Zusammenfassung
Am Vorabend der belarussischen Präsidentschaftswahlen am 19. Dezember 2010 haben sich die Beziehungen zwischen Minsk und Moskau spürbar verschlechtert. Die bekannten Energiekonflikte zwischen Russland und Belarus wurden durch einen sehr öffentlichen Informationskrieg ergänzt, der in den Medien beider Länder ausgetragen wird. Der langjährige Präsident von Belarus, Alexander Lukaschenko, kann sich nicht mehr auf die politische Rückendeckung durch Russland verlassen; der Kreml unterstützt allerdings - soweit dies zu überschauen ist - noch keinen Gegenkandidaten.
Rhetorik und Realität der Integration
Der Unionsvertrag, der Belarus und Russland vereinen sollte, feierte 2009 sein zehnjähriges Bestehen. Obwohl das vergangene Jahrzehnt eine ganze Reihe hochrangiger Treffen voller euphorischer Rhetorik sah, hat sich diese verquere Union als Totgeburt erwiesen. Das asymmetrische Machtverhältnis zwischen den beiden Staaten ist für Lukaschenko nicht akzeptabel, während die russischen Präsidenten beginnend mit Boris Jelzin keinerlei Intentionen erkennen ließen, Belarus als gleichberechtigten Partner zu behandeln. Pläne für eine Währungsunion wurden praktisch aufgegeben, die belarussische Währung ist seit 2008 - statt an den russischen Rubel - an den US-Dollar gebunden. Verhandlungen über einen Verfassungsakt, der die rechtliche Grundlage für einen wirklichen Unionsstaat legen würde, sind festgefahren. Heute ist die Integrationsrhetorik kaum mehr als ein PR-Projekt, das von beiden Seiten für innenpolitische Zwecke benutzt wird, doch wenig Chancen auf Verwirklichung hat.
Russland musste auch erkennen, dass es sich nicht länger auf die bedingungslose, loyale belarussische Unterstützung in regionalen Organisationen verlassen kann. Lukaschenko boykottierte im vergangenen Jahr ein Gipfeltreffen der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (CSTO), weigerte sich, den rotierenden Vorsitz der Organisation zu übernehmen und äußerte Bedenken, die Schnelle Eingreiftruppe der Organisation mitzutragen. Anfang dieses Jahres verzögerte Minsk die Ratifizierung der Zollunion zwischen Belarus, Kasachstan und Russland im Rahmen der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft (EurAsEC). Diese Uneinigkeiten waren keine Angriffe von Belarus gegen die regionalen Organisationen an sich, sondern Reaktionen auf bilaterale Konflikte mit Russland.
Anhaltende wirtschaftliche Auseinandersetzungen
Über viele Jahre hinweg war Moskau damit zufrieden, die belarussische Wirtschaft durch bevorzugten Zugang zum russischen Markt und billiger Energieversorgung zu unterstützen, um im Gegenzug ein anti-westliches Bollwerk und einen loyalen Verbündeten als Nachbarn zu haben. Das Interesse Russlands richtete sich mit der Zeit jedoch darauf, einen größeren wirtschaftlichen Einfluss auf Belarus zu erlangen. Das letzte Jahrzehnt erlebte eine Reihe von zahlungsbedingten Öl- und Gaskonflikten, die zum Jahreswechsel 2006/07 ihren Höhepunkt erreichten, als Gazprom für einige Tage alle Lieferungen nach Belarus aussetzte und sogar die Ölversorgung kurz unterbrochen war. Im Rahmen der Einigung, die den Streit beendete, wird der Gaspreis für Belarus bis 2011 allmählich auf europäisches Niveau angehoben, während Gazprom bis zu 50% der Anteile an den Transitpipelines von Beltransgaz erwirbt. Gleichzeitig wurde eine neue Vereinbarung über Ausfuhrzölle auf Öl erreicht. Indessen versucht Lukaschenko den Preisanstieg zu verzögern und die Öffnung belarussischer Staatsbetriebe für russische Unternehmen zu verhindern. Energiekonflikte drohten im Sommer 2007 und 2010 erneut außer Kontrolle zu geraten (nachdem Minsk die Unterschrift zur Zollunion hinausgezögert hatte). Belarus versucht so viel wie möglich aus dem begrenzten Einfluss herauszuholen, den es als Transitland für Öl- und Gaslieferungen zur EU sowie durch den Zugang zur russischen Exklave Kaliningrad besitzt. Durch den Bau der Northstream Gaspipeline durch die Ostsee, deren Vollendung für 2012 geplant ist, wird Russland sehr bald Belarus umgehen können.
Uneinigkeiten entstanden auch in anderen Sektoren, wie das Beispiel des sogenannten »Milchkrieges« von 2009 zeigte, als Russland die Einfuhr belarussischer Milchprodukte für einen Monat verbot, was wiederum zu Lukaschenkos Boykott des Gipfeltreffens der CSTO führte. Indem Lukaschenko Öl in Venezuela einkaufen ließ, Wirtschaftsbeziehungen mit China knüpfen wollte und versuchte, durch eingeschränkte wirtschaftliche Liberalisierung westliche Investitionen anzulocken, suchte er die Wirtschaftsbeziehungen seines Landes zu diversifizieren.
Der Rückgang russischer Subventionen führte noch nicht zum sozio-ökonomischen Zusammenbruch, wie von einigen Beobachtern vorhergesagt. Lukaschenko konnte die Kritik am Zustand der belarussischen Wirtschaft und des Preisanstiegs in gewisser Weise ablenken, indem er auf die globale Wirtschaftskrise und die Zustände in anderen Teilen der Region verwies. Der wirtschaftliche Druck durch Russland führte dazu, dass Minsk rhetorischen die Verteidigung der belarussischen Souveränität stärker in den Vordergrund stellte, anstatt nur die sozio-ökonomische Stabilität des Landes zu betonen.
Jüngste politische Auseinandersetzungen
Wirtschaftliche Auseinandersetzungen zwischen den beiden Ländern haben sich in jüngster Zeit mit politischen Meinungsverschiedenheiten vermischt. Belarus weigert sich bis heute, die Unabhängigkeitserklärungen von Südossetien und Abchasien anzuerkennen, und zieht damit den Zorn Moskaus auf sich. Seit dem russisch-georgischen Konflikt im August 2008 versucht Minsk seine Beziehungen zur EU aktiv zu verbessern, widersetzt sich gleichzeitig jedoch den westlichen Forderungen nach Demokratisierung. Als im April 2010 der kirgisische Präsident gestürzt wurde, lud ihn Lukaschenko nach Belarus ein und drückte seine Betroffenheit über dessen Sturz aus, der von Moskau stillschweigend unterstützt wurde.
Seit Juli diesen Jahres strahlte der russischen Fernsehsender NTW eine Reihe sensationell aufgemachter Dokumentationen aus, die unter anderem Lukaschenkos Privatleben, seine psychische Verfassung, Wirtschaftsinteressen und das Verschwinden von Regimegegnern Oppositionellen in den späten 1990er Jahren thematisiert hatten. Zwar hatten die Enthüllungen kaum Neuigkeitswert, doch wurden sie noch nie so umfassend im russischen Informationsraum verbreitet. Auch andere russische Fernsehanstalten und Printmedien starteten eine konzertierte Kampagne von Angriffen gegen Lukaschenko und lieferten gleichzeitig wohlmeinende Berichte über einige Gegenkandidaten bei den kommenden Präsidentschaftswahlen.
Im Gegenzug veröffentlichte »Respublika«, die offizielle Zeitung des belarussischen Ministerrates, die Kritik des russischen Oppositionspolitikers Boris Nemzov an Wladimir Putins Herrschaftsjahren. Lukaschenko gab Pressekonferenzen für russische Medien und der Kreml erwiderte mit Veranstaltungen für belarussische Medienvertreter, wobei sich beide Seiten gegenseitig scharf kritisierten.
Während das persönliche Verhältnis zwischen Lukaschenko und Putin nie sonderlich warm oder freundlich war, überrascht die öffentliche Entzweiung zwischen Lukaschenko und Dmitrij Medwedew, mit dem der belarussische Präsident immer den Anschein freundlicher Beziehungen aufrechterhalten wollte.
Der Einfluss des russischen Propagandafeldzugs ist in Belarus selbst eher begrenzt. Beispielsweise geben unabhängige Umfragen an, dass, obwohl die Hälfte der Bevölkerung von den NTW-Dokumentationen gehört, weniger als ein Drittel tatsächlich irgendeine davon gesehen hat und von diesen nur ein Viertel ihre Meinung zu Lukaschenko in positiver oder negativer Weise verändert hat.
Die Präsidentschaftswahlen in Belarus
Die kommenden Präsidentschaftswahlen in Belarus sollten ursprünglich nicht vor Februar 2011 stattfinden. Das Parlament wurde jedoch früher einberufen, um den Wahltag auf den 19. Dezember zu legen. Somit werden die Wahlen vor möglichen Öl- oder Gaskonflikten mit Gazprom und dem Kreml um Neujahr stattfinden.
Lukaschenko hofft auf eine vierte Amtszeit als Präsident. Dieses Mal kann er sich jedoch nicht auf die politische Unterstützung des Kremls verlassen; es besteht zudem die Möglichkeit, dass Moskau das Wahlergebnis formal nicht anerkennt. Obwohl sein Rating in der letzten unabhängigen Meinungsumfrage (September 2010) auf knapp unter 40% gefallen ist, ist ca. ein Drittel der Wähler unentschieden und nur wenige seiner Gegenkandidaten erreichen momentan auch nur ein Prozent öffentlicher Unterstützung.
Die belarussischen Oppositionskräfte, die sich im Vorfeld der Wahl als unfähig erwiesen haben, auch nur den Anschein von Einigkeit zu wahren, stehen vor der Herausforderung, auf diesen neuartigen, externen Druck auf das Regime zu reagieren. Einige reisten nach Moskau, um die Möglichkeit einer Unterstützung durch Russland zu sondieren. Der Kreml hat aber bisher keinen alternativen Kandidaten unterstützt. Das hat nicht verhindert, dass Gerüchte darüber umliefen, wer möglicher Favorit des Kremls sein könnte bzw. aus Russland unterstützt wird - sei es von Unternehmern oder von belarussischen Emigranten in Russland. Anwärter für diese Rolle waren der Dichter Wladimir Nekljaew, der Ökonom Jaroslaw Romantschuk und der ehemalige Diplomat Andrej Sannikow.
Vertreter des nationalistischen Flügels der Opposition sind besorgt, Lukaschenko könne durch einen Kandidaten ersetzt werden, der Moskau verpflichtet ist und engere Beziehungen mit Europa ablehnt. Der christdemokratische Kandidat Witaly Rymaschewsky beispielsweise erklärte, dass er eine Kandidatur Neklajews nicht unterstützen könnte, sollte dieser als gemeinsamer Oppositionskandidat ausgewählt werden. Ihm stehen jene gegenüber, die die Verdrängung Lukaschenkos von der Macht allen anderen Bedenken überordnen, auch wenn die national-demokratischen Eigenschaften des Nachfolgers nicht ihren Wunschvorstellungen entsprechen.
Ein Regimewechsel als Ergebnis dieser Wahlen bleibt jedoch sehr unwahrscheinlich, trotz der offenkundigen Bereitschaft Russlands, Lukaschenko von der Macht scheiden zu sehen. Ungeachtet der intensiven Propagandakampagnen in den russischen Medien kann Lukaschenko bis auf weiteres auf die feste Unterstützung sowohl eines wesentlichen Teils der Bevölkerung als auch der verschiedenen Gruppen der Herrschaftselite in Belarus zählen. Er kann sich als Verteidiger der belarussischen Souveränität gegen russische Oligarchen und expansionistische Ambitionen des Kremls stilisieren. Die Wahlen werden weder frei noch fair sein, obwohl Lukaschenko zu verstehen gab, dass er einen geringeren Stimmenvorsprung erwartet als bei den Wahlen 2006. Die Oppositionskräfte sind durch interne Streitigkeiten geschwächt. Zudem haben sie wenige natürliche Verbündete in der russischen Elite, die ihnen ermöglichen könnten, aus dem aktuellen Einbruch der zwischenstaatlichen Beziehungen Nutzen zu ziehen. Der Umschlag von Straßenprotesten in Revolution ist ebenso unwahrscheinlich wie die Bereitschaft Moskaus, eine gewaltsame Beseitigung Lukaschenkos ruhig mitanzusehen.
Über die Wahlen von 2010 hinaus
Während eine vierte Amtszeit Lukaschenkos wahrscheinlich ist, könnte seine Stellung doch schwierig werden. Der belarussische Präsident hat sich während seiner 16 Jahre an der Macht als ein raffinierter Politiker erwiesen und viele Vorhersagen über seinen unvermeidlichen Sturz überlebt. Nun wird er jedoch all seine Reserven an List und Opportunismus aufbringen müssen, um den Verlust an politischer und wirtschaftlicher Unterstützung durch Russland zu kompensieren. Abkommen mit Venezuela, China und den Golfstaaten sind bisher weit davon entfernt, diese Lücke zu schließen. Nachdem Belarus seinen traditionellen Einfluss als Transitland verliert, könnte Lukaschenko stattdessen auf die geopolitische Karte setzen, etwa durch die Drohung, aus der CSTO oder dem gemeinsamen Wirtschaftsraum auszusteigen, in der Hoffnung, so Konzessionen von russischer Seite durchzusetzen.
Die Annäherung an die EU nach 2008 war in Wirklichkeit eher von begrenzter Bedeutung. Brüssel wird Minsk keine wirtschaftliche und finanzielle Unterstützung anbieten, nur weil Lukaschenko verspricht, sich von Russland abzuwenden und die eigene Wirtschaft teilweise für westliche Investitionen zu öffnen. Stattdessen wird Brüssel stärkere Demokratisierungsbemühungen sehen wollen, die Lukaschenkos Machtposition schwächen würde. Den wirtschaftlichen Forderungen Moskaus zuzustimmen würde Lukaschenkos Regierungsfähigkeit jedoch in ähnlicher Weise unterminieren. Russland könnte darauf hoffen, dass Lukaschenko trotz erfolgreicher Wiederwahl in den nächsten fünf Jahren nicht als Garant für Stabilität in Belarus gilt, und dass es zu einer Palastrevolution kommt und ein Nachfolger aus dem Innern des Regimes auftritt. Im Moment gibt es jedoch keine offensichtlichen Kandidaten des Kremls in der belarussischen Regierung.
Andere Kommentatoren beschreiben ein Szenario, wonach Lukaschenko vorzeitig von seinem Amt zurücktritt und dieses einem selbst gewählten Nachfolger überträgt, möglicherweise seinem ältesten Sohn, Viktor, der einen Neustart der Beziehungen mit Russland und dem Westen einleiten könnte. Die Entwicklung der belarussisch-russischen Beziehungen in den kommenden Monaten und Jahren wird ein schwieriger Balanceakt sein, mit Risiken für beide Seiten und dem Potenzial zu grundlegenden Änderungen im Regime von Lukaschenko und in der wirtschaftlichen Landschaft von Belarus.
Übersetzung aus dem Englischen: Christoph Laug
Über den Autor:
Matthew Frear ist Doktorand am Zentrum für Russland- und Osteuropastudien an der Universität Birmingham, Großbritannien, der über aktuelle Entwicklungen in Belarus arbeitet.
Lesetipps:
Balmaceda, Margarita (2009): At a Crossroads: the Belarusian-Russian Energy-Political Model in Crisis, EUISS Chaillot Paper No. 119, November 2009, in: http://www.iss.europa.eu/uploads/media/cp119.pdf
Kononczuk, Wojciech (2008): Difficult Ally': Belarus in Russia's Foreign Policy, OSW Studies No. 28, September 2008, in: http://www.osw.waw.pl/sites/default/files/PRACE_28.pdf