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Analyse: Konventionelle Rüstungskontrolle und militärische Vertrauensbildung mit Russland

Alexander Graef

/ 12 Minuten zu lesen

Seit mehr als zehn Jahren mahnen Experten eine Erneuerung der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa an. Die europäische Sicherheitspolitik ist aber auch weiterhin von der Entwicklung der bilateralen Beziehungen zwischen Russland und den USA abhängig. Denn für Russland ist die NATO vor allem ein Vehikel der US-Militärpolitik und der amerikanischen politischen Hegemonie.

Juni 2020: Traditionelle Militärparade zur Feier des 75. Jahrestages des Sowjetischen Sieges über die deutsche Wehrmacht: Russische Soldaten marschieren über den Roten Platz. (© picture-alliance/dpa)

Zusammenfassung

30 Jahre nach seiner Entstehung stehen das europäische Rüstungskontrollregime und die militärische Vertrauensbildung am Scheideweg. Moskau ist bereits seit Dezember 2007 nicht mehr an der Umsetzung des Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) beteiligt. Die Reform des Wiener Dokuments über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen (WD) stockt seit 2011. Auch die Zukunft des Vertrags über den Offenen Himmel (OH-Vertrag) ist seit dem angekündigten Austritt der USA gefährdet. Ohne eine Verbesserung der politischen Beziehungen zwischen der NATO und Russland wird die militärische Stabilität in Europa weiter geschwächt.

Einleitung

Die Geschichte der konventionellen Rüstungskontrolle und militärischen Vertrauensbildung in Europa ist vergleichsweise kurz. Ihre politischen Ursprünge liegen zwar in den frühen 1970er Jahren. Die eigentliche Umsetzung begann jedoch erst in der kurzen Periode zwischen 1989 und 1992 und fiel mit dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung der Sowjetunion zusammen. Möglich wurde dies vor allem durch den von KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow eingeleiteten Politikwechsel in der Sowjetunion. Neben den auf die Innenpolitik gerichteten Ideen von Glasnost und Perestroika , läutete er mit dem Neuen Denken und dem Prinzip der vernünftigen Hinlänglichkeit, das die Rüstung auf einem für Verteidigungszwecke notwendigen Niveau beschränken sollte , auch in der Außen- und Militärpolitik einen unerwarteten Wandel ein.

Im Dezember 1988 kündigte Gorbatschow die Reduktion der sowjetischen Armee um eine halbe Million Soldaten und den Abzug von insgesamt sechs Divisionen aus Ungarn, der damaligen Tschechoslowakei und der DDR an. Diese und weitere Initiativen Moskaus forderten nach Inkrafttreten des INF-Vertrags im Juni 1988 auch die USA heraus, die in der Rüstungskontrolle eigene Akzente setzen wollten. Im Mai 1989 griff Präsident George H. Bush die ursprüngliche, von Präsident Eisenhower in den 1950er Jahren verfolgte Idee eines Vertrags über den Offenen Himmel (OH-Vertrag) wieder auf. Dieser sollte eine gegenseitige Luftüberwachung ermöglichen und damit Transparenz und Vertrauen stärken. Erste Verhandlungen begannen 1990 auf den Konferenzen in Ottawa und Budapest und führten im März 1992 zur Unterzeichnung des Vertrags, der 2002 in Kraft trat. Heute finden im Durchschnitt 100 jährliche Überflüge nach festgelegten Quoten statt.

Parallel dazu entwickelten die 35 Unterzeichnerstaaten der KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 im Rahmen der Konferenz über Sicherheits- und Vertrauensbildende Maßnahmen und Abrüstung in Europa (KVAE) ab 1984 weitergehende Ideen, um militärische Transparenz und Vertrauensbildung auf dem Kontinent trotz anhaltender Systemkonfrontation zu fördern. Mit der Unterzeichnung des Abschlussdokuments 1986 in Stockholm wurde ein Durchbruch erzielt. Zum ersten Mal einigte man sich auf konkrete, überprüfbare und politisch verbindliche Maßnahmen zur militärischen Vertrauensbildung, darunter die Notifikation von Truppenbewegungen sowie klare Richtlinien zur Beobachtung von Militärübungen. 1990 fanden diese in erweiterter Form Eingang in das Wiener Dokument über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen (WD), das seitdem vier Mal, zuletzt 2011, erneuert wurde.

Schließlich begannen NATO und die Mitglieder der Warschauer Vertragsorganisation (auch Warschauer Pakt, WVO) im März 1989 Verhandlungen über den späteren Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) in Wien. Ziel war die Abrüstung der großen konventionellen Waffenbestände, darunter Kampfpanzer und Artillerie, vor allem im geteilten Deutschland, in Mitteleuropa und in der Sowjetunion. Für die NATO ging es vor allem um den Abbau der numerischen Übermacht der WVO, die dadurch mögliche Flexibilisierung der nuklearen Abschreckung und die Reduktion der Erfolgsaussichten von großangelegten Überraschungsangriffen. Für die Sowjetunion unter Gorbatschow standen die Reduktion von Kosten und die langfristige Reform von Gesellschaft und Wirtschaft im Mittelpunkt.

Schon damals war allen Beobachtern bewusst, dass die konventionelle Rüstungskontrolle und die Vertrauens- und Sicherheitsbildenden Maßnahmen (VSBM) nicht nur auf die Stabilisierung der Ost-West Beziehungen beschränkt bleiben würden. Vielmehr waren sie auch ein Mittel, das den politischen Umbruch begleiten und letztlich die sicherheitspolitische Ordnung in Europa neu definieren sollte. Mit der unerwarteten Auflösung von WVO und Sowjetunion 1991 wurde diese Funktion offensichtlich. Die eigentliche Implementierung der Rüstungskontrolle als Prozess, der in den 1990er Jahren einsetzte, hatte insofern das Ziel, die noch offene, neue politische Ordnung auf dem Kontinent zu festigen.

Konventionelle Rüstungskontrolle – Relikt des Kalten Krieges?

Fast 30 Jahre später steht die europäische Rüstungskontrollarchitektur am Scheideweg. Der KSE-Vertrag als ehemaliges Kernstück der europäischen Sicherheitsordnung ist seit seiner Suspendierung durch Moskau im Dezember 2007 politisch zahnlos. Seitdem finden in Russland weder Überprüfungen durch Inspektoren noch ein Informationsaustausch über den Bestand der vertraglich begrenzten Waffensysteme statt. Die NATO-Staaten haben ihre Implementierung gegenüber Russland Ende 2011 ebenfalls eingestellt. Im März 2015 zog sich Russland schließlich auch aus der Gemeinsamen Beratungsgruppe des Vertrags zurück und lässt seine Interessen seither von Belarus vertreten.

Für Russland lief der KSE-Vertrag vor allem auf eine Beschränkung der eigenen Stationierungs- und Bewegungsfreiheit in den so genannten Flankenzonen hinaus, die die ehemaligen Militärbezirke im Kaukasus und Leningrad umfassen. Zusätzlich war die Blockstruktur des Vertrags, die bis heute Bestand hat, bereits mit der Auflösung der WVO 1991 hinfällig geworden. Die drei baltischen Staaten – Estland, Lettland und Litauen – hatten bereits zum Zeitpunkt ihrer Unabhängigkeit von der Sowjetunion erklärt, nicht mehr zum Anwendungsgebiet zu gehören. Aber auch die ersten beiden Erweiterungsrunden der NATO 1999 und 2004 führten die Struktur des KSE-Vertrags ad absurdum . Diese Anachronismen sollten mit dem im November 1999 unterzeichneten angepassten KSE-Vertrag (A-KSE) beseitigt werden. Er führte nationale Obergrenzen und ein verbessertes Informations- und Inspektionsregime ein, öffnete den Vertrag aber auch für neue Mitglieder.

Doch das Abkommen trat nie in Kraft. Während Belarus, Kasachstan, Russland und die Ukraine die Ratifizierung 2004 abschlossen, machten die NATO-Staaten ihre Zustimmung seit 2002 von der Erfüllung der so genannten "Istanbuler Verpflichtungen" durch Russland abhängig. Damit bezog man sich auf die Umsetzung der von Russland in der OSZE-Gipfelerklärung von Istanbul 1999 bestätigte Verpflichtung seine Truppen aus Moldau vollständig abzuziehen und gemäß Anhang 14 der Schlussakte sein stationiertes Militärgerät in Georgien zu reduzieren und zwei Militärstützpunkte bis Juli 2001 zu schließen sowie über die Art und Dauer des Betriebs zweier weiterer Stützpunkte zu verhandeln. Zwar kam Russland diesen Forderungen zum großen Teil nach, zog Truppen und Munition aus Moldau ab und vereinbarte mit Georgien 2005 die vollständige Schließung aller bis dahin verbliebenen Stützpunkte bis Ende 2008; es verweigerte sich jedoch weitergehenden Wünschen, darunter auch die Peacekeeper aus Transnistrien sowie Abchasien und Südossetien abzuziehen.

Neben dem politischen steht jedoch auch der militärische Wert des KSE-Vertrags in seiner jetzigen Form in Frage. Einerseits hat der Vertrag seit seiner Unterzeichnung maßgeblich zur europaweiten Zerstörung von über 100.000 schweren Waffensystemen beigetragen. Die konventionelle Hochrüstung auf dem Kontinent wurde damit grundsätzlich beendet. Dieser Abrüstungs-Prozess hält zum Teil weiterhin an.



Andererseits reflektieren die Vertragsbestimmungen weder die ordnungspolitische Lage noch die heutige Struktur von Streitkräften und ihrer Bewaffnung. So werden die am Kalten Krieg orientierten Höchstgrenzen an Waffenbeständen heute von fast allen Mitgliedsstaaten mit wenigen Ausnahmen mühelos eingehalten. Gleichzeitig umfasst der Vertrag keine modernen Waffensysteme, die tendenziell destabilisierend auf die sicherheitspolitischen Beziehungen wirken, darunter Drohnen und Luftabwehrsysteme, aber auch Seestreitkräfte. Gegenüber dem Kalten Krieg haben sich auch die Bedrohungswahrnehmungen und die möglichen Risikoszenarien für den Konfliktfall entscheidend verändert.

Militärische Vertrauensbildung nach der Krim-Annexion

Statt großangelegter Offensiven zur Raumgewinnung und Überraschungsangriffen stehen heute vor allem die mögliche Eskalation durch Fehlkommunikation, riskante Manöver und Intransparenz bei militärischen Übungen im sub-regionalen Kontext im Mittelpunkt. Seit dem Militäreinsatz Russlands auf der Krim, der anschließenden Annexion der Halbinsel im März 2014 und dem Beginn des bewaffneten Konflikts in Teilen des Donbas ist die Frage militärischer Vertrauensbildung und kooperativer Konfliktregulierung wieder in das Zentrum politischer Aufmerksamkeit gerückt.

In der Ukraine-Krise hat sich insbesondere das Wiener Dokument der OSZE (Externer Link: https://www.osce.org/files/f/documents/b/e/86599.pdf) als wichtiges Instrument für Risikomanagement und die Krisenkommunikation bewährt. Bereits 2014 und 2015 machten die OSZE-Mitgliedstaaten intensiven Gebrauch von der Möglichkeit, Konsultations- und Informationsanfragen bezüglich unvorhergesehener und ungewöhnlicher Aktivitäten von Streitkräften in Russland und der Ukraine zu stellen (WD, Kapitel III).

Außerdem wurden im Rahmen der Richtlinien von Kapitel IX und X des WD Inspektionen und Überprüfungen vor Ort sowohl in der Ukraine als auch in Russland durchgeführt. Bereits zwischen Februar und August 2014 fanden fünf außerordentliche Treffen des Forums für Sicherheitspolitik (FSK) und des Ständigen Rates der OSZE statt, davon drei mit Bezug auf die Mechanismen zur Risikominimierung. Russland blieb diesen Treffen jedoch zum Teil fern und lehnte zusätzliche, freiwillige Besuche zur Kontrolle von militärischen Aktivitäten nach Kapitel III des Dokuments ab.

Die Ukraine-Krise zeigt deshalb gleichzeitig auch die Grenzen kooperativer Sicherheit im militärischen Konfliktfall auf, denn die Wirksamkeit von VSBM hängt maßgeblich von der politischen Bereitschaft zur Zusammenarbeit ab. So blieben mehrmalige Versuche eines multinationalen Inspektionsteams im März 2014, Zugang zur Krim zu erhalten, erfolglos. Im April setzten separatistische Milizen ein WD-Beobachtungsteam unter deutscher Führung, das auf Basis von Kapitel III von der Ukraine eingeladen worden war, auf Geheiß des damaligen "Volksbürgermeisters" von Slowjansk fest. Erst nach Bemühungen der OSZE und der ukrainischen Regierung sowie unter direkter Vermittlung Moskaus, wurde das Team zwei Wochen später wieder freigelassen.

Die Schaffung der zivilen Sonderbeobachtungsmission (SMM) für die Ukraine im März 2014 mit zunächst 500 Beobachtern ist vor diesem Hintergrund, trotz bestehender Zugangsprobleme, ein wichtiger Erfolg. Im März 2015 wurde die Höchstzahl der Beobachter, die ihre Arbeit sowohl in der Westukraine als auch in der Südostukraine durchführen, auf 1000 angehoben. Seit der Unterzeichnung der Minsker Vereinbarungen im September 2014 bzw. im Februar 2015 übt die SMM auch zentrale Aufgaben bei der Beobachtung des, bis heute immer wieder brüchigen, Waffenstillstands und der Überprüfung des Abzugs schwerer Waffen aus. In diesem Rahmen setzte die OSZE auch zum ersten Mal in ihrer Geschichte Drohnen für Beobachtungsaufgaben ein.

Die Mittel der Luftüberwachung wurden in der Ukraine auch im Rahmen des Vertrags über den Offenen Himmel genutzt. Im März 2014 führten Schweden sowie die USA und Kanada auf Einladung der Ukraine jeweils einen Überflug außerhalb des gewöhnlichen Quotensystems durch. Im selben Monat erlaubte Russland einen Überflug der Ukraine über seine südwestliche Grenzregion. Ein weiterer Flug der USA über die ukrainische Grenzregion mit Russland folgte im Mai. Im Juni 2014 wurde jedoch eines der beiden ukrainischen OH-Flugzeuge bei einem Einsatz außerhalb des Vertrags über Slowiansk abgeschossen.

In der Folge wurden weitere OH-Flüge in der Nähe und über dem unmittelbaren Kampfgebiet ausgesetzt. Dennoch wurden zwischen März und August 2014 insgesamt 22 reguläre Flüge des OH-Vertrags (von insgesamt 35 erfolgreichen Überflügen über Russland und Belarus in 2014) über Russland durchgeführt, die sich vor allem auf den Südwesten und die Grenzregion zur Ukraine konzentrierten. Schließlich nutzten die USA gemeinsam mit Großbritannien, Kanada, Frankreich, Deutschland und Rumänien nach dem militärischen Zusammenstoß von russischen und ukrainischen Schiffen in der Straße von Kertsch im Dezember 2018 einen OH-Flug, um ihre politische Solidarität mit der Ukraine zu unterstreichen.

Die Annexion der Krim hat jedoch dazu geführt, dass die militärischen Anlagen und Stützpunkte auf der Halbinsel mittlerweile weder im Rahmen des WD noch des OH-Vertrags berücksichtigt werden. Zwar lud Russland bereits im Mai 2014 zu Überflügen ein, designierte später auch einen Betankungsflughafen in Sewastopol, und erweiterte den eigenen Anwendungsbereich des Wiener Dokuments auf die Halbinsel. Doch bisher hat kein OSZE-Mitglied von diesen Möglichkeiten Gebrauch gemacht. Eine Überprüfung und die Durchführung von Inspektionen und Überflügen würden indirekt die Zugehörigkeit der Krim zu Russland legitimieren.

Gegenwärtige Herausforderungen und Perspektiven

Die Schwierigkeiten bei der Anwendung dieser VSBM gehen allerdings über die bestehenden Status- und Territorialkonflikte im post-sowjetischen Raum hinaus. Denn ähnlich wie im Fall des KSE-Vertrags sind auch die Bestimmungen des WD veraltet und reformbedürftig. Neben den politischen Regelungen zur Risikominderung nach Kapitel III stehen hier vor allem die Maßnahmen zur Ankündigung und Beobachtung militärischer Aktivitäten im Mittelpunkt (Kapitel IX). Gegenwärtig müssen militärische Übungen ab einer Beteiligung von 9000 Mann mindestens 42 Tage vor Beginn schriftlich angekündigt werden. Erreicht die Anzahl der Teilnehmer 13000 Mann, sind die durchführenden Staaten verpflichtet, die Militäraktivitäten von Dritten beobachten zu lassen.

Seit Ende des Kalten Krieges werden diese Schwellenwerte jedoch kaum erreicht. Die derzeitig gültigen Werte (für Truppenstärken und Kampfpanzer) stammen noch aus dem Jahr 1992. Zusätzlich müssen Ankündigungen und Beobachtungen nur dann erfolgen, wenn die Aktivitäten den beteiligten Truppen zuvor bekannt gegeben wurden und diese unter einheitlicher Führung im Anwendungsgebiet stehen. Die größte Anzahl an Ankündigungen und Beobachtungen entfallen deshalb heute auf freiwillige Zugeständnisse, auf die sich die Mitgliedstaaten im FSK der OSZE einigen konnten.

Sowohl eine deutliche Absenkung der Schwellenwerte als auch das Schließen der genannten Lücken werden seit vielen Jahren diskutiert. Aus Sicht der NATO unterwandert Russland mit kurzfristig angesetzten Überprüfungen der Gefechtsfähigkeit (snap exercises ) und der bewussten Aufteilung von strategischen Großübungen mit einigen zehntausend Mann gezielt die vereinbarten Beobachtungs- und Inspektionsmöglichkeiten. Gleichzeitig ist Russland derzeit an einer Reform des Dokuments immer weniger interessiert.

Auf der letzten Sitzung des FSK zur Neuauflage des WD im Jahr 2016 erteilte Moskau einer Reform eine klare Absage. Begründet wird diese Haltung mit der Abschreckungspolitik der NATO gegenüber Russland und den Beschlüssen zur Stärkung der Präsenz im Baltikum. Eine Modernisierung des WD könne nur erfolgen, wenn die NATO russische Interessen respektiere und in den Beziehungen zu einem status quo ante 2014 zurückkehre. Diese Haltung offenbart auch einen grundsätzlichen Unterschied zwischen NATO und Russland. Während westliche Staaten über technische Lösungen eine Stabilisierung der politischen Verhältnisse erreichen wollen, insistiert Moskau auf einer politischen Lösung und macht davon die technische Umsetzung der VSBM abhängig. Mittlerweile scheinen aber auch die USA im Zeichen der neuen Großmächtekonkurrenz eine politische Herangehensweise zu bevorzugen.

Die Situation beim OH-Vertrag verdeutlicht dies. Im Mai 2020 kündigten die USA ihren Austritt an. Dieser wird Ende November rechtskräftig. Als Gründe für den Rückzug werden zwar vor allem russische Vertragsverstöße genannt, darunter eine Fluglängenbegrenzung von 500 Kilometern über dem Gebiet Kaliningrad und das Verbot von Überflügen in einem zehn Kilometer breiten Korridor an der Grenze zu den von Russland als souverän anerkannten georgischen Gebieten Abchasien und Südossetien.

Doch die derzeitige US-Administration hat auch grundsätzliche Vorbehalte gegen die Beobachtung amerikanischen Territoriums und die Beteiligung an multilateralen Verträgen. Demgegenüber wollen die weiteren 33 Mitgliedsstaaten den Vertrag fortführen. Im Oktober 2020 einigte man sich auf die Verteilung der Überflüge für 2021. Ohne die Möglichkeit, Überflüge über die USA durchzuführen, ist der langfristige Verbleib Russlands im Vertrag jedoch ungewiss, zumal Moskau die NATO-Staaten verdächtigt, Daten, die in Zukunft bei Überflügen über Russland gesammelt werden, auch nach einem Austritt der USA an Washington weiterzugeben.

Angesichts dieser multidimensionalen Krise der Rüstungskontrolle und militärischen Vertrauensbildung hat Deutschland im Rahmen seines OSZE-Vorsitzes bereits im August 2016 einen Strukturierten Dialog angeregt. Dieser soll es ermöglichen, zusätzlich zu den bestehenden Formaten einen Austausch über die Wiederbelebung kooperativer Sicherheitspolitik zu führen. Statt um die völlige Neugestaltung der Rüstungskontrollarchitektur in Europa geht es jedoch erst einmal um die Schaffung von Gesprächsvoraussetzungen. Der Austausch konzentriert sich deshalb auf Risikowahrnehmungen, Militärdoktrinen und die Wirksamkeit der VSBM innerhalb einer informellen Arbeitsgruppe (IWG). Bisher konnten sich die teilnehmenden Staaten jedoch nicht auf gemeinsame, substanzielle Positionen einigen.

Schluss

Eine Erneuerung der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa wird nunmehr seit mehr als zehn Jahren von der Expertenwelt angemahnt. Sie ist jedoch unter den gegebenen politischen Bedingungen kaum möglich, obwohl es nicht an technischen Lösungsvorschlägen mangelt. Die Alternative, über VSBM militärische Transparenz zu gewährleisten, hat bisher nur zum Teil zum Erfolg geführt – auch deshalb, weil der politische Grundkonflikt bestehen bleibt. Allein eine Flucht in die präventive Rüstungskontrolle, die neue Technologien zu regulieren sucht, wird daran wenig ändern.

Die europäische Sicherheitspolitik ist in diesem Rahmen auch weiterhin von der Entwicklung der bilateralen Beziehungen zwischen Russland und den USA auf globaler Ebene abhängig. Denn für Russland ist die NATO vor allem ein Vehikel der US-Militärpolitik und der amerikanischen politischen Hegemonie. Rüstungskontrolle und militärische Vertrauensbildung sind aus dieser Perspektive nur dann sinnvoll, wenn sie unter dem Gesichtspunkt strategischer Gegnerschaft einen Vorteil versprechen oder helfen, die Bewegungsfreiheit von US-Verbänden einzuschränken oder über diese zumindest größere Transparenz herzustellen. Die Zukunft der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa wird lernen müssen mit diesem Ansatz umzugehen.

Bibliografie



Fussnoten

Dr. Alexander Graef ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH). Er forscht zur konventionellen Rüstungskontrolle in Europa und zu Themen der russischen Sicherheits- und Militärpolitik.