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Analyse: Die Ereignisse in Moskau vom 11. Dezember 2010: Der ethnische Ausdruck der politischen Krise | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Die Ereignisse in Moskau vom 11. Dezember 2010: Der ethnische Ausdruck der politischen Krise

/ 11 Minuten zu lesen

Ereignisse in Moskau, vor allem die russisch-nationalistische Ausschreitungen im Dezember 2010, machen erneut deutlich, dass ethnische Konflikte und Xenophobie im heutigen Russland nach wie vor ein kritisches Thema sind. Die wachsende soziale Unsicherheit und Unzufriedenheit im Land werden kanalisiert und findet Ausdruck in ethnischem Hass, Kaukasier- und Islamfeindlichkeit.

Zusammenfassung

Die Zusammenstöße zwischen Ultranationalisten, Fußballfans, Zuwanderern und der Polizei, die am 11. Dezember 2010 auf dem Moskauer Manegen-Platz nach der Tötung eines Fußballfans durch einen Zuwanderer aus dem Nordkaukasus ausbrachen, haben erneut gezeigt, dass ethnische Konflikte und Xenophobie im heutigen Russland weiter ein kritisches Thema sind. Der vorliegende Beitrag analysiert, wie wachsende soziale Unsicherheit und Unzufriedenheit im heutigen Russland kanalisiert wird und in ethnischem Hass, Kaukasier- und Islamfeindlichkeit Ausdruck findet.

Eine dünne Linie

Eine bekannte russische Anekdote handelt davon, wie die Verschiebung des Kommas über das Leben eines Menschen bestimmt und darüber entscheidet, ob dieser verurteilt oder freigesprochen wird. Auch die Trennlinie zwischen der Annahme, dass soziale Probleme ein Thema für die ganze Bevölkerung sind, und der Vorstellung, dass bestimmte ethnische Gruppen die Schuld an gesellschaftlichen Übeln tragen, ist nur dünn. Kern der Ereignisse am 11. Dezember auf dem Manegen-Platz war der Wunsch, die sozialen Übel zu beseitigen - vor allem der Ruf nach gerechten Gerichten ohne Korruption -, von denen sich die übergroße Mehrheit der Russen betroffen fühlt, und deren Bekämpfung die Gesellschaft integrieren könnte. Doch die Forderungen der Jugend, die sich auf dem Platz versammelte, orientierten sich an Ethnizitäten und gaben direkt ethnischen Gruppen die Schuld an gesellschaftlichen Problemen. In einem multinationalen Staat verschärfen solche Anschuldigungen jedoch die Kluft innerhalb der Gesellschaft, provozieren gefährliche Konflikte und verringern deutlich die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Modernisierung.

Worauf zielte der soziale Protest?

Weder die Waldbrände bei Moskau noch die Schließung der Flughäfen im Winter, die Tausende Reisende stranden ließ, veranlassten die Bürger, auf die Straße zu gehen. Doch unter den Losungen »Russen, vorwärts!«, »Russland für Russen - Moskau für Moskauer!«, »Moskau ist nicht der Kaukasus!« versammelten sich am 11. Dezember 2010 zwischen 5.000 (Angaben des Moskauer Innenministeriums) und 12.000 Personen (Expertenschätzungen) auf dem Moskauer Manegen-Platz. Die Demonstranten wurden nicht in Bussen angekarrt, nicht bezahlt und auch nicht durch das Versprechen eines Pop-Konzertes auf den Platz gelockt. Dies war eine selbstorganisierte Aktion, die auf 15 andere Städte in Russland übergriff. Der Grad der öffentlichen Zustimmung und Sympathie für diese politische Aktion liegt nach Angaben von Sozialforschungszentren bei 25-27%. Ungefähr der gleiche Anteil gibt an, sich über die Zustimmung zu solchen Aktionen nicht sicher zu sein. Ist dies eine signifikante Größe, oder nicht?

Im Oktober 1922 marschierten 8.000 Schwarzhemden, die nur auf eine geringe Unterstützung in der italienischen Bevölkerung bauen konnten, nach Rom und verhalfen Mussolini zur Macht. Die Ideen, die die Schwarzhemden wie auch die Teilnehmer des »Russischen Marsches« vom Manegen-Platz verbinden, sind die Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und der »Wiedererweckung der Ehre einer erniedrigten Nation«. So »erhob« sich mit Italien ein Land »von den Knien«, das in den 1920er Jahren dem heutigen Russland insofern ähnelte, als es dort ebenfalls keine Gesellschaft gab, da die Bevölkerung in regionale Gruppen aufgespalten war. Der Norden hasste den Süden und dieser wiederum hasste den Norden.

Die Organisation des "Marsches"

In den 1920er Jahren gab es jedoch noch kein Internet und keine sozialen Netzwerke, mit deren Hilfe fast auf einen Schlag zehntausende Menschen mobilisiert werden konnten, wie am 11. Dezember in Moskau zu sehen war. Das Mobilisierungspotenzial wird durch Auszüge aus sozialen Netzwerken illustriert: »Die Gruppe selbst entstand am 12. Dezember 2010. Bis dahin hatten wir nur ein Treffen, jetzt aber sind es mehr als 5.000 Mitglieder«; ein weiterer Beitrag erklärt, »die Idee, auf den Manegen-Platz zu ziehen, entstand unmittelbar nach der erfolgreichen Blockade der Leningrader Chaussee, wir stellten diese Information sofort ins Netz.« Zur Dynamik: »Wir sind seit dem 6. Dezember in Kontakt [dem Todestag des Fußballfans Jegor Swiridowa, der die Unruhen auslöste, a.d.Ü.], das Treffen selbst wurde, wie bekannt, für den 11. Dezember angekündigt... für das Treffen registrierten sich im Voraus über 9.000 Personen«; zur Organisation: »Die Gruppe, die die Aktion in Ostankino vorbereitet hatte, setzte sich mit denen in Verbindung, die die Manegen-Aktion angekündigt hatten. Ihnen schien der Organisationskreis zu klein und so baten sie uns bei der Mobilisierung um Hilfe.«

Und so wurde die Aktion organisiert. Dutzende freiwillige Koordinatoren zwischen 14 und 20 Jahren schafften es, mehrere Tausend Menschen zu mobilisieren. Selbstverständlich gab es auch erfahrenere Organisatoren, die die Gruppe nutzen. Sie verwendeten andere, verdeckte Koordinationsformen, darunter konspirative Wohnungen. Alle Beteiligten waren durch eine gemeinsame Idee vereint, ähnlich der, die aus einem anonymen Brief an General W. Schamanow (Kommandeur der russischen Luftlandetruppen) hervorgeht, der im Internet zirkuliert.

In diesem Brief wird der Einsatz von »Luftlandetruppen des russischen Volkes« nicht nur im Kampf gegen die »kaukasische Gesetzlosigkeit«, sondern auch gegen die »Untätigkeit der Behörden« gefordert. Unzufrieden mit beiden Umständen sucht sich die nationalistische Jugend einen Anführer in den Reihen der Militärs. In diesem Zusammenhang scheint ein neuer »Fall W. Kwatschkow« nicht nur bloße Phantasie. Kwatschkow wird beschuldigt, in einigen russischen Städten Volkswehr-Einheiten organisiert zu haben, die auf seinen Befehl militärische Einrichtungen übernehmen und nach Moskau marschieren sollten um dort die »Patriotische Jugend« zu unterstützen. Ein solches Szenario ist nicht unwahrscheinlich und wäre in ihrer Tragweite durch die Metapher »Explosion« am besten dargestellt. Allerdings sind bis 2012 andere Tendenzen und Gefährdungen noch wahrscheinlicher.

Der Wandel von Fußballfans zu Stürmern

In den 1990er Jahren gab es in Russland eine Vielzahl von Problemen, die sozialen Prozesse entwickelten sich jedoch in eine ähnliche Richtung wie in anderen Länder des globalen Nordens. So zeigte die russische Jugend eine große Bereitschaft zu Modernisierung und im Vergleich zu älteren Menschen ein hohes Niveau an ethnischer Toleranz. Doch seit Beginn der 2000er Jahre veränderte sich diese Situation - ausgerechnet die Jugend wurde zum zentralen Träger von Traditionalismus und Xenophobie.

In den 1990er Jahren waren Auseinandersetzungen zwischen Fußballfans und Nationalisten/Neonazis charakteristisch. In Fankreisen wurde die Legende verbreitet, wonach ein Fan von Spartak-Moskau von Nazi-Skinheads mit seinem eigenen Spartak-Schal aufgehängt wurde. Nach 2000 wandelte sich der Hass in Liebe. Seitdem wurden Dutzende von Fällen gemeinsamer bewaffneter Gewalttaten durch Nationalisten und Fußballfans in vielen Städten registriert, die eindeutige Merkmale von rassenistischem und ethnischem Hass tragen. Parallel dazu fand eine Ethnisierung der Protestbewegungen der erwachsenen Bevölkerung statt. Dies geschah zum Beispiel während der Massenproteste gegen die sogenannte »Monetarisierung der Vergünstigungen«, die in einigen Städten zu offen xenophoben Losungen führte, sowie nach den Ereignissen von Kondopoga im Jahr 2006 und einer Vielzahl weiterer lokaler Zusammenstöße in ganz Russland.

Die Konstruktion des ethnisch Russischen gegen ein ethnisch »Anderes« geschah in Reaktion auf die Konsolidierung der ethnischen Minderheiten. Beschleunigt wurde dieser Prozess durch die Kriege in Tschetschenien und noch mehr durch Putins Politik der öffentlichen Verdächtigung: »überall sind Feinde, die große Stücke von unserem Territorium an sich reißen wollen«; »äußere Feinde ermutigen innere Feinde« und ähnliches mehr. All dies schuf die Psychologie einer »erniedrigten Nation«. Weiter vorangetrieben wurde die Ethnisierung durch Politiker aller Couleur. Das wachsende Mobilisierungspotenzial erkannten zu Beginn eine Vielzahl von Vertretern neuer nationalistischer Parteien, Gruppen und Bewegungen. Doch auch ältere Parteien suchten zunehmend dieses Potenzial zu nutzen, wie zum Beispiel die Liberal-Demokratische Partei Russland (LDPR), die ihren Parteislogan »Wir kühlen unsere Stiefel im Indischen Ozean« in einen erfolgversprechenderen änderte: Wir treten für die Armen, für die Russen ein!« Auch die Kommunistische Partei Russlands (KPRF) änderte ihre ursprüngliche Position des »Internationalismus« in Richtung einer Partei der ethnischen Mehrheit. Zu den Präsidentschaftswahlen 2008 wurde der Vorsitzende der KPRF folgendermaßen dargestellt: »Sjuganow wird von der Weltregierung und der Putin-Mannschaft nicht nur deswegen gemieden, weil er Kommunist ist, sondern weil er der einzige Präsidentschaftskandidat ist, der nach Blut und Geist russisch ist.«

Selbst einige Politiker, die sich als Liberale bezeichnen, entwickelten die Idee eines »liberalen Nationalismus«. Das Einzige, was dabei vom Liberalismus übrig bleibt, ist sein Name - was jedoch ausreicht um einen Erfolg unter russischen Nationalisten auszuschließen. In deren Augen sind »Liberale« gleichbedeutend mit »Feinden«, »Ausländern« und »Schwulen«. Zudem widersprechen die Ideologien verschiedenster Strömungen des russischen Nationalismus dem Liberalismus grundlegend, da sie sich gegen die Freiheit und noch mehr gegen Gleichberechtigung aussprechen. Ihre Forderung ist es, die dominierende Rolle und den besonderen Status des russischen Volkes als alleinig staatsbildendes Volk rechtlich zu verankern.

Der Drive der Macht - mit geschlossenen Augen handeln

Die in den russischen Massenmedien gängige Meinung, dass die Ereignisse auf dem Manegen-Platz von den Behörden provoziert wurden, ist m.E. ganz falsch. Die Staatsmacht ist von diesen Ereignissen, die sich vollkommen jenseits ihrer Pläne entwickelten, ernsthaft erschreckt. Sie kann Wachstum und Verhalten des russischen Nationalismus immer weniger kontrollieren und fürchtet diesen immer mehr. Die Worte »russischer Nationalismus« nimmt sie nicht in den Mund.

Die Versuche der Staatsmacht, einen lenkbaren oder manipulierbaren Typ Nationalismus zu schaffen, sind gescheitert. So wurde das eigene Projekt, die Partei »Rodina« (Heimat), nach deren Überraschungserfolg 2003 schnell wieder ruiniert. Die Führung führte den 4. November als Feiertag ein (Tag der Nationalen Einheit) und fürchtet ihn jetzt. OMON-Einheiten der Spezialpolizei, werden nun alljährlich aufgefahren, um den »Russischen Marsch« mit Tausenden von Teilnehmern zu kontrollieren. Eben am 4. November 2010 hatten jene geübt, die im Dezember auf dem Manegen-Platz waren.

Heute lässt sich der Nationalismus weder zähmen noch als Verbündeter der Staatsmacht gewinnen, da er primär auf Proteststimmungen basiert. Auch benötigt er nicht mehr den Rückhalt der Behörden, deren Versuche, sich als »ihre Freunde« auszugeben, verfehlt sind.

Die politische Führung kann den Nationalismus nicht mehr kontrollieren, sie kann ihn jedoch vorantreiben. Nach den ethnischen Ausschreitungen in Kondopoga (2006) sprachen die Behörden von der Notwendigkeit, »den Vorrang der einheimischen Bevölkerung zu garantieren«; nach dem Krieg in Georgien (2008) wurde die Einführung von Quoten für in Russland lebende Ausländer beantragt. Nach den Ereignissen auf dem Manegen-Platz diskutierte der Staatsrat am 27.12.2010 nicht nur über Einreisebeschränkungen für ausländische Staatsbürger, sondern auch über eine Begrenzung der Binnenmigration - des Umzugs russischer Staatsbürger, die ihren Wohnsitz von einer Region in eine andere verlegen. Diese Vorschläge scheinen absurd. Selbst Anhänger einer Einreisebeschränkungen ausländischer Staatsbürger gehen davon aus, den dadurch entstehenden Verlust durch Binnenmigration auszugleichen. Ihrer Ansicht nach sollten »in Moskau tadschikische und kirgisische Straßenfeger durch solche aus Rjasan ersetzt werden«. Aber was heißt Straßenfeger, gut die Hälfte des Kremls und des Weißen Hauses sind Binnenmigranten - die beiden höchsten Staatsämter und auch der neue Moskauer Bürgermeister kamen aus anderen Föderationssubjekten nach Moskau. Die Demonstranten auf dem Manegen-Platz forderten jedoch eine Beschränkung der Binnenmigration allein für Bewohner bestimmter Regionen im Süden Russlands und bestimmter Nationalitäten. Somit ist für alle klar, gegen wen Verschärfungen der Registrationsbestimmungen gerichtet sind.

Die vermehrten Zugeständnisse an die Nationalisten führen zu immer weitergehenden Forderungen. Aktuell fordern Nationalisten nicht nur Einreisebeschränkungen für »fremde« Nationalitäten nach Moskau, sondern auch die Deportation derer, die schon früher gekommen sind. Und wie sollen die Bürger dieses großen Landes reagieren, denen die Einschränkung ihrer Rechte droht und gleichzeitig (auf eben jener Staatsratssitzung) zugerufen wird, einen gesamtrussischen Patriotismus zu entfalten?

Die Gefahr besteht nicht nur darin, dass die Zahl der lokalen, ethnischen Auseinandersetzungen zunimmt, die sich schon heute wie ein Masern-Ausschlag über das ganze Land verbreiten. Nach vorläufigen Angaben des SOVA-Zentrums starben im Jahr 2010 bei ethnischen Auseinandersetzungen in 44 Regionen 37 Personen, mindestens 368 weitere wurden verletzt.

Religiöse Mobilisierung

Wenn sich soziale Unzufriedenheit in Regionen mit vorwiegend ethnisch russischer Bevölkerung durch steigende ethnische Spannungen ausdrückt, so wird in den Republiken, die historisch mit dem Islam verbunden sind, die ethnische Mobilisierung durch eine religiöse Mobilisierung ersetzt.

In Russland hat sich eine Sonderzone herausgebildet - die Republik Tschetschenien -, in der sich ein theokratisches Regime etabliert hat, das allein mit Ländern wie Iran, Sudan oder Afghanistan unter den Taliban verglichen werden kann. In der Republik sind alle Frauen, nicht nur in staatlichen Einrichtungen, sondern auch Schüler- und Studentinnen verpflichtet, Kopftücher, lange Röcke und andere Attribute einer religiösen Kleidung zu tragen. Wegen Verletzung dieser Vorschriften mussten schon Dutzende von Frauen leiden. So wurde am 13. September 2010 eine Frau in Grosny, die kein Kopftuch trug, mit Paintball-Gewehren beschossen. Begleitet wurde dies durch die Aufforderung: »Bindet ein Kopftuch um! Zieht Euch an, wie es sich gehört, Schlampen!« Eine Videoaufzeichnung eines solchen Überfalls wurde auf YouTube gestellt. Ramsan Kadyrow, Republikoberhaupt in Tschetschenien, kommentierte diese Ereignisse im Fernsehsender »Grosny« folgendermaßen: »Wenn ich sie (die Schützen - E.P.) finde, werde ich ihnen meinen Dank ausdrücken.« Als im November 2008 in Grosny sieben ermordete Frauen entdeckt wurden, erklärte Kadyrow beim Verlassen einer Moschee, warum die jungen Frauen den Tod verdienten. Ihm zufolge waren sie unmoralische Frauen und ihre männlichen Verwandten hätten sie berechtigterweise ermordet, um die Familienehre zu schützen. Im September 2010 kommentierte der tschetschenische Präsident die Mitteilung, eine Tschetschenin habe sich bei der Polizei über die brutale Behandlung durch ihren Vater beschwert, mit den Worten: »Männer sollten die Möglichkeit haben, ihre Tochter zu töten.« Die Kadyrow-Stiftung finanziert massenweise »Heilverfahren« - Teufelsaustreibungen, deren äußeres Merkmal darin besteht, dass die, von der »Krankheit« betroffenen Personen ausgepeitscht werden. Daud Selmursajew, Leiter der Einrichtung, in der dieses Verfahren angewendet wird (Zentrum für Islamische Medizin, vor weniger als zwei Jahren in Grosny eröffnet), teilt in einem Gespräch mit Kadyrow mit, dass mit diesem Verfahren über 130.000 Patienten vom Teufel befreit worden seien (was einem Drittel der erwachsenen tschetschenischen Bevölkerung entspricht). Möglich ist, dass dieses Verfahren bei den Patienten das Niveau des gesamtrussischen Patriotismus erhöht, weshalb Kandidaten der »Partei der Macht« (Einiges Russland) in der Republik mehr als 100% der Stimmen erzielen. Über das restliche Territorium gibt es nur allgemeine Informationen über die Bräuche, die in der tschetschenischen Republik vorherrschen. Obwohl die Informationslage sehr dünn ist, fördert das, was an die Außenwelt dringt, nicht unbedingt den Stolz auf ein Land, das auf seinem Staatsgebiet solch einen Biotop mit, vorsichtig ausgedrückt, »weniger weltlichen Verhaltensnormen« geschaffen hat.

Die Sozialtherapie Kadyrows führte zu einer Auswanderung der tschetschenischen Bevölkerung in andere Regionen Russlands und hat schon allein dadurch einen Einfluss auf das ganze Land. Die Größe der Auswanderung aus Tschetschenien und anderen Republiken ist schwierig zu messen, da es sich um Binnenmigranten handelt, die ihre bisherige Registrierung beibehalten, jedoch mehrheitlich in zentralen Regionen Russlands leben, wo sie Objekte massenhafter xenophober Anfeindungen sind. Hervorzuheben ist, dass russische Staatsbürger, die aus dem Nordkaukasus stammen, ein viel größeres Ausmaß an ethnischem Hass auf sich ziehen, als Migranten aus der GUS. Das Verhältnis zwischen ethnischen Russen und Neuankömmlingen aus dem Nordkaukasus ist am konfliktreichsten, da diese meist demonstrativ ihr Recht bekräftigen, ihre spezifischen Verhaltensweisen in der neuen Umgebung beizubehalten.

In anderen Republiken mit muslimischen Bevölkerungsanteilen werden soziale Konflikte meist als Konflikte zwischen traditionellen und in Russland nicht traditionellen Formen des Islam ausgetragen, wie z. B. dem salafitischen Islam. Dieser Prozess, der seinen Anfang Ende der 1990er Jahre im Nordkaukausus nahm, tritt heute umso stärker im Zentrum Russlands zu Tage, besonders in den Republiken der Wolgaregion. Waliulla Jakunow, stellvertretender Mufti der Republik Tatarstan bemerkt hierzu, dass »die Mehrheit der Jugend Anhänger religiöser Kulturen ist, die aus dem Ausland nach Russland gelangten und als Wahhabismus bezeichnet werden können. Sich selbst bezeichnen sie jedoch als Salafiten.« Des weiteren merkt er an: »Die Evolution dieser Entwicklung zu kennen, so zum Beispiel in den Republiken des post-sowjetischen Raumes, in denen die Islamisierung höher ausfällt als in Tatarstan, ermöglicht uns zu sehen, was uns erwartet.«

Und was erwartet das ganze Land? Bisher nur eines - eine wachsende Radikalisierung gegeneinander kämpfender Gruppen in einer gespaltenen Gesellschaft.

Übersetzung: Christoph Laug

Über den Autor:

Professor Emil Pain ist Generaldirektor des Zentrums für Ethnisch-Politische und Regionale Studien und Professor an der Russischen Staatlichen Univeristät - Higher School of Economics in Moskau.

Fussnoten