siehe den Föderalen Bildungsstandard für Soziologie).

Unserer Ansicht nach stellen die Entwicklung und Herausgabe eines Methodik-Handbuchs, das Einstellen von Aufzeichnungen eines wissenschaftlichen Vortrags und dessen Erörterung oder die Ankündigung einer gemeinschaftlich verfassten Monographie, in der die Ergebnisse einer Studie veröffentlicht werden, auf der Website der Organisation eine Form der wissenschaftlichen, d. h. professionellen Tätigkeit von Soziologen dar, und kann nicht als "politische Aktion" eingestuft werden.

Wir halten die in der Verwarnung enthaltene Behauptung, dass das Methodik-Handbuch, das für eine Schulung zur Unvoreingenommenheit von Friedensrichtern unter Mitwirkung eines Mitarbeiters des Zentrums entwickelt wurde, "die Herstellung einer negativen öffentlichen Resonanz bezwecken" sollte, und dass "das CISR durch die redaktionelle Bearbeitung, den Druck, die Verbreitung [dieser] Publikation zielgerichtete Handlungen zur Schaffung einer negativen öffentlichen Meinung" in Bezug auf das Gerichtswesen in der Russischen Föderation vornehme, für unbegründet. Die in dem Handbuch an´geführte Definition von "Unvoreingenommenheit" […] entspricht den Prinzipien für einen rechtskonformen Gerichtsprozess und liegt den Anforderungen an ein gerechtes Gerichtsverfahren zugrunde, wie sie in der Strafprozessordnung der Russischen Föderation und anderen Dokumenten zur Prozessordnung festgeschrieben sind.

Der Vorwurf der Verwaltung des Justizministeriums in Bezug auf die Diskussion über einen bei den alljährlichen Vorlesungen Lektionen des CISR gehaltenen wissenschaftlichen Vortrags zu politischen Strategien der Gewerkschaften, deren Aufzeichnung auf der Website des Zentrums eingestellt wurde, läuft darauf hinaus, dass "Teilnehmer [dieser Veranstaltung] Äußerungen getätigt haben, in denen geltende Gesetze negativ bewertet werden". Unserer Ansicht nach kann die öffentliche Äußerung von Kritik an geltenden Gesetzen nicht als Bruch dieser Gesetze und kann die Äußerungen von Seminarteilnehmern nicht als Tätigkeit der Organisation betrachtet werden. Darüber hinaus stellt ein kritischer Ansatz eine der Anforderungen an die wissenschaftliche und Forschungstätigkeit von Soziologen dar (s. Punkt 4.4 der Standards); er kann nicht aus der wissenschaftlichen Diskussion ausgeschlossen und als Beleg für "politische Tätigkeit" betrachtet werden.

Für ebenso unbegründet halten wir die Annahme der Verwaltung des Justizministeriums in Bezug auf die Ziele, die das CISR angeblich verfolgte, als es auf seiner Website Informationen über die gemeinschaftlich verfasste Monographie "Die Politik der Apolitischen. Bürgerbewegungen 2011–2013 in Russland" platzierte. Dieses Buch beschreibt die Ergebnisse empirischer Studien zu aktuellen politischen Prozessen. Es hat alle Zyklen der Erstellung eines wissenschaftlichen Textes einschließlich der Rezension durchlaufen und ist in einem angesehen Verlag erschienen. Die Annahme, dass Sozialwissenschaftler zu anderen als wissenschaftlichen und professionellen Zwecken eine Studie durchführen und deren Ergebnisse veröffentlichen, basiert auf einer fehlerhaften Vorstellung vom Charakter und den Aufgaben der Arbeit von Soziologen.

Wir erklären unser gesetzlich verbrieftes Recht Forschungsthemen selbständig und frei zu wählen und uns öffentlich zu den Ergebnissen unserer Arbeit zu äußern. Wir behaupten, dass ein direkter oder mittelbarer Einfluss auf die öffentliche Meinung eine logische Folge der beruflichen Tätigkeit von Soziologen ist und nichts an deren Wesen ändert. Der Soziologie ist immanent eine kritische Funktion eigen. Es ist ihr Ziel, gesellschaftliche Phänomene zu studieren, einen Dialog mit der Gesellschaft zu führen, und dabei ihre professionelle Sicht auf Probleme vorzulegen. Die Soziologie ist wie jede Wissenschaft international. Ohne eine Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern aus anderen Ländern, ohne einen Anschluss an den internationalen Markt der Forschungsförderung verliert die russische Soziologie ihre Anreize und ist zu Stagnation und Niedergang verurteilt.

Wir sind der Ansicht, dass nichtstaatliche (selbstverwaltete) Forschungszentren wie das Zentrum für Unabhängige Soziologische Studien bei der Gestaltung und Entwicklung einer modernen Soziologie in Russland eine wichtige Rolle übernehmen. Die Anwendung des "Gesetzes über ausländische Agenten" auf Wissenschaftsorganisationen dieser Art stellt eine institutionelle Diskriminierung von Sozialwissenschaftlern in Bezug auf ihren Arbeitsplatz dar, da dies praktisch einem Berufsverbot für Wissenschaftler , die im nichtstaatlichen und nichtkommerziellen Bereich arbeiten, gleichkommt. Die Aufnahme eines nichtstaatlichen Forschungszentrums in das Register ausländischer Agenten würde der betroffenen Organisation nicht nur eine große administrative und finanzielle Last auferlegen, sondern auch die berufliche Tätigkeit der Mitarbeiter einschränken, indem ihnen der Zugang zu legitimen Wissenschaftsfeldern entzogen und ihr verfassungsmäßiges Recht auf wissenschaftliche Kreativität beschnitten wird.

Ausgehend vom oben Gesagten sehen wir keinen Grund zur Vorlage eines Antrags auf Aufnahme des Zentrums für Unabhängige Soziologische Studien in das Register nichtkommerzieller Organisationen, die die Funktion eines ausländischen Agenten erfüllen, und betrachten eine solche Forderung durch die Verwaltung des Justizministeriums als unbegründet und diskriminierend. 12. April 2015

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

* * *

Auf der Website des CISR wurde ein Unterstützerbrief veröffentlicht, den wir an dieser Stelle ebenfalls dokumentieren. Er wurde bisher von 1354 Personen aus dem In- und Ausland unterzeichnet (Stand 2. Juni 2015). Die englische Fassung des Briefes und die Möglichkeit zur Unterzeichnung sind unter Externer Link: http://cisr.ru/en/support/ zu finden.

Unterstützerbrief

Am 15. April 2015 hat das Zentrum für unabhängige soziologische Studien (CISR) einen offenen Brief in Umlauf gebracht, in dem die Belegschaft seine Weigerung verkündet, einen Antrag auf Aufnahme des CISR in das Register für russische nichtkommerzielle Organisationen zu stellen, die die Funktion eines ausländischen Agenten erfüllen.

Wir unterstützen die Mitarbeiter des Zentrums in ihrer Entscheidung. Wir halten die Verwarnung des Justizministeriums der Russischen Föderation nicht nur für unbegründet, sondern auch für eine Bedrohung der Soziologie in Russland. Das CISR ist heute eines der profiliertesten und in der Wissenschaft anerkanntesten soziologischen Zentren Russlands. Die Entstehung des CISR im Jahr 1991 korrespondierte ideal mit dem damaligen Zeitgeist: Seine Gründung stellte den erfolgreichen Versuch dar, eine neue Wissenschaft in einem neuen Land zu betreiben. Die Studien des Zentrums haben stets die Aufmerksamkeit von Kollegen und eines breiten Publikums auf sich gezogen – aufgrund ihrer wissenschaftlichen Unerschrockenheit und Sensibilität gegenüber dem Zeitgeschehen und der Fähigkeit, Probleme genau zu benennen, lange bevor sie für die Allgemeinheit ersichtlich werden. Den Bemühungen des Zentrums ist es zu einem großen Teil zu verdanken, dass sich in den unterschiedlichsten Feldern der Sozialforschung – Migration, Ethnizität, städtisches Alltagsleben, Genderforschung – eine zeitgenössische Wissenschaftssprache etablierte, hochwertige Methoden der Sozialforschung sich entwickelten, Verbreitung fanden und sich grundlegend neue Themenkomplexe eröffneten.

Das CISR hat sich über viele Jahre hinweg zu einem bedeutenden Ort wissenschaftlicher Debatte, zu einer Ressource für russische und internationale Wissenschaftler sowie zu einer Basis für die Verwirklichung innovativer und interdisziplinärer Projekte entwickelt. Die vom Zentrum organisierten Konferenzen und Seminare bringen Wissenschaftler aus vielen Ländern zusammen. Die vom Zentrum herausgegebene zweisprachige [russisch und englisch] Zeitschrift "Laboratorium: Zeitschrift für Sozialforschung" hat unter Kollegen eine wohlverdiente Anerkennung gefunden. Viele Wissenschaftler aus Russland und dem Ausland schätzen die Resultate ihrer Zusammenarbeit mit dem CISR in wissenschaftlichen Projekten und betrachten Aufenthalte am CISR als wichtige Etappe ihrer beruflichen Laufbahn.

Die Verwaltung St. Petersburg des Justizministeriums legt dem CISR eine Kritik an der geltenden russischen Gesetzgebung zur Last, und dass es die Aufmerksamkeit auf die in der modernen russischen Gesellschaft bestehenden Probleme lenkt. Das bedeutet praktisch, dass die Mitarbeiter des Zentrums beschuldigt werden, ihre Aufgabe (zu) gut zu machen. Die Fähigkeit soziale Probleme und Unzulänglichkeiten aufzudecken, sind nicht Charakteristika eines ausländischen Agenten, sondern der Soziologie als einer internationalen Wissenschaft. An allen Universitäten der Welt wird Studierenden der Soziologie beigebracht, Probleme zu identifizieren, Forschungsfragen zu stellen, letztere mit Hilfe eines professionellen Instrumentariums zu beantworten und einen Dialog mit der Gesellschaft zu führen. Für Soziologen ist ein Kommunikationsverbot über Unzulänglichkeiten gesellschaftlicher und staatlicher Institutionen und Praktiken gleichbedeutend mit einem Berufsverbot.

Wie vielen von uns bekannt ist, führte die Weigerung, soziale Prozesse in der UdSSR kritisch zu analysieren, zu beträchtlichen Defiziten der sowjetischen Gesellschaft in ihrem Wissen über sich selbst. Jede Gesellschaft, die die Verfolgung von Sozialwissenschaftlern und unabhängigen wissenschaftlichen Organisationen zulässt, ist dazu verurteilt, Wissen, Ideen und Strategien hinsichtlich der eigenen Zukunft einzubüßen.

Wir halten das Zentrum für Unabhängige Soziologische Studien (CISR) für einen wichtigen Teil der russischen und internationalen soziologischen Gemeinschaft und die Unabhängigkeit und Unbefangenheit seiner Standpunkte sowie seine Fähigkeit zur Kritik für zentrale Charakteristika seiner Profession.

Wir möchten daher dem Justizministerium nahelegen, seine Verwarnung zurückzuziehen und dem Recht der Sozialwissenschaftler auf ihren Beruf Respekt zu erweisen. Wir sind bereit, die Mitarbeiter des Ministeriums bei einer eingehenden Analyse des Wesens der Soziologie als Wissenschaft und als einer bedeutenden sozialen Tätigkeit zu unterstützen, um zukünftige, ungerechtfertigte Anschuldigungen zu vermeiden.

Übersetzung aus dem Russischen: Anna Schwenck

Fussnoten