Zusammenfassung
Der Ausgang der Dumawahlen Anfang Dezember steht weitgehend fest. Die notwendigen Manipulationen zugunsten der »Partei der Macht« haben bereits stattgefunden. Trotzdem werden mehr als 50 Prozent der Wahlberechtigten abstimmen gehen. Doch das ist keine Wahl, sondern vielmehr eine Bestätigung des alten Gesellschaftsvertrags zwischen der Mehrheit der Menschen und der Macht: Wir machen keine Politik, und ihr versorgt uns und mischt euch nicht in unser Privatleben ein. Nur eine Minderheit wird versuchen, durch Boykott oder Stimmen für Oppositionsparteien ihren Protest zu Protokoll zu geben.
Weder »frei« noch »fair«
Die Dumawahlen im Dezember 2007 hat die OSZE als »weder fair noch frei« bewertet. Auf eine vernünftige, ausreichend lange, ausreichend große und ausreichend mandatierte Wahlbeobachtungskommission hatte sie sich zuvor mit der russischen Regierung nicht einigen können. Seither sind die Dinge nicht besser geworden. Auch bei diesen Wahlen wird es wohl, wenn überhaupt, nur eine kleine und zudem kurzfristige OSZE-Wahlbeobachtungsmission geben. Ein paar kosmetischen, man traut sich das Wort kaum zu schreiben, »Verbesserungen« in der russischen Wahl- und Parteiengesetzgebung seit 2007 steht gegenüber, dass die Parteien, ihre Registrierung, die Zulassung zur Wahl, das Fernsehen als wichtigstes Massenmedium, die Wahlen selbst und die Auszählung der Stimmen weiterhin fast vollständig durch die Exekutive kontrolliert werden. Dies alles, von Alexander Kynjew und Arkady Ljubarew von der unabhängigen russischen Wahlbeobachtungsorganisation GOLOS in ihren Artikeln ausführlich beschrieben, zeigt schon jetzt, dass auch die diesjährigen Dumawahlen weder fair noch frei sein werden.
Wenn die Wahlen aber so umfassend durch die Macht Habenden manipuliert und kontrolliert werden, der Ausgang grosso modo feststeht, warum dann noch der Aufwand? Warum werden sich daran, aller Voraussicht nach, zwischen der Hälfte und zwei Dritteln der Wahlberechtigten beteiligen und abstimmen gehen? Was drücken sie damit aus? Warum gehen die, grob gesagt, andere Hälfte oder das restliche Drittel nicht zur Wahl? Und zu guter Letzt: Was bedeutet der vorhersehbare Ausgang einer erneuten Mehrheit von »Einiges Russland«, der Partei von Wladimir Putin und Dmitrij Medwedew?
Die Antwort auf die erste Frage ist banal und fundamental zugleich. Das gegenwärtige politische System in Russland stützt seine autoritäre Herrschaft auf demokratische Legitimität und Legalität. Es sucht dafür die demonstrative und mehrheitliche Zustimmung der russischen Bevölkerung und die Anerkennung der internationalen Gemeinschaft. Zudem zeichnet sich die Putinsche Herrschaft durch das Bestreben aus, die Transaktionskosten zur Erhaltung dieser Herrschaft zu minimieren. Im großen Gegensatz zur Sowjetunion fehlt ihr eine genuine, sie legitimierende Ideologie, wenn man von der formalen Konstitution als demokratischer Rechtsstaat absieht. Um aber eine demokratische Legitimierung zumindest vorspiegeln zu können, setzt sie auf so wenig offene Gewalt wie nötig, so wenig offene Manipulation wie nötig, so wenig offene Fälschung wie nötig.
Damit kommen wir zu der Frage, warum so viele Menschen gute Miene dazu machen. Nach Meinungsumfragen ist eine große Mehrheit der Bevölkerung davon überzeugt, dass Wahlen auf allen Ebenen manipuliert und gefälscht werden. Ich möchte mich einer Antwort auf drei Ebenen nähern: mehrheitliches Demokratieverständnis, allgemeiner Zynismus, Verhältnis Staat - Bürger.
Demokratieverständnis und Zynismus
Zuerst zum vorherrschenden Demokratieverständnis. Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Menschen in Russland der Meinung ist, dass das Land heute demokratischer ist als in den 1990er Jahren. Nun war Jelzins Russland kein demokratisches Paradies, die Wahlen aber waren, schon weil es weit mehr Konkurrenz gab und es sehr viel einfacher war zu kandidieren, zweifellos freier (wenn auch, z.B die Präsidentenwahlen 1996, nicht unbedingt fairer). Das ist zumindest aus vorherrschender westlicher Sicht überraschend und bedarf der Erklärung. Wie Kirill Rogow herausgearbeitet hat, sind die Leute nicht einfach schlecht informiert oder durch Propaganda manipuliert. Ihr Urteil ist durchaus rational begründet. Sie haben, um es kurz (und natürlich auch ein wenig verkürzt) zu sagen, schlicht andere Prioritäten. Demokratie bedeutet für eine Mehrheit der Menschen in Russland vor allem soziale Sicherheit und Stabilität. Wer das als Politiker gewährleisten kann, gilt als legitim und demokratisch. Putin hat das, mit welchen Mitteln und welcher Fortune auch immer, geschafft, zumindest bis 2008.
In seiner Amtszeit ist zudem das Wertesystem der russischen Gesellschaft weiter erodiert, wie Lew Gudkow, Direktor des Lewada-Zentrums, ausführt. Das ist beileibe kein neuer Prozess, aber einer, der in den vergangenen zehn Jahren an Geschwindigkeit zugenommen hat. Das wichtigste Symptom dieses Werteverfalls ist ein sich rapide ausbreitender und inzwischen fast allgegenwärtiger Zynismus. Dieser Zynismus eint im Übrigen Volk und Führung. Der homo sovieticus ist, wenn man so will, unter Putin noch sowjetischer geworden. Insbesondere Wladimir Putin versteht es, ihn kunstvoll zu zelebrieren. Hauptmerkmal ist die weitgehende Leugnung allein schon der Möglichkeit von moral- oder wertegeleitetem öffentlichen und politischen Handeln. Demokratie und Wahlen werden entsprechend vorwiegend als Herrschaftsinstrumente wahrgenommen. Die Vorstellung, dass es faire Wahlen grundsätzlich nicht gibt, auch nicht außerhalb Russlands, ist weit verbreitet. Die politische Führung nutzt dies geschickt zur Desavouierung internationaler Wahlbeobachtung und Kritik am Wahlprozess im Inland. Wahlbeobachter der OSZE (deren Mitglied Russland ja ist) werden als »deren« Wahlbeobachter denunziert, während die seit einigen Jahren durch Vertreter von GUS-Staaten organisierte Wahlbeobachtung als »unsere« gilt. Dabei ist es nicht wichtig, dass die meisten Menschen in Russland auch den GUS-Wahlbeobachtern nicht glauben. Vielmehr wird so auch die Glaubwürdigkeit der OSZE-Wahlbeobachtungsmissionen untergraben.
Macht und Mensch
Hinzu kommt das seit Jahrhunderten gewachsene und im Vergleich mit westlichen modernen Gesellschaften kaum veränderte Verhältnis zwischen Macht und Mensch (diese Alliteration scheint mir hier angemessener als »Staat und Bürger«). Die Neigung, den Staat als Subjekt eigenen Rechts, ja in der Regel sogar als jenseits des Rechts stehend wahrzunehmen, ist sehr tief im russischen Alltagsbewusstsein verankert. So wird, wenn vom Staat, von staatlichem Handeln die Rede ist, in der Regel das Wort »Wlast« (ins Deutsche mit »Macht« nur unzureichend übersetzbar - »Obrigkeit« kommt der russischen Bedeutung wohl am nächsten) in der Weise benutzt, dass es ein handelndes Subjekt beschreibt, dem die Menschen oder das Volk gegenüberstehen. Diese Machtzentriertheit drückt sich sogar in der aktuellen, ansonsten durchaus liberalen russischen Verfassung aus, die den Präsidenten (wie übrigens früher den Zaren nach der Verfassung von 1906 und die kommunistische Partei nach der sowjetischen Verfassung) ausdrücklich aus der Gewaltenteilung heraushebt und ihn als »Garanten der Verfassung« über Legislative, Exekutive und Judikative stellt.
Meinungsumfragen zeigen gleichzeitig, dass eine große Mehrheit der Menschen kein oder nur wenig Vertrauen in die politische Führung hat. Das gilt insbesondere für die Parlamente, aber auch, trotz immer noch vergleichsweise hoher, wenn auch seit einiger Zeit kontinuierlich abnehmender Ratings, für Präsident und Premierminister. Und selbst dieses Vertrauen, vor allem in Putin und nur abgeleitet daraus in Medwedew (umso mehr nach der Rotationsankündigung von Ende September), ist, wie Untersuchungen von Boris Dubin vom Moskauer Lewada-Zentrum zeigen, kein wirkliches Vertrauen, keine Zustimmung in eine bestimmte Politik und kein Vertrauen darauf, dass eine bestimmte Politik auch umgesetzt wird. Es ist vielmehr eher ein »Bevollmächtigen« derer, die ohnehin herrschen, also ein Gutheißen der Art zu herrschen, die man von seinen Herrschenden ohnehin gewohnt ist. Dieses Verhalten ist insofern durchaus rational, als es von der gegebenen Vergeblichkeit ausgeht, sich hier einzumischen: Warum also Kraft in etwas stecken, das von vornherein zum Scheitern verurteilt ist?
So gesehen sind Wahlen eine Form der Bestätigung des ungeschriebenen »Gesellschaftsvertrags«, durch den die Putinsche Herrschaft häufig beschrieben wird (und früher schon die späte, breschnjewsche sowjetische Herrschaft beschrieben wurde): Wir, das Volk, mischen uns nicht in die Politik ein. Ihr, die Herrschenden, die »Macht«, sorgt im Gegenzug dafür, dass es uns materiell nicht am Überlebenswichtigen fehlt und mischt euch nicht (sowjetisch: nicht allzu sehr) in unser Privatleben ein. Man könnte Wahlen in Russland heute also auch als Loyalitätsbekenntnis der Wähler und Wählerinnen betrachten, mit dem diese dann auch die Verantwortung für die Folgen der Politik abgeben. Die Macht-Habenden bekräftigen ihrerseits durch das Abhalten der Wahlen die fortgesetzte Gültigkeit des Vertrags. Der Staat unterstützt diese Haltung seinerseits aktiv über soziale und politische Kontrollmechanismen und die weitgehende Kontrolle der Medien.
Und was tut »der Rest«?
Bisher war vom Verhältnis der großen Mehrheit der wahlberechtigten russischen Bevölkerung zu Wahlen die Rede. Das Lewada-Zentrum schätzt sie aufgrund langjähriger Befragungen auf stabile 70 bis 80 Prozent. Tendenziell leben diese Menschen eher auf dem Dorf oder in Kleinstädten, sie haben eher eine schlechte formale Bildung und sind eher wenig mobil. Auf diese Mehrheit stützt sich die Putinsche Herrschaft. Doch was machen die restlichen 20 bis 30 Prozent? Sie suchen vor allem nach Möglichkeiten, die Wahlen zu politischem Protest zu nutzen. Die Strategien dabei sind vielfältig, sie reichen von Boykottaufrufen (z. B. Garri Kasparow) über die Idee, möglichst viele ungültige Stimmzettel abzugeben (Vertreter der nicht zugelassenen »Partei der Volksfreiheit«), bis zur Aufforderung, einer beliebigen Partei außer »Einiges Russland« die Stimme zu geben (so der bekannteste russische Blogger Alexej Nawalnyj).
Alldem liegen zwei Überlegungen zugrunde. Zum einen soll auch öffentlich gezeigt werden, wie groß die Zahl der »nicht Einverstandenen« ist, um so die Legitimität der alleinigen Herrschaft Putins zumindest ein wenig anzukratzen. Für wen das das Hauptziel ist, der setzt mit Boykott auf eine möglichst geringe Wahlbeteiligung oder mit der Stimme für eine andere Partei als »Einiges Russland« auf möglichst viele Abgeordnete in der Staatsduma, die einer zumindest nominell oppositionellen Partei angehören. Andere haben das Ziel, die erwarteten Fälschungen noch am Wahltag möglichst schwierig zu machen, wenn man sie schon nicht ganz verhindern kann. Dazu soll der Gang in die Wahllokale und die Abgabe eines ungültigen Stimmzettels dienen. Aber auch so soll der Protest möglichst in Zahlen dokumentiert werden. Ob das alles etwas nützt, weiß aber niemand so recht, denn die entscheidenden Manipulationen haben mit der Parteienzulassung und der Medienkampagne bis zum Wahltag bereits stattgefunden. Deshalb geht es bei alledem wohl vor allem darum, sich gegen die Demütigung zur Wehr zu setzen, das Wahlergebnis einfach fertig vorgesetzt zu bekommen. Im Unterschied zu den Wahlen vor vier Jahren hat die Finanz- und Wirtschaftskrise zu wachsender Unzufriedenheit im Land geführt. Auch wenn sie bei diesen Wahlen noch keine politischen Folgen zeitigen dürfte, könnte sich die zunehmende Arroganz der Macht-Habenden, die sich in der selbstherrlichen Ankündigung des Rollentausches von Putin und Medwedew besonders deutlich zeigt, als Hybris erweisen. Die Wut ist gewachsen, auch wenn sie bisher kalt bleibt.
Über den Autor:
Jens Siegert ist Leiter des Länderbüros Russland der Heinrich Böll Stiftung in Moskau. Zuvor arbeitete er zehn Jahre als Korrespondent deutschsprachiger Printmedien und Radiosender in Moskau.
Lesetipp:
Lew Gudkow: Russlands Systemkrise. Negative Mobilisierung und kollektiver Zynismus, in: Osteuropa 1/2007, S. 3ff. http://www.eurozine.com/articles/2007-01-23-gudkov-de.html
Dieser Beitrag entstand im Rahmen des gemeinsamen Projektes von GOLOS, Europäischem Austausch, Heinrich Böll Stiftung und der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde.