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Analyse: Armutsbekämpfung in Russland | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Armutsbekämpfung in Russland

Martin Brand Martin Brand (Universität Bremen)

/ 11 Minuten zu lesen

Es herrschen verschiedene Ansichten und Meinungen darüber, nach welchen Kriterien Armut in der russischen Gesellschaft bestimmt wird. Vor allem Arbeitslose und gering qualifizierte Arbeitnehmer sowie Menschen auf dem Land und in kleinen Städten gehören zur Risikogruppe. Als Gegenmaßnahme soll starkes Wirtschaftswachstum wirken.

In einem Supermarkt in Sankt Petersburg stehen Kunden vor Kühlregalen. Für viele Menschen in Russland reicht das Geld zum Leben nur für Lebensmittel und Kleidung, (© picture alliance/Peter Kovalev/TASS/dpa)

Zusammenfassung

In diesem Beitrag wird das Ausmaß der Armut in Russland und die Politik der Regierung zur Bekämpfung der Armut analysiert. Es wird argumentiert, dass Russlands Armutsbekämpfung lediglich auf Formen extremer Armut abzielt, nicht aber auf jenes Drittel der Gesellschaft, das von Soziologen als arm eingestuft wird. Gleichwohl scheinen extreme Formen der Armut, von denen etwa jeder Achte in Russland betroffen ist, in den Fokus der Politik gerückt zu sein. Das lässt sich u. a. am Versprechen Präsident Putins erkennen, die Armut in Russland bis 2024 halbieren zu wollen. Voraussetzung dafür aber ist ein anhaltend hohes Wirtschaftswachstum.

Einleitung

"Die Armut in Russland ist eine Schande", sagte der langjährige russische Finanzminister und amtierende Leiter des Föderalen Rechnungshofs, Alexej Kudrin, im Sommer 2019 und warnte: Nehme sie weiter zu, könne dies zu einer "sozialen Explosion" führen. Diese Diagnose wirft die Frage auf, wie ernst das Problem der Armut in Russland tatsächlich ist und welche Maßnahmen ergriffen werden, Armut zu bekämpfen.

Putins Erlass: Armut halbieren

Im Mai 2018 unterzeichnete Russlands Präsident Wladimir Putin einen Erlass, der die Regierung verpflichtet, die Armut bis ins Jahr 2024 zu halbieren. Er ordnete auch einen stetigen Anstieg von Reallöhnen und Renten an und verfügte, dass die Wohnverhältnisse jährlich für mindestens fünf Millionen Haushalte verbessert werden müssen. Doch das ist leichter gesagt als getan. Wie realistisch ist es, die Armutsquote innerhalb von sechs Jahren zu halbieren? Wie ernst ist das Problem der Armut in Russland tatsächlich? Und welche Maßnahmen hat Russland bisher zur Armutsbekämpfung ergriffen? Das sind die Leitfragen für den folgenden Text. Ich werde zeigen, dass Russlands Sozialpolitik zur Linderung von Armut auf zwei Säulen beruht: Erstens auf einer Umverteilung zugunsten bestimmter sozialer Gruppen (ältere Menschen und Familien mit kleinen Kindern) und zweitens in zunehmenden Maße auch auf einer gezielten sozialen Unterstützung für Bedürftige.

Die wichtigste Säule ist jedoch die Hoffnung auf ein hohes Wirtschaftswachstum. "Nur so kann Armut überwunden und eine spürbare Einkommensverbesserung für die Bürgerinnen und Bürger gewährleistet werden", erklärte Putin in seiner Rede vor der Föderalversammlung 2019. "Bereits 2019 muss die russische Wirtschaft um mehr als drei Prozent wachsen, und zukünftig muss sie die Weltwirtschaft überflügeln", so Putin. Russlands Kampf gegen Armut steht daher vor zwei Herausforderungen. Zum einen unterliegt Russlands Politik zur Armutsbekämpfung einer erheblichen Unsicherheit, da sie von einem außergewöhnlichen Wirtschaftswachstum abhängig ist. Zum anderen wird sie durch die Fokussierung auf bestimmte soziale Gruppen und extreme Formen der Armut kaum den bestehenden Herausforderungen durch Armut gerecht, von der schätzungsweise ein Drittel der Bevölkerung Russlands betroffen ist.

Vermessung der Armut in Russland

Wie arm ist die russische Bevölkerung? Die Antwort auf diese Frage ist nicht einfach, da in den Sozialwissenschaften recht verschiedene Ansichten darüber vorherrschen, was Armut ist und wie sie gemessen werden kann. Ein Ansatz besteht darin, Armut anhand des Einkommens oder des materiellen Lebensstandards zu bestimmen, wobei meist zwischen absoluter und relativer Armut unterschieden wird. Während sich absolute Armut auf das physische Existenzminimum bezieht, betont relative Armut Mängel bezüglich eines allgemein akzeptierten gängigen Lebensstandards. Andere Ansätze hingegen konzentrieren sich auf die Chancen von Menschen auf ein selbstbestimmtes Leben oder die Frage der sozialen Ausgrenzung.

Die russische Armutsdebatte wird von einer Perspektive dominiert, die vornehmlich das physische Existenzminimum und den materiellen Lebensstandard in den Blick nimmt. Als offizielle Armutsgrenze gilt das gesetzlich festgelegte Existenzminimum. Darüber hinaus gibt es Umfragen zur materiellen Situation und zur Selbsteinschätzung der eigenen Lebenslage. All diese Daten ergeben ein recht unterschiedliches Bild von der Armut in Russland, zeigen aber eindeutig den gleichen Trend auf.

Dieser Trend besagt, dass die Armutsquote in Russland zwischen 2000 und 2013 stark zurückgegangen ist, insbesondere in den wirtschaftlichen Boomjahren bis 2007. Während der Wirtschaftskrise 2014 jedoch stieg die Armutsquote erstmals unter Putin wieder an. Nachdem sich die Armutsquote in den nachfolgenden Jahren stabilisiert hatte, gibt es nun Anzeichen dafür, dass die Armut in Russland wieder zunimmt (siehe Grafik 1 auf S. 6).

Trotz dieses unbestreitbaren langfristigen Trends bestehen innerhalb der russischen Gesellschaft erhebliche Unterschiede in der wahrgenommenen Ausprägung von Armut. Im ersten Halbjahr 2019 verfügten nach offiziellen Angaben des Staatlichen Statistikamtes Russlands (Rosstat) 19,8 Millionen Menschen (13,5 Prozent der Bevölkerung) über ein Einkommen unterhalb des Existenzminimums. Allerdings wird oft kritisiert, dass das offizielle Existenzminimum zu niedrig bemessen sei und nicht die tatsächlichen Kosten des Alltagslebens widerspiegele.

Diese Kritik wird von einer kürzlich durchgeführten Umfrage des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum untermauert. Dieser Erhebung zufolge bezifferten die Befragten das gefühlte Existenzminimum auf fast das Doppelte der offiziellen Armutsgrenze von 11.185 Rubel (ca. 162 Euro) pro Monat. Nimmt man dieses subjektive Existenzminimum als Grundlage, lebten 2018 fast 40 Prozent aller Menschen in Russland in Armut.

Auch Umfragen zum Lebensstandard zufolge ist das Ausmaß der wahrgenommenen Armut wesentlich höher, als die offizielle Armutsgrenze nahelegt. Von Rosstat nach ihrer materiellen Situation befragt, antworteten 26,5 Prozent der Befragten mit "schlecht" oder "sehr schlecht". Einer Lewada-Umfrage zufolge schätzten gar 71 Prozent der Befragten, dass sie über weniger als das Existenzminimum zum Leben verfügen (siehe Grafik 1 auf S. 6). Ein solcher Einkommensmangel führt zu verschiedenen Formen der Deprivation (Mängel). So gibt beispielsweise jeder sechste Haushalt in Russland an, dass das Einkommen lediglich für Lebensmittel ausreiche, und mehr als ein Drittel der Haushalte erklärt, dass man es sich nicht leisten könne, jedem Familienmitglied zwei bequeme, der Jahreszeit angemessen Paar Schuhe zu kaufen (siehe Grafiken 2 und 3 auf S. 7).

In einer Studie zur Armut in der heutigen russischen Gesellschaft, unternehmen die Soziologinnen Natalia Tikhonova und Svetlana Mareeva den Versuch, das Problem der Armut zu quantifizieren. Auf der Grundlage offizieller Statistiken und der Ergebnisse zweier landesweiter Untersuchungen zur materiellen Deprivation kommen sie zu dem Schluss, dass bis 2013 fast ein Drittel der russischen Bevölkerung von Armut betroffen war. Dieses Drittel bildet Tikhonova und Mareeva zufolge die sogenannte "neue Peripherie", eine geschlossene soziale Gruppe, die sich deutlich vom Rest der Bevölkerung unterscheide.

Wer sind die Armen?

Die Feststellung dieser "neuen Peripherie" führt zur Frage, wer genau im heutigen Russland diese Armen sind. Unabhängig von der Methode zur Messung von Armut gelten Familien mit Kindern – vor allem Großfamilien und Alleinerziehende – als besonders armutsgefährdet. Auch für Rentner und Menschen mit Behinderungen ist das Armutsrisiko hoch, zumindest was die subjektiv empfundene Armut und Deprivation betrifft.

Tikhonova und Mareeva argumentieren, dass Armut in Russland heutzutage vor allem von der Stellung eines Menschen auf dem Arbeitsmarkt bestimmt wird. Ihrer Studie zufolge sind Arbeitslose und ungelernte bzw. gering qualifizierte Arbeitnehmer besonders von Armut bedroht. Ein großer Teil der Armen ist in der Schattenwirtschaft beschäftigt und hat daher keinen Zugang zu sozialer Unterstützung. Somit unterscheidet sich die Situation von Armen heute grundlegend von der Situation in den 1990er und frühen 2000er Jahren, als der berufliche Hintergrund von Armen und Nichtarmen sich kaum unterschied.

Ein weiterer Faktor, der das Armutsrisiko maßgeblich bestimmt, ist die Geografie. Arme leben häufiger auf dem Land als in Städten (siehe Grafiken 2 und 3 auf S. 7). Selbst Mittel- und Hochqualifizierte haben in kleinen Städten und Dörfern ein doppelt so hohes Armutsrisiko wie in den regionalen Hauptstädten. Generell lässt sich sagen: Je kleiner die Stadt, desto schwieriger die materielle Lage der Menschen.

Darüber hinaus bestehen erhebliche regionale Unterschiede. Gemessen am offiziellen regionalen Existenzminimum ist die Armutsquote in den wirtschaftlichen Zentren Moskau und St. Petersburg sowie in der ölreichen Republik Tatarstan nur halb so hoch wie der nationale Durchschnitt von 13,5 Prozent. Im Nordkaukasus und entlang der mongolischen Grenze hingegen muss in einigen Regionen jeder Fünfte mit weniger als dem Existenzminimum auskommen (siehe Karte 1 auf S. 9).

Umverteilung zugunsten bestimmter sozialer Gruppen

Wenn also in Russland jeder Achte (offizielle Armutsgrenze) bis jeder Dritte (soziologische Einschätzung) von Armut betroffen ist, wie ist dann die soziale Absicherung organisiert? Sie erfolgt vor allem über drei große Mechanismen monetärer Umverteilung: über Renten, monatliche Geldleistungen für bestimmte Personengruppen sowie Mutterschaftsbeihilfen. Diese Programme sozialer Unterstützung richten sich an spezifische soziale Gruppen innerhalb der russischen Gesellschaft, nämlich an ältere Menschen und Familien mit kleinen Kindern. Zwar gibt es auch eine Arbeitslosenversicherung, doch deren maximale Höhe liegt im Allgemeinen noch unterhalb des Existenzminimums.

Wichtigstes Instrument der monetären Einkommensumverteilung in Russland ist das Rentensystem. Um eine grobe Vorstellung vom Umfang der Rentenleistungen zu geben, seien hier nur einige statistische Eckpunkte genannt: Fast ein Drittel aller Menschen in Russland (30 Prozent) bezieht eine Altersrente, wobei das Rentenniveau jedoch sehr niedrig ist. Im Jahr 2018 betrug es lediglich 30,8 Prozent des früheren Arbeitseinkommens, was weit unterhalb des Mindeststandards der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) von 40 Prozent liegt. Als die russische Regierung 2018 beschloss, das Rentenalter schrittweise von 55/60 auf 60/65 Jahre (Frauen/Männer) anzuheben, versprach sie zugleich, auch das Rentenniveau deutlich zu erhöhen. Trotzdem kam es zu landesweiten Protesten gegen die Reform. Immerhin liegt die durchschnittliche Altersrente deutlich über dem offiziellen Existenzminimum für Rentner. Insgesamt wendet Russland fast sieben Prozent seines BIP für Rentenzahlungen auf, was leicht unter dem Durchschnitt der OECD-Staaten, aber deutlich unter dem Niveau der meisten EU-Länder liegt.

Ein weiteres zentrales System zur monetären Einkommensumverteilung sind monatliche Geldleistungen für vielzählige Kategorien von Bürgerinnen und Bürgern. Im Jahr 2018 profitierten auf föderaler Ebene 15,2 Millionen Menschen davon, in den Regionen dürfte ihre Zahl noch höher liegen, zumindest tragen die Föderationssubjekte den weitaus größten Teil der monatlichen Geldleistungen. Diese monatlichen Geldleistungen machen etwa eineinhalb Prozent des BIP aus, doch in der wissenschaftlichen Debatte werden sie oft kritisiert, da sie nicht zielgerichtet an Bedürftige geleistet werden, sondern an "verdiente" soziale Gruppen wie z. B. Kriegsveteranen, Menschen mit Behinderungen oder Veteranen der Arbeit. Dennoch entsprechen die monatlichen Geldzahlungen weitgehend dem Gerechtigkeitsempfinden der russischen Gesellschaft. In der Praxis kommen sie zumeist älteren Menschen zugute.

Frauen mit kleinen Kindern sind eine weitere soziale Gruppe, die in besonderem Maße von der Einkommensumverteilung profitiert. Neben der Lohnfortzahlung während des Mutterschutzes ist hierbei das sogenannte Mutterschafts- bzw. Familienkapital von besonderem Interesse. Dabei handelt es sich um eine einmalige Leistung für Mütter, die ein zweites Kind bekommen haben. Es wurde 2007 eingeführt, nachdem Präsident Putin die demografische Entwicklung zum drängendsten Problem der russischen Gegenwart erklärt hatte. Auch wenn das Mutterschafts- bzw. Familienkapital nur für bestimmte Zwecke eingesetzt werden kann, insbesondere zur Verbesserung der Wohnverhältnisse, ist seine Höhe beträchtlich und entspricht derzeit etwa einem durchschnittlichen Jahresgehalt. Das Programm, das bisher mehr als fünf Millionen Familien in Anspruch genommen haben, erfreut sich in der russischen Bevölkerung großer Beliebtheit. In seiner Botschaft an die Föderalversammlung im Januar 2020 versprach Putin daher, das Mutterschafts- bzw. Familienkapital bis Ende 2026 fortzuführen und auf die Geburt des ersten Kindes ausweiten.

Russlands Politik der Einkommensumverteilung zielt auf bestimmte soziale Gruppen ab, nicht jedoch auf eine größere soziale Gleichheit in der gesamten Gesellschaft. So beträgt beispielsweise die einheitliche Einkommenssteuer seit Jahren unverändert 13 Prozent, während die Mehrwertsteuer, von der ärmere Haushalte in besonderer Weise betroffen sind, 2019 von 18 auf 20 Prozent angehoben wurde. Es überrascht daher nicht, dass die Einkommensverteilung – ganz zu schweigen vom Vermögen – seit Jahren äußerst ungleich verteilt ist (siehe Grafik 4 auf S. 8). Sichtbare Bemühungen, das Ausmaß sozialer Ungleichheit ernsthaft zu verringern, gibt es bisher nicht. Stattdessen hat Russland in den vergangenen Jahren eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um gezielt Bedürftige zu unterstützen und so das Armutsproblem des Landes zu lösen.

Gezielte Armutsbekämpfung

In Folge der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 werden seit 2010 Renten, die geringer als das offizielle Existenzminimum für Rentner ausfallen, aufgestockt, wovon Anfang 2019 mehr als 6,4 Millionen Menschen profitierten. Auf diese Weise sind nahezu alle Rentner in Russland vor existenzieller Armut geschützt.

Ein weiterer Schwerpunkt gezielter staatlicher Hilfe lag in den letzten Jahren auf der finanziellen Unterstützung von bedürftigen Familien mit Kindern. Seit 2018 erhalten einkommensschwache Familien für Kleinkinder bis zu einem Alter von anderthalb Jahren föderale Beihilfen in Höhe des regionalen Existenzminimums. Ab 2020 soll der Kreis berechtigter Familien weiter ausgedehnt werden, so Putins Versprechen in seinen Botschaften an die Föderalversammlung 2019 und 2020. Bereits 2012 hatte er die Regionen aufgefordert, eine entsprechende finanzielle Unterstützung für Großfamilien einzuführen, was viele von ihnen umgehend umsetzten.

Ein Meilenstein der zielgerichteten Sozialhilfe sind die 2012 auf föderaler Ebene gesetzlich verankerten sogenannten Sozialverträge, mit denen alle Bedürftigen und nicht nur bestimmte soziale Gruppen erreicht werden sollen. Im Sinne einer aktivierenden Sozialpolitik zielen diese Sozialprogramme darauf ab, individuelle Angebote für Antragsteller zu ermöglichen, z. B. eine berufliche Weiterbildung oder finanzielle Unterstützung, um ein Kleinunternehmen zu gründen oder familieneigene Landwirtschaft zu betreiben. Obwohl 2018 nur etwa 115.000 Sozialverträge abgeschlossen wurden, die rund 320.000 Menschen einbeziehen, hat Putin eine massive Ausweitung des Programms angekündigt. Mehr als neun Millionen Menschen, so die Ankündigung Putins vor der Föderalversammlung 2019, sollen in den kommenden fünf Jahren von dem Sozialprogramm profitieren. Zudem sagte er den Regionen finanzielle Unterstützung durch das föderale Zentrum zu.

Schätzungen von Lilia Ovcharova und Elena Gorina zufolge spielt die zielgerichtete Sozialhilfe noch immer eine untergeordnete Rolle in Russland. Auf föderaler Ebene macht sie bisher nur drei Prozent aller Sozialleistungen aus, auf regionaler Ebene immerhin ein Viertel. Daran dürfte sich auch in den kommenden Jahren wenig ändern.

Eine weitere zielgerichtete sozialpolitische Maßnahme war die Erhöhung des Mindestlohns 2019 und seine Koppelung an das Existenzminimum, was bereits seit 2001 im Arbeitsgesetzbuch gefordert, bisher jedoch nicht umgesetzt wurde. Vor der Erhöhung verdiente etwa jeder zehnte Erwerbstätige in Russland weniger als das Existenzminimum. Derart extrem niedrigen Löhne dürften durch den neuen Mindestlohn verhindert werden, doch das weit verbreitete Phänomen der Erwerbsarmut wird so wohl kaum zu lösen sein. In seiner Botschaft an die Föderalversammlung 2020 schlug Putin vor, die Koppelung von Mindestlohn und Existenzminimum auch in der Verfassung zu verankern.

Fazit

Wie wahrscheinlich ist es also, dass Putins Erlass vom Mai 2018 sich in der Realität niederschlägt und die Armut in den kommenden Jahren halbiert wird? Voraussetzung dafür ist, wie der russische Präsident selbst betont, ein starkes Wirtschaftswachstum von jährlich über drei Prozent. Russlands Zentralbank prognostiziert jedoch etwas anderes. Sie geht davon aus, dass das russische BIP von 0,8 bis 1,3 Prozent 2019 allmählich auf 2 bis 3 Prozent im Jahr 2022 ansteigen wird. Auch der Internationale Währungsfonds rechnet bis 2024 mit nicht mehr als zwei Prozent Wachstum pro Jahr. Zudem zeigt der Blick zurück, dass ein Wirtschaftswachstum von mehr als drei Prozent in Russland zuletzt im Jahr 2012 erreicht wurde.

Geht man davon aus, dass sich Russlands Wirtschaft etwas besser entwickelt als prognostiziert und es der Regierung gelingt, die notwendigen finanziellen Mittel zur Ausweitung einer zielgerichteten sozialen Unterstützung von Bedürftigen aufzubringen, stehen die Chancen gut, den Anteil der Armen deutlich zu reduzieren. Dies bezieht sich jedoch nur auf die absolute Armut, d. h. auf diejenigen Menschen oder Familien, die jenseits des Existenzminimums leben. Angesichts der in den vergangenen Jahren gestiegenen Armut wäre dies gleichwohl ein enormer Erfolg.

Gleichzeitig ist es unwahrscheinlich, dass sich die materielle Situation des unteren Drittels der Gesellschaft insgesamt wesentlich verbessert. Dafür bedürfte es einer stärkeren Umverteilung gesellschaftlicher Ressourcen: von den Wohlhabenden zu den weniger Wohlhabenden, von den Metropolen in die kleineren Städte und ländlichen Gebiete. Eine solche Umverteilungspolitik, die sich auf allgemeine Überlegungen zur sozialen Gerechtigkeit stützt, findet im politischen Diskurs Russlands jedoch wenig Unterstützung. Bisher fand Umverteilung weitestgehend zugunsten gesellschaftlicher Gruppen statt, die als "verdient" gelten oder denen im Hinblick auf die nationale Entwicklung große Bedeutung beigemessen wird, nämlich ältere Menschen und Familien mit Kindern.

Lesetipps

  • Natalia E. Tikhonova, Svetlana V. Mareeva: Poverty in Contemporary Russian Society: Formation of a New Periphery, in: Russian Politics. 2016. Vol. 1. No. 2, pp. 159–183.

  • Ann-Mari Sätre: The Politics of Poverty in Contemporary Russia, Routledge, 2019.

  • Lilia Ovcharova, Elena Gorina: Developing Targeted Social Assistance in Russia, in: Problems of Economic Transition, 2017. Vol. 59. No. 11–12, pp. 843–864.

  • Petra Böhnke, Jörg Dittmann, and Jan Goebel: Handbuch Armut. Ursachen, Trends, Maßnahmen, UTB, 2018.

Fussnoten

Martin Brand ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich 1342 "Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik", Teilprojekt B06 "Externe Reformmodelle und interne Debatten bei der Neukonzipierung von Sozialpolitik in der post-sowjetischen Region" an der Universität Bremen. Dieses Projekt wird durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 374666841 – SFB 1342 gefördert. An der Forschungsstelle Osteuropa arbeitet er zur Armutspolitik im post-sowjetischen Raum, Thema seiner Dissertation ist die Wohlfahrtsentwicklung in Russland.