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Analyse: Urbaner Aktivismus in Russland: "gewöhnliche" Bürger:innen, erfahrene Aktivist:innen und Gründe für vorsichtigen Optimismus | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Urbaner Aktivismus in Russland: "gewöhnliche" Bürger:innen, erfahrene Aktivist:innen und Gründe für vorsichtigen Optimismus

Anna Zhelnina St. Petersburg) Anna Zhelnina (Institut für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften

/ 12 Minuten zu lesen

Russ:innen zeigen kein Interesse an der Politik. Dieses Vorurteil ist weit verbreitet. Doch besonders in den großen Städten Russlands engagieren sich Bürger:innen in lokalen Initiativen.

Probleme auf städtischer Ebene sind der häufigste Grund, dass Russ:innen kollektiv aktiv werden. Sie mobilisieren noch stärker als wirtschaftliche und sozialpolitische Probleme. (© picture-alliance/dpa)

Zusammenfassung

Der Mythos von der politischen Passivität der Russ:innen ist überraschend langlebig, trotz vielzähliger Belege für das Gegenteil, und zwar sowohl auf nationaler wie auch auf lokaler Ebene. Der Beitrag befasst sich mit lokalem Aktivismus in den großen Städten Russlands. Dieser Typ des Aktivismus erfährt in den landesweiten Medien zwar weniger Aufmerksamkeit, doch sind es gerade die Versuche der Städter:innen, vor Ort gemeinsam ihr Leben zu gestalten und bei der Sanierung, Umgestaltung oder Neuentwicklung städtischer Flächen, die für die Nachhaltigkeit der Zivilgesellschaft eine zentrale Rolle spielen, eine Wahrung ihrer Interessen zu verlangen. Durch eine Beteiligung an lokalen Initiativen erwerben Städter:innen neue Fähigkeiten; darüber hinaus erzeugen sie neue politische Identitäten und soziale Verbindungen.

Proteste haben oft urbanen Charakter

Urbane soziale Bewegungen nehmen in der Politikwissenschaft und der Soziologie einen sonderbaren Platz ein. Sie sind als Forschungsprojekt beliebt, doch berücksichtigen Wissenschaftler:innen nicht immer ihren urbanen Charakter. Bisweilen halten sie lokale Proteste gar für nicht ausreichend "politisch" oder für zu geringfügig. Gleichzeitig hat der Umstand, dass diese Bewegungen und Initiativen aus dem Alltag der Städter:innen oder wegen städtischer Räume entstehen, die buchstäblich unweit des eigenen Heimes und den Stadtzentren liegen, einen erheblichen Einfluss auf das Mobilisierungspotenzial, auf ihre Zusammensetzung wie auch auf den Charakter ihrer sozialen und politischen Folgen.

Studien zu urbanen sozialen Bewegungen in unterschiedlichen nationalen und kulturellen Kontexten liefern regelmäßig Belege, dass Städter:innen gerade im Format konkreter lokaler Initiativen lernen, Instrumente der Bürgerpartizipation einzusetzen, und Aktivist:innennetzwerke aufzubauen, die nach Ende des jeweiligen Konflikts aktiv bleiben; ebenso entwickeln sie neue politische Identitäten und Sinnzusammenhänge. Im Kontext autoritärer Regime, in denen politische Partizipation mit einer Reihe Risiken verknüpft ist, kann lokaler Aktivismus das einzige annehmbare Format darstellen, in dem Bürger:innen ihre Forderungen vorbringen können. Städter:innen können lokale Konflikte als aufgenötigt wahrnehmen, weil sich die Mobilisierung oft aus Fragen ergibt, die in das Alltagsleben eingebettet sind und starke emotionale Reaktionen hervorrufen. Schließlich können die zivilgesellschaftlichen Fertigkeiten und Kontakte, die im Zuge urbaner Konflikte gewonnen werden, in andere Politikbereiche übertragen werden und damit die Grundlage für zivilgesellschaftliche Infrastrukturen bilden.

Unter den Bewegungen und Protesten in Russland nehmen urbane Konflikte einen bedeutenden Platz ein. Nach Berechnungen des Politologen Andrej Semjonow sind auf städtischer Ebene angesiedelte Fragen der häufigste Grund, dass Russen kollektiv aktiv werden. Sie mobilisieren noch stärker als wirtschaftliche und sozialpolitische Probleme oder Fragen des politischen Regimes. Das Team des Forschungsprojektes "Mechanismen des Interessenausgleichs bei Prozessen der Stadtraumentwicklung" (Externer Link: http://urbanconflictsrussia.ru/) hat auf der Grundlage einer eigens geschaffenen Sammlung von Medienpublikationen aus den Jahren 2012 bis 2016 über 8.000 Konflikte im Zusammenhang mit Stadtraumentwicklung identifiziert. Unter diesen Konflikten waren besonders häufig Proteste der städtischen Bevölkerung gegen Infrastrukturprojekte (24 %), gegen eine verdichtende Bebauung (23 %) und den Bau von Erholungsgebieten (21 %), was zusammen zwei Drittel der von uns analysierten Fälle ausmacht.

In den meisten Fällen, in denen es zu Meinungsverschiedenheiten und Protesten kam, betrafen die Konflikte Räume, die mit dem städtischen Alltag verbunden und Teil des Umfelds der städtischen Bevölkerung waren (Wohn- und Erholungsgebiete sowie Orte für Handel und Dienstleistungen). Das Besondere vieler dieser sozialen Bewegungen besteht darin, dass sie Menschen anziehen, die keine Erfahrung mit zivilgesellschaftlichem Widerstand haben, die erstmals als Akteure im politischen Bereich in Erscheinung treten und neue Aktivist:innennetzwerke errichten sowie ein neues Repertoire an Instrumenten für die politische Auseinandersetzung schaffen.

Formale und informelle zivilgesellschaftliche Infrastrukturen

Bürgerschaftliche Partizipation, zu der auch kollektives Handeln aus Anlass von Maßnahmen zur Stadtentwicklung gehört, erfordert nicht nur Motivation von Seiten der Bürger:innen, sondern auch eine bestimmte Infrastruktur, nämlich Regeln, Ressourcen und Plattformen zur Interaktion, mit deren Hilfe die Akteure versuchen können, ihre Ziele zu erreichen. Die Infrastrukturen, über die die städtische Bevölkerung in Verhandlungs- und Entscheidungsprozesse eingebunden wird, können als zivilgesellschaftliche Infrastrukturen bezeichnet werden.

Gemäß der russischen Gesetzgebung steht den Bürger:innen des Landes eine ganze Bandbreite formaler, juristisch verankerter Instrumente der Partizipation zur Verfügung, die als formale zivilgesellschaftliche Infrastruktur bezeichnet werden können. Hierzu zählen Wahlen, Beteiligung an ehrenamtlichen Organisationen, kommunale Selbstverwaltung, Selbstorganisation und Zusammenarbeit von Wohnraumeigentümer:innen, Bürgerhaushalte usw. Jüngste Studien zur Zivilgesellschaft zeigen, dass die formalen Strukturen durch informelle Netzwerke und Beziehungsstrukturen zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation – also durch informelle zivilgesellschaftliche Infrastruktur – ergänzt oder gar vollständig ersetzt werden. Hierzu gehören informelle Zusammenschlüsse, Netzwerke von Freunden und Bekannten, die sich gleichwohl auf die Schaffung und Bewahrung eines bestimmten allgemeinen Gutes konzentrieren. Ein wichtiges Element der informellen Infrastruktur sind die Bürger:innen selbst – Aktivist:innen und jene, die sie unterstützen –, die eine bestimmte Sicht auf ihren Platz in der städtischen Verwaltung und eine Vision ihrer Rechte und Möglichkeiten haben, auf ihre Umgebung Einfluss zu nehmen.

Die formale und die informelle zivilgesellschaftliche Infrastruktur sind einander nicht entgegengesetzt, sondern stellen vielmehr eine wechselseitige Voraussetzung für das jeweilige Funktionieren dar. So sieht die russische Gesetzgebung die Möglichkeit vor, sogenannte territoriale gesellschaftliche Selbstverwaltungen (russ.: territorialnye obschtschestwennyje objedinenija, TOS ) einzurichten, die über ein recht breites Spektrum von Entscheidungsbefugnissen auf kommunaler Ebene verfügen. Diese formalen gesetzlichen Bestimmungen funktionieren jedoch nicht mit voller Kraft und erlauben es nicht, alle in ihnen angelegten Befugnisse und Möglichkeiten zu realisieren, wenn sie nicht durch informelle Verbindungen in der städtischen Bevölkerung unterfüttert sind. Denn sie sind in einen politischen Kontext eingebettet, der durch fehlendes soziales Vertrauen und Misstrauen gegenüber den Behörden geprägt ist. Darüber hinaus wird auch ein formal verankertes und obligatorisches Element bei Stadtentwicklungsmaßnahmen wie die öffentliche Anhörung oft nur abgehalten, um sie "abzuhaken", nämlich ohne, dass eine vollwertige Informierung der Einwohner erfolgt.

Allerdings können selbst derart formalistische Bühnen durch eine Mobilisierung der städtischen Bevölkerung sowie deren Aktivität mit Sinn gefüllt werden. So können Aktivist:innen sich vorbereiten und ein formales Verfahren wie eine öffentliche Anhörung zu einem umstrittenen Projekt in eine wichtige öffentliche Aktion verwandeln, die die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zieht, und die die für eine Mobilisierung und Bindung neuer Anhänger:innen notwendigen Emotionen erzeugt. Dies gilt auch dann, wenn Beschlüsse der öffentlichen Anhörung nur Empfehlungscharakter haben sollten. Ein anderes Beispiel für eine harmonischere wechselseitige Bereicherung und Untermauerung der formalen und der informellen Infrastruktur von Bürgerpartizipation ist das sich stark entwickelnde Instrument der Bürgerhaushalte. Diese Form der Bürgerbeteiligung ist in vielen Ländern auf Initiative von Graswurzelbewegungen formal verankert worden. In Russland werden insbesondere in St. Petersburg zur Entwicklung und Verankerung der Ideen, die hinter Bürgerhaushalten stehen, urbane Aktivist:innen rekrutiert, die über Erfahrung in der Formulierung von Forderungen oder der Umsetzung städtischer Projekte verfügen.

Unterschiede zwischen den Städten

Ein großer Teil der formalen Instrumente zur Bürgerbeteiligung wird in Russland durch die Gesetzgebung auf föderaler Ebene geregelt, beispielsweise durch die Gesetzbücher für den Städtebau und das Wohnungswesen, die in allen Regionen des Landes gelten. In jeder Stadt bilden sich jedoch einzigartige Konfigurationen von Akteur:innen und Plattformen heraus, auf denen sich die Zusammenarbeit zur Stadtentwicklung entwickelt. Jede Stadt hat ihre eigene Konfiguration informeller Beziehungen und zivilgesellschaftlicher Infrastrukturen, die sich erheblich darauf auswirken können, wie die städtische Politik verfolgt wird und Konflikte in der Stadt gelöst werden.

Im Rahmen des Forschungsprojektes "Mechanismen des Interessenausgleichs bei Prozessen der Stadtraumentwicklung" wurde in Ergänzung zur statistischen Erfassung urbaner Konflikte die Situation in sechs russischen Millionenstädten analysiert, nämlich in Moskau, St. Petersburg, Kasan, Nischnij Nowgorod, Samara und Nowosibirsk. Eine tiefgreifende Analyse von Medienberichten sowie Interviews mit jenen, die an urbanen Konflikten beteiligt waren (sowohl mit Aktivist:innen wie auch mit Vertreter:innen der Verwaltung und von Stadtentwicklungsunternehmen), haben es uns erlaubt, in jeder der sechs Städte den spezifischen Aufriss der städtischen politischen Arena zu erkennen.

Eines der interessanten Merkmale der Transformationsprozesse in jeder der Städte steht mit den jeweiligen Initiator:innen umstrittener Projekte in Verbindung. So wurden beispielsweise in Moskau in 23 der 44 von uns analysierten Fälle die Projekte, die zu den Protesten führten, von Bürokrat:innen vorangetrieben. Gleichzeitig drehten sich in St. Petersburg die meisten der untersuchten Konflikte um Projekte von Unternehmen (27 von 44). In Moskau hatte die Nähe des Zentralhaushalts und der Entscheidungszentren Einfluss auf die Dimensionen der Projekte und die Aggressivität, mit der die Initiator:innen vorgingen. In diesem Fall können wir von dem wohlbekannten Phänomen sprechen, dass unternehmerische Strukturen mit den Behörden verwachsen. Diese Konfiguration starker Akteur:innen, die ein Projekt vorantreiben, erschwert stark die Arbeit von Aktivist:innen oder blockiert gar gänzlich jegliche Versuche der Bevölkerung, in irgendeiner Weise Einfluss auf den Gang der Ereignisse zu nehmen. Bei den Interviews haben erfahrene Moskauer Aktivist:innen diese Konstellation oft erwähnt und dabei betont, dass Korruption und informelle Absprachen der Moskauer Bürokrat:innen die Erfolgsaussichten der Aktivist:innen stark reduzieren. Interessanterweise wurde dieses Thema in St. Petersburg seltener angesprochen, da dort Vertreter:innen der Verwaltung weniger häufig als Hauptinitiator:innen umstrittener Projekte in Erscheinung traten. Allerdings können wir dort ein informelles Interesse der Bürokrat:innen an Projekten natürlich auch nicht ausschließen.

Der Unterschied zwischen der Verstrickung von Bürokrat:innen in Projekte zur städtischen Transformation in Moskau und in St. Petersburg schafft für Versuche von Aktivist:innen, auf den Gang der Ereignisse einzuwirken, einen wichtigen Kontext. In Moskau ist es viel schwieriger, sich den Vertreter:innen der Bürokratie entgegenzustellen: Unseren Daten zufolge wird der überwiegende Teil der Projekte, die von Bürokrat:innen initiiert oder unterstützt werden, unverändert umgesetzt. Unsere Gesprächspartner:innen meinten auch, es sei in Moskau mit Bauherren einfacher, die mit lokalen Aktivist:innen und Abgeordneten in einen Dialog treten, als mit Vertreter:innen der städtischen Behörden, die in der Meinung der Bevölkerung vor Ort praktisch taub seien. Im Vergleich hierzu sind in St. Petersburg Projekte, die von Bürokrat:innen vorangetrieben wurden, in mehreren Fällen aufgrund von Forderungen der Bürger:innen aufgegeben oder stark modifiziert worden.

Folgen von Mobilisierung

Neben dem Mythos von der Passivität der Russ:innen ist auch die Vorstellung recht verbreitet, dass Proteste in Russland sinn- und wirkungslos seien. Aus unseren Daten geht jedoch hervor, dass lokale Proteste Ergebnisse zeitigen können, nämlich die Aufgabe oder wenigstens eine erhebliche Modifizierung eines umstrittenen Projekts (in rund der Hälfte der Fälle). In 30 Prozent der analysierten Fälle wurde das angekündigte Projekt, das für den Unmut der Bürger:innen gesorgt hatte, unverändert umgesetzt, und in 13 weiteren Prozent der Fälle wurden kleinere Veränderungen vorgenommen. Gleichzeitig wurden in 29 Prozent der Fälle Projekte gänzlich aufgegeben und in 16 Prozent der Fälle erheblich verändert (z. B. an einen anderen Ort verlegt, in der geplanten Bauhöhe geändert usw.).

Hier lässt sich auch der Unterschied zwischen den verschiedenen städtischen Kontexten feststellen. Bei einem Vergleich von Moskau und St. Petersburg wiederum können wir erkennen, dass die städtischen Proteste in St. Petersburg öfter etwas erreicht haben als die in der Hauptstadt. In Petersburg wurde die Hälfte der Projekte aufgegeben, ein weiteres Drittel wurde modifiziert. In Moskau ist die Situation spiegelverkehrt: Fast die Hälfte der Projekte wurde hier unverändert umgesetzt. Eine der möglichen Erklärungen liegt in der Menge der Ressourcen, auch der finanziellen, die bei Sanierungs- oder Entwicklungsprojekten eingesetzt werden. Relevant ist hier auch der Umstand, dass die Beamt:innen in Moskau über starke Machthebel verfügen, und dass bei den Transformationsprojekten in der Hauptstadt auch Akteur:innen der föderalen Ebene involviert sind.

Aber auch die Charakteristika der zivilgesellschaftlichen Akteur:innen sollten nicht ignoriert werden. So zeigt unsere Analyse, dass auch die Eigenheiten der zivilgesellschaftlichen Infrastruktur von Bedeutung sind. Eine interessante Besonderheit der Proteste in St. Petersburg bestand darin, dass sich ihnen in dem von uns untersuchten Zeitraum oft eine breite Koalition von Akteur:innen anschloss: Vertreter:innen verschiedener gesellschaftlicher Organisationen und Aktivist:innen-Netzwerke schließen sich zusammen, um die Protestierenden bei einer konkreten Auseinandersetzung zu unterstützen, sie mit einflussreichen Abgeordneten zusammenzubringen, die in diese Netzwerke involviert sind, und die Richtung des Vorgehens zu weisen. In Moskau gehen die Bewohner:innen öfter selbständig vor oder suchen bestenfalls die Hilfe engagierter Aktivist:innen unter den lokalen Abgeordneten.

Man kann davon ausgehen, dass es in St. Peterburg eine besondere Geschichte der Verteidigung der städtischen Struktur gibt, die die Grundlage für eine lebendige und engagierte zivilgesellschaftliche Infrastruktur geschaffen haben. Hierzu gehören lange, ausgedehnte Proteste gegen den Abriss historischer Gebäude und Neubauten im Stadtzentrum, aber auch die Verbindungen zwischen den Menschen und auch öffentliche Ressourcen, derer sich beginnende Aktivist:innen bedienen können, beispielsweise Gruppen und Seiten in sozialen Netzwerken. Bei den von uns untersuchten Fällen in St. Petersburg – dem Kampf gegen eine Bebauung des Malinowka-Parks, gegen den Abriss des Umspannwerks Nr. 11 (" Blokadnaja podstanzija "), dem Konflikt um die Westtangente (einer gebührenpflichtigen Autobahn) – sind die wichtigsten Aktivist:innen vor den Protesten miteinander bekannt gewesen, was die Mobilisierung beschleunigte und die Zusammenarbeit erleichterte. Darüber hinaus fechten erfahrene Aktivist:innen und Expert:innen umstrittene städtebauliche Projekte ohne Beteiligung der "einfachen" Bevölkerung vor Ort an, insbesondere im Bereich der Wahrung des historischen Erbes.

In Nischnij Nowgorod ermöglicht ebenfalls die Präsenz eines dichten Netzwerks aus Aktivist:innen und Expert:innen, die für die Bewahrung des historischen Erbes in der Stadt eintreten, dass sie auf entstehende Gefahren für die historische Bausubstanz schnell reagieren können. Allerdings trifft in Nischnij Nowgorod der Schutz historischer Gebäude vor dem Abriss – anders als die viel aufsehenerregenden ökologischen Probleme – nicht immer auf das gleiche Verständnis und die Unterstützung der "gewöhnlichen" Bevölkerung; ohne diese Unterstützung wird sogar die Arbeit derart aktiver, engagierter zivilgesellschaftlicher Netzwerke erschwert. Diskurse, Vorstellungen, Werte und anderen Elemente der Weltanschauung stellen ebenfalls ein notwendiges Instrument der Bürgerbeteiligung dar. Im Unterschied zu St. Petersburg, wo das Bewusstsein über den Wert des historischen Erbes recht verbreitet ist, haben Aktivist:innen in Nischnij Nowgorod in Gesprächen hervorgehoben, dass die Einwohner:innen ihrer Stadt historische Gebäude eher als "Krempel" betrachten, denn als Werte.

Alle diese Merkmale – das Bestehen von Aktivist:innen-Netzwerken, öffentlichen Plattformen zum Austausch von Nachrichten und Erfahrungen, das Kursieren bestimmter Werte und Ideen im städtischen Diskurs – sind für den Erfolg urbaner sozialer Bewegungen von grundsätzlicher Bedeutung. Sie sind allerdings auch ein potenzielles Resultat lokaler Initiativen. Immer wenn es zu einer Mobilisierung kommt, selbst wenn die Protestierenden ihre unmittelbaren Ziele nicht erreichen, ändert das vieles: Die Beteiligten lernen sich kennen, begegnen erfahrenen Aktivist:innen und sympathisierenden Politiker:innen und stellen fest, welche Vorgehensweisen mehr bzw. weniger wirksam sind. Wichtig ist auch, dass im Zuge der Mobilisierung auch neue Werte, Ideen und soziale und politische Identitäten entwickelt werden können.

Durch diese Effekte der Beteiligung an einem gemeinsamen Vorgehen können selbst Aktionen, die nicht zum Erfolg führen, die Grundlage für ein wirksameres Vorgehen in der Zukunft legen. Gewöhnlich heben Aktivist:innen die Bedeutung von solchen prägenden Momenten hervor, die für sie einen Wendepunkt markieren. So meinten beispielsweise unsere Gesprächspartner:innen in Moskau, ein Beispiel für einen solchen Wendepunkt sei der aktive und erfolgreiche Kampf gegen die Demontage des Schuchow-Turms 2014 gewesen. Der hatte den Behörden und den Baufirmen gezeigt, dass eine Attacke auf Objekte des historischen Erbes sich zu einem langwierigen und ressourcenfressenden Ringen mit den Bürger:innen wandeln kann.

Betrachtet man die Entwicklung des urbanen Aktivismus in den Städten Russlands, lässt sich ein allmähliches Anwachsen zivilgesellschaftlicher Infrastruktur feststellen: Erfahrung und Kenntnisse in den Reihen der Aktivist:innen, Aktivist:innen-Netzwerke und gesellschaftlichen Organisationen haben zugenommen. Es sind Werte und Diskurse entstanden, die für die Partizipation der Bürger:innen an der städtischen Politik unabdingbar sind. Darüber hinaus hat eine Protestaktivität in der Stadt Einfluss auf das Verhalten der Behörden, die dann bei der Planung der Stadtentwicklung beginnen, aufgrund der bisherigen Erfahrungen das Widerstandspotenzial zu berücksichtigen. Manchmal "treffen" sich formale und informelle zivilgesellschaftliche Infrastruktur und ergänzen einander auf konfliktfreie Weise. Öfter jedoch müssen die Menschen in der Stadt viel Arbeit leisten und um ihre Rechte kämpfen, damit sie erhört werden.

Der Beitrag stützt sich auf Materialien des Forschungsprojektes "Mechanismen des Interessenausgleichs bei Prozessen der Stadtraumentwicklung" (Externer Link: http://urbanconflictsrussia.ru/).

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

Lesetipps

Fussnoten

Anna Zhelnina ist promovierte Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften – Filiale des Föderalen soziologischen Forschungszentrums der Russischen Akademie der Wissenschaften.