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Analyse: Inlandsinvestitionen und "deofschorisazija" – ein Paradigmenwechsel in der russischen Finanzpolitik? | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Inlandsinvestitionen und "deofschorisazija" – ein Paradigmenwechsel in der russischen Finanzpolitik?

Ewa Dąbrowska

/ 9 Minuten zu lesen

Seit 2012 fördert die russische Regierung verstärkt Investitionen aus inländischen Kapitalquellen und versucht, russisches Kapital aus Steueroasen in das nationale Wirtschaftssystem zurückzuholen. Beide Maßnahmen scheinen angesichts der aktuellen Lage notwendig, zeigen aber bis jetzt nur mäßigen Erfolg.

Hauptsitz der Sberberbank, der größten russischen Privatbank. (© picture-alliance/dpa)

Rechte Ideen in der russischen Wirtschaftspolitik

Putins Präsidentschaft zeichnet sich seit 2012 durch eine verstärkt anti-westliche und anti-liberale Rhetorik und Politik aus. Diese ideologische Wende ist bis vor kurzem nicht konsistent mit Russlands wirtschaftlicher Praxis gewesen, insbesondere mit der Politik der führenden Konzerne, wie vor allem nationalistische Akteure immer wieder betonten. Zum rechten Lager der russischen Politik gehören unter anderem Abgeordnete der Kommunistischen Partei, der "Liberal-Demokraten" von Schirinowskij sowie der von Rogosin und Glasjew reaktivierten Partei "Rodina", Intellektuelle des "Isborskij Klub" sowie mit ihnen sympathisierende Teile des russischen Militärs, des militärisch-industriellen Komplexes, der Geheimdienste und anderer staatlicher Strukturen. "Einiges Russland" und die Präsidialadministration repräsentieren zwar einen "zentristischen Nationalismus", haben aber in den letzten Jahren viele Deutungsmuster von nationalistisch denkenden Eliten übernommen. Russische Oligarchen galten in ihrem Diskurs schon lange als Verräter nationaler Interessen. Die Tatsache, dass Oligarchen ihre Gewinne im Ausland, bevorzugt in Steueroasen, anlegen, statt sie in Russland zu investieren, wurde heftig kritisiert. Das galt besonders für Gewinne aus dem Rohstoffgeschäft, da natürliche Ressourcen im "patriotischen" Diskurs als nationaler Reichtum gelten, von dem das ganze Volk profitieren sollte. Aus dem gleichen Grund sorgte die seit 2004 betriebene Politik der russischen Regierung, Überschüsse aus dem Ölgeschäft in Form von staatlichen Ölfonds in westlichen Staatsanleihen anzulegen, für einen Aufschrei, nicht zuletzt in den regierungstreuen Medien.

Seit 2012 reagiert die russische Führung auf Forderungen der nationalistischen Akteure, zumindest einen Teil der Ölgewinne im Inland zu investieren. Auch ist sie scheinbar bemüht, das russische Kapital aus den Steueroasen ins Inland zurück zu holen (russ.: "deofschorisazija" – "Ent-Offshorisierung"). Kann diese Politik angesichts der engen Verflechtung der russischen Wirtschaft mit dem globalen Finanzsystem gelingen? Und trägt sie, als eine Folge der Wirtschaftskrisen, zur Abschottung des russischen Finanzsystems im Sinne der patriotischen Eliten bei?

Einbindung der russischen Wirtschaft in das globale Finanzsystem

Die Einbindung der russischen Wirtschaft in die globale Ökonomie lässt sich am besten anhand der Struktur der internationalen Finanzströme demonstrieren. Aufgrund des kapitalschwachen nationalen Finanzmarktes waren expansionswillige russische Großunternehmen auch in der Ölboom-Periode 2000–2008 gezwungen, finanzielle Ressourcen aus dem Ausland zu beziehen. Sie nahmen Kredite bei ausländischen Banken auf, verkauften ihre Anleihen an ausländische Investoren und führten Börsengänge an internationalen Finanzbörsen durch. Diese Dynamik führte dazu, dass die private Auslandsverschuldung der russischen Wirtschaft wuchs, parallel zu den Bemühungen der russischen Regierung, die staatlichen Schulden zurückzuzahlen. So betrug im Jahr 2006 die Auslandsverschuldung der russischen Banken und Unternehmen 261,9 Mrd. US-Dollar, 2007 bereits 424,7 Mrd. und 448,3 Mrd. US-Dollar im Jahr 2008. Bezeichnenderweise waren staatliche oder halbstaatliche Konzerne, wie z. B. "Gazprom", "Rosneft", die Russischen Eisenbahnen RZD, "Transneft", "VTB" und "Sberbank" für bis zu 75 % dieser Summe verantwortlich. Diese Summe entsprach in etwa dem Volumen der ausländischen Reserven, die von der Russischen Zentralbank gehalten wurden, einschließlich des Stabilisierungsfonds: Im Jahr 2006 betrugen diese 303,7 Mrd. US-Dollar, 2007 bereits 476,4 Mrd. und 2008 lagen sie bei 427,1 Mrd. US-Dollar (zur Entwicklung des Nationalen Wohlfahrtsfonds siehe die Grafik auf S. 12). Die Reserven wurden wiederum in ausländischen Staatsanleihen angelegt oder in ausländischer Währung gehalten.

Erschwerter Zugang zu finanziellen Ressourcen aus dem Ausland nach den Krisen 2008/2009 und 2014/2015

Die Finanzkrise 2008/2009 hat das oben beschriebene makroökonomische Modell infrage gestellt, dem zufolge vor allem Regierung und Zentralbank die Stabilität des Finanzsystems aufrechterhalten, indem sie substantielle Reserven akkumulieren. In der zweiten Hälfte 2008 waren ausländische Banken aufgrund ihrer eigenen verschlechterten finanziellen Situation nicht mehr bereit, die Kredite russischer Firmen zu verlängern und verlangten ihre Rückzahlung. Daraufhin baten die russischen Oligarchen den Staat um Hilfe. Ein Rettungspaket wurde geschnürt, infolge dessen die Auslandskredite von der russischen Entwicklungsbank "Vneshekonombank" (VEB) aufgekauft wurden. Dafür wurden insgesamt 50 Mrd. US-Dollar bereitgestellt. Doch nur rund ein Viertel davon wurde genutzt. Nachdem sich die Lage auf den internationalen Finanzmärkten stabilisiert hatte, kehrte man jedoch erneut zum alten Modell zurück. Die "private" Auslandsverschuldung betrug wiederum über 400 Mrd. US-Dollar.

Erst die politische Krise 2014/2015 stellte diese Praxis auf die Probe. Gerade diejenigen Firmen, die am meisten von ausländischen Krediten profitiert hatten, wurden von westlichen Sanktionen getroffen, die nach der Krim-Annexion verhängt wurden. Darunter fanden sich Unternehmen wie Gazprom, Rosneft, und Transneft und Banken wie die VTB, Sberbank, Gazprombank sowie Vneshekonombank, denen von nun an der Zugang zu ausländischen Finanzmärkten verwehrt wurde. Obwohl viele dieser Firmen Tochtergesellschaften im Ausland haben, die ihnen Ressourcen bereitstellen können, bekamen sie Liquiditätsprobleme. Aus diesem Grund beantragten sie daraufhin Gelder aus dem "Fonds der Nationalen Wohlfahrt" (FNW).

Eine Wende hin zu einer "patriotischen" Finanzpolitik?

Auch die russische Finanzpolitik folgte in der Zeit des Ölbooms einem liberal-konservativen Modell: Die Regierung sparte einen Großteil ihrer Einnahmen oder investierte sie. Trotz wachsender Staatsausgaben wurde jedes Finanzjahr mit einem Haushaltsüberschuss von bis zu 8 % abgeschlossen. Darüber hinaus bildete die Regierung substantielle Reserven, indem sie Einnahmen aus den Steuern auf Ölgewinnung (Steuer auf die Förderung von Bodenschätzen, russ.: NDPI) und aus Exportzöllen im Stabilisierungsfonds akkumulierte, der 2008 in den "Reservefonds" und den "Fonds der Nationalen Wohlfahrt" aufgeteilt wurde. Dieses Modell löste eine Kontroverse in der russischen Gesellschaft aus, da der Eindruck entstand, die Regierung verknappe künstlich das Geld in Zeiten des Überflusses. Dies geschah tatsächlich mithilfe einer Politik der sogenannten "Sterilisierung" (d. h. einer Reduzierung der nationalen Geldmenge um die Summe der Öleinnahmen, die im Stabilisierungsfonds angelegt werden). Diese Gelder standen allerdings der Wirtschaft in Krisenzeiten zur Verfügung, waren also nicht vollkommen gelöscht, wie der Begriff der Sterilisation nahelegen würde.

Sowohl die nationalistisch-konservativen Politiker, Ökonomen und Intellektuellen, als auch große Teile der Wirtschaftselite und der Bürokratie forderten noch vor der Krise, den Stabilisierungsfonds (und später den FNW) für inländische Investitionen zu verwenden. Auf diese Forderungen ging Putin nur partiell ein, indem 2007 etwa ein Zehntel des Stabilisierungsfonds in den neu entstandenen Entwicklungsinstitutionen – der Entwicklungsbank, der Staatskorporation "Nanotechnologii" (heute: "Rosnano") – und im Investitionsfonds angelegt wurde. Als ähnlich kontrovers galt die Tatsache, dass die russische Wirtschaft massiv auf Offshore-Standorten beruhte, d. h. auf ausländischen Steueroasen. Offshore-Standorte werden nicht nur dazu genutzt, um dem Fiskus zu entfliehen, sondern auch, um Geld aus Korruption und anderen illegalen Geschäften zu "recyclen" und im besten Falle als verkappte ausländische Investitionen in die inländische Wirtschaft zurückzubringen. Laut der Organisation "Global Financial Integrity" hat Russland seit 2008 einen illegalen Abfluss von Kapital von über 100 Milliarden US-Dollar jährlich verzeichnet (mit einem Maximum von 187 Mrd. im Jahr 2011) und damit im globalen Ranking nach China den zweiten Platz eingenommen.

Nach der Krise 2008/2009 änderte sich zum Teil die wirtschaftspolitische Orientierung der russischen Regierung. Die Ölfonds wurden zwar angezapft, sowohl um die ausfallenden Haushaltsausgaben zu ersetzen, als auch zur Stützung des Finanzmarktes und der Banken, aber es erfolgten nur wenig staatliche Investitionen. Erst die aktuelle Krise hat die russische Regierung dazu bewegt, ein umfassendes, aus dem FNW finanziertes Investitionsprogramm einzuleiten.

Öffnung des "Fonds der Nationalen Wohlfahrt"

Im Zuge einer neuen "patriotischen" Politik entschied Putin im November 2013 bezeichnenderweise, einen der Nachfolger des Stabilisierungsfonds – den FNW – komplett für öffentliche Investitionen freizugeben. In den Jahren 2004–2007 hatten Experten und Staatsvertreter noch heftige Diskussionen darüber geführt, ob eine solche Maßnahme vertretbar sei. Insbesondere liberale Ökonomen befürchteten, dass das eine Hyperinflation auslösen könnte, da solch eine Maßnahme der makroökonomischen Politik einer "Sterilisierung" der Geldmenge zuwiderlaufen würde. Die nationalistischen Akteure wiederum protestierten dagegen, dass die Ressourcen des Fonds in westliche Staatsanleihen investiert wurden, statt der nationalen Wirtschaft zugute zu kommen. Graduell überwog sowohl im Diskurs als auch in der realen Politik die investitionsfördernde Option. Die wurde von der durch die Sanktionen bedingten Krise 2014–2015 zusätzlich gestärkt. So wurde Anfang 2015 endgültig entschieden, die Gelder aus dem Fonds für konkrete Ziele freizugeben, etwa für Infrastrukturprojekte der Eisenbahn und der staatlichen (Straßenbau-)Holding "Awtodor", für die Kapitalausstattung der VTB, der "Gazprombank" und der "Vneshekonombank", für Investitionsprojekte von "Rosneft" und "Novatek" und des "Russischen Fonds für Direktinvestitionen" (siehe eine Auflistung der aktuellen Investitionsprojekte auf S. 13).

Dieser Politikwechsel hinsichtlich des Wohlfahrtsfonds hat eine symbolische Bedeutung: Das russische Finanzsystem entfernt sich dadurch noch weiter von internationalen Marktmechanismen und überlässt die Verteilung der finanziellen Ressourcen zunehmend der politischen Führung. So hat Putin im März 2015 entschieden, dass künftig nur noch er selbst Gelder aus dem Fonds verteilen darf; davor hatte auch die Regierung dieses Privileg genossen. Obwohl der ökonomische Sinn vieler Investitionsprojekte auch in Russland angezweifelt wird, insbesondere der von RShD durchgesetzte Bau der Verbindung Moskau–Kasan, vermitteln solche Projekte den Anschein einer aktiven Investitionspolitik. Diese lässt sich eher als "patriotisch" darstellen als die mit dem Stabilisierungsfonds assoziierte "Sterilisationspolitik".

"Deofschorisazija"

Die Idee, russisches Kapital aus den Offshore-Standorten ins Inland zurück zu bringen, war bereits einer der Gründungsmythen von Putins Präsidentschaft. Die Jukos-Affäre 2003 und die Abschaffung der inländischen "Offshore"-Standorte (Regionen, die den russischen Firmen substantielle Steuervergünstigungen boten) im Jahr 2004 waren Ergebnisse einer rhetorischen Anti-Offshore-Kampagne während Putins erster Amtszeit. Darüber hinaus bereitete das russische Finanzministerium bereits 2007 Veränderungen in der Steuergesetzgebung vor, denen zufolge die von russischen Staatsangehörigen kontrollierten ausländischen Firmen, unter anderem solche mit Sitz in Steueroasen, in Russland veranlagt werden sollten. Dennoch ist die Ende 2011 von Putin auf einer Versammlung des Unternehmerverbandes "Delowaja Rossija" angekündigte "deofschorisazija" ein besonderes Phänomen, vor allem, weil es durch weitere wirtschaftspolitische Entwicklungen befördert wird und mit der seit 2012 zunehmenden anti-westlichen Wende konsistent ist.

Ende 2011 hatte "deofschorisazija" noch bedeutet, dass eine Verbesserung des Unternehmensklimas angestrebt wurde, um Kapital aus den Offshore-Standorten nach Russland zurück zu holen. 2012 aber verschob sich der Fokus bereits auf die Steuerpolitik. Als Putin Ende 2013 in einer Botschaft an die Föderale Versammlung seine "deofschorisazija"-Idee präzisierte, verschärfte das Finanzministerium dementsprechend die Steuergesetzgebung. Putin forderte, dass russische Firmen, die in ausländischen Steueroasen registriert sind, weder Zugang zu Krediten der Vneshekonombank, noch zu staatlichen Kreditgarantien genießen dürften. Des Weiteren sollten solche Firmen zukünftig keine Verträge mehr mit dem russischen Staat oder mit staatlichen Korporationen abschließen dürfen. Bisher hatten die im Ausland registrierten Firmen alle diese Privilegien erhalten, zumal die Nutzung von Offshore-Standorten durch russische staatliche Unternehmen gängige Praxis war. Russische Experten bezweifeln deshalb, ob eine "deofschorisazija" reale Erfolge bringen wird. Obwohl das Gesetz im Eiltempo verabschiedet wurde (es gilt ab 2015), nehmen die meisten wirtschaftlichen Akteure eine abwartende Haltung ein.

Trotz vieler Unklarheiten hinsichtlich der Folgen des Gesetzes für die Eigentümer von Offshore-Firmen, hat es bereits symbolische Wirkung entfaltet. Eine Reihe von Oligarchen, unter anderem Potanin und Deripaska, erklärten sich bereit, die Initiative der Regierung unterstützen zu wollen, indem sie entweder bekanntgaben, dass ihre Unternehmen keine Offshore-Strukturen nutzen oder dieser Praxis umgehend ein Ende setzen zu wollen. Angesichts der durch die Sanktionen bedingten eingeschränkten Finanzierungsmöglichkeiten im Ausland sind russische Oligarchen nun besonders daran interessiert, Zugang zu neuen entwicklungspolitischen Instrumenten des Staates zu erhalten. Wahrscheinlich zielt das "Ent-Offshorisierungsgesetz" vor allem darauf ab, die Oligarchen im "patriotischen" Sinne zu disziplinieren.

Fazit: Kann die "patriotische" Wende in der russischen Finanzpolitik gelingen?

Es ist nicht zu erwarten, dass neue wirtschaftspolitische Maßnahmen der russischen Regierung, wie die Bereitstellung des Fonds der Nationalen Wohlfahrt für Investitionen und die "deofschorisazija" das Wirtschaftswachstum ankurbeln. Ihre Bedeutung ist eine andere. Die russische Führung versucht auf diese Weise, ein neues wirtschaftspolitisches Modell zu konstruieren, in dem zum einen die nationalen wirtschaftlichen Akteure weniger von ausländischen Ressourcen abhängig sein würden und zum anderen ein Anreiz geschaffen wird, diese Gewinne nicht mehr im Ausland zu horten, sondern direkt in die russische Wirtschaft zu investieren.

Während der Putin-Ära hat die jährliche Investitionsquote (Bruttoanlageinvestitionen in Relation zum Bruttoinlandsprodukt) nie 25 % überstiegen. Materielle Aktiva sind in der russischen Wirtschaft im Durchschnitt erheblich veraltet. Ein realer Bedarf an Investitionen ist somit sehr wohl gegeben, aber es sind Zweifel angebracht, ob durch einige selektiv angelegte Investitionsprojekte die Probleme gelöst werden. Vielmehr müsste der Zugang zu Krediten für alle wettbewerbsfähigen Firmen verbessert werden. Die russische Regierung unternimmt zwar solche Schritte mithilfe der Vneshekonombank, aber bislang zeigen auch diese Maßnahmen wenig Erfolg.

Nichtsdestotrotz dürften Initiativen wie die Öffnung des Fonds der Nationalen Wohlfahrt und die "deofschorisazija" in der Bevölkerung und unter nationalistischen Akteuren Anklang finden, nicht zuletzt, weil sie den Anschein erwecken, die Regierung sei an der Herausbildung einer national orientierten Unternehmerschicht interessiert, die ihre Gewinne in die nationale Wirtschaft investiert, statt sie im Ausland vor dem Fiskus zu verstecken. Ein solcher Eindruck erscheint zunächst höchst idealisiert, kann aber mithilfe von Propagandamitteln durchaus glaubhaft gemacht werden. Es ist allerdings zweifelhaft, ob ein solcher Propaganda-Effekt von Dauer sein wird.

Lesetipps

Fussnoten

Ewa Dąbrowska ist Doktorandin an der Universität Amsterdam in der Projektgruppe "Politische Ökonomie und transnationale Governance". In Ihrer Promotion untersucht sie den Wandel des kognitiven Modells der russischen Wirtschaftspolitik in der Putin-Ära im Verhältnis zur offiziellen Ideologie.