Analyse: Russlands Geografie und die Ausbreitung von Covid-19
Tatjana MichajlowaTatjana Michajlowa (Moskau)
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Das Coronavirus hat sich in Russland nicht gleichmäßig ausgebreitet. Das liegt an den Entfernungen, sowie an den wirtschaftlichen Strukturen. Es zeigt sich, dass wohlhabende Regionen anfälliger sind.
Zusammenfassung
Das Covid-19-Virus breitete sich auf dem riesigen Territorium Russlands nicht gleichmäßig aus. Die Regionen wurden nach und nach von mehreren Wellen der Pandemie erfasst, wobei lokale Ausbrüche zu unterschiedlichen Zeiten in verschiedenen Regionen auftraten. Covid-19 verbreitet sich durch persönliche Kontakte. Daher hing die Geschwindigkeit, mit der sich die Pandemie in Russland von Region zu Region ausbreitete, von der Intensität der persönlichen Kontakte zwischen den Bewohner:innen der russischen Regionen ab. Dies wird sowohl von der physischen Geografie (Entfernung) als auch von der Wirtschaftsgeografie (Verkehrsanbindung und Struktur der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Regionen) beeinflusst. Der Artikel untersucht, inwiefern die Dynamik der Ausbreitung von Covid-19 in Russland durch die Mobilität der Bevölkerung, die Geografie der Migration, das Niveau der wirtschaftlichen Entwicklung und Integration der Region und andere regionale Merkmale erklärt werden kann.
Die anfängliche Verbreitung von Covid-19 in Russland: Prognosen und vorläufige Einschätzungen
Das Covid-19-Virus ist nicht aus China nach Russland gekommen. Die Grenze zu China wurde schnell geschlossen, und die chinesischen Grenzgebiete zu Russland waren zu diesem Zeitpunkt nicht vom Virus befallen. Covid-19 kam mit den Reisenden, die aus Europa zurückkehrten, nach Russland. Daher waren die ersten Gebiete, in denen die Pandemie begann und von denen aus sie sich über das russische Staatsgebiet ausbreitete, Moskau und die nächstgelegenen Vororte von Moskau. St. Petersburg, ebenfalls ein Drehkreuz des internationalen Flugverkehrs, wurde etwas später als Moskau von der Viruswelle erfasst. In allen anderen Regionen breitete sich das Virus ausgehend von den beiden Hauptstädten aus.
Im April 2020 sagten Michele Valsecchi und ich auf Grundlage der italienischen Erfahrungen voraus, dass Covid-19 zusammen mit der Migration von Rückkehrer:innen aus Moskau in die russischen Regionen kommen würde. Moskau ist ein starker Anziehungspunkt für Arbeitsmigrant:innen. Die Löhne sind höher und die Arbeitslosigkeit ist in der Hauptstadt gering. Viele Bewohner:innen russischer Regionen finden in Moskau Arbeit und mieten eine Wohnung. Dennoch behalten sie ihre Wohnungen und Häuser und lassen ihre Familien in ihrer Heimatregion. Die auswärtigen Studierenden leben für die Dauer ihres Studiums in Moskau, halten aber auch Kontakt zu ihrem Elternhaus. Als aufgrund der Quarantänemaßnahmen viele Unternehmen ihren Betrieb einstellten und Bildungseinrichtungen auf Distanzunterricht umstellten, begannen diese temporären Bewohner:innen der Hauptstadt, in ihre Heimatregionen zurückzukehren. Unsere Prognose aus dem vergangenen Jahr war, dass mit diesen Rückkehrer:innen auch das Covid-19-Virus in die Regionen gebracht werden würde.
Diese Vorhersage erwies sich als richtig. Im Frühjahr 2020 schritt die Epidemie vor allem in jenen Regionen schneller voran, aus denen die Migration nach Moskau in den vergangenen 20 Jahren am intensivsten gewesen war. Durch die Schätzung einer einfachen Regression zwischen der Anzahl der Covid-19-Fälle pro Kopf in der Region zum 05. Mai 2020 und der Entfernung zu Moskau sowie der Anzahl der Migrant:innen erhalten wir eine Elastizität von 54 Prozent für die Anzahl der Fälle zur Anzahl der Migrant:innen (Ein Anstieg der Anzahl der Migrant:innen um ein Prozent führt bei gleichen Bedingungen zu einem Anstieg der Anzahl der Covid-19-Fälle um 54 Prozent, Anm. der Redaktion).
Wichtig zu verstehen ist hierbei, dass die Migration zwischen Moskau und anderen Regionen Russlands hier nicht nur die Anzahl der Menschen misst, die von einem Ort an einen anderen ziehen. Migration dient hier als Proxy-Variable für die Intensität aller Beziehungen zwischen Menschen. Wenn die registrierte Migration zwischen Regionen intensiv ist, dann gibt es mehr familiäre Beziehungen, geschäftliche Kontakte, Tourismus, private Reisen und andere Kontakte zwischen Menschen aus diesen Regionen. Die Migrationsintensität ist somit ein Indikator für die wirtschaftliche und soziale Integration der Regionen. Je stärker die Regionen integriert sind, desto schneller verbreitet sich das Covid-19-Virus und desto ähnlicher ist die Dynamik der Pandemie in den verschiedenen Regionen.
Statistische Indikatoren der Ausbreitung von Covid-19 in den russischen Regionen
Leider ist seit Mai 2020 die Statistik über die Anzahl der Covid-19-Fälle in den russischen Regionen unzuverlässig geworden. Es ist unmöglich, anhand der offiziellen Statistiken der Aufsichtsbehörde Rospotrebnadsor die Dynamik der Pandemie oder Unterschiede in der Verbreitung des Virus zwischen den Regionen zu beurteilen. Deshalb haben sich Forscher:innen alternativen Indikatoren zugewandt. Der zuverlässigste Indikator für die Anzahl der Fälle ist die Übersterblichkeit. Die Daten zeigen, dass die Covid-19-Sterblichkeitsrate zwischen den Ländern für Kohorten von Menschen gleichen Alters nicht sehr unterschiedlich ist. Die länderübergreifenden Unterschiede in der Sterblichkeit sind hauptsächlich auf die Altersstruktur der Bevölkerung und die Verteilung des Virus innerhalb dieser Alterskohorten zurückzuführen. Daher ist es möglich, durch den Vergleich der Übersterblichkeit in den russischen Regionen in den jeweiligen Monaten des Jahres 2020 Rückschlüsse auf die Dynamik der Pandemie zu ziehen. Die Statistik der Übersterblichkeit in russischen Regionen wurde von dem Demografen Aleksej Rakscha sowie den Statistikern Ariel Karlinsky und Dmitry Kobak eingehend untersucht und diskutiert.
Die Übersterblichkeit als Indikator heranzuziehen hat allerdings auch Nachteile. Erstens hinken die Daten zur Sterblichkeit den Daten zu Infektionen um etwa einen Monat hinterher. Zweitens veröffentlicht die russische Statistikbehörde Rosstat einmal im Monat eine Statistik der Todesfälle in den Regionen, eine kleinteiligere Aufschlüsselung im Zeitverlauf ist für Forscher:innen nicht zugänglich. Der Datenanalyst Aleksandr Dragan schlug deswegen vor, Internet-Suchanfragen nach Schlüsselwörtern im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie als Grundlage heranzuziehen. Wenn eine große Anzahl von Menschen an Covid-19 erkrankt, steigt die Anzahl der Anfragen nach den Begriffen "Geruchssinn verloren" (auf Russisch "propalo obonjanie"), "Lungen-CT" (auf Russisch: "KT legkich") und ähnlichen Wortverbindungen. Durch die statistische Analyse von Suchanfrage in der Suchmaschine Yandex ist es möglich, indirekte, aber dafür zeitnahe Informationen über den Verlauf der Pandemie zu erhalten.
Die Yandex-Suchanfragen erwiesen sich als qualitativ hochwertiger Indikator für die Verbreitung von Covid-19. Die Statistik der Suchanfragen stimmt im Großen und Ganzen recht gut mit der offiziellen Statistik der Todesfälle überein. Aber im Gegensatz zur Übersterblichkeit erlauben uns die Suchanfragen, die Ausbreitung der Pandemie auf einer kleinteiligen Zeitskala zu verfolgen, denn es sind tagesaktuelle Daten mit beliebigem geografischem Zuschnitt verfügbar. In der folgenden Analyse stütze ich mich auf die Yandex-Suchanfragen, die nach den russischen Regionen aufgeschlüsselt sind.
Ich arbeite mit regionalen Tagesdaten des Anteils der Suchanfragen für die Wortverbindung "Geruchssinn verloren" pro eine Million Suchanfragen im Zeitraum 01. März 2020 bis 01. Februar 2021. Die "rohen" Daten wurden wie folgt transformiert: Zunächst wurden die Daten von den wöchentlichen Tagesschwankungen und dem Einfluss von Feiertagen bereinigt. Danach wurden die bereinigten Daten durch einen Filter geglättet, der den gleitenden Mittelwert in einem Zeitraum von 11 Tagen ermittelt. Die endgültige Zeitreihe für ganz Russland ist in Grafik 1 dargestellt. Zum Vergleich zeigt die Grafik auch eine Zeitreihe von monatlichen Daten zur Übersterblichkeit, die der Zeitreihe der Yandex-Suchanfragen mit einer Verzögerung von etwa zwei Monaten folgt.
Im Folgenden nutze ich Daten der Zeitreihe der oben beschriebenen Anteile der Yandex-Suchanfragen in den Regionen Russlands. Die kleinen Regionen Jüdische Autonome Oblast, die Oblast Kamtschatka, die Oblast Magadan, der autonome Kreis der Nenzen, die Republiken Adygea, Altai und Tuwa wie auch Sewastopol und der Autonome Kreis der Tschuktschen wurden von der weiteren Analyse ausgeschlossen, da die Daten über den Anteil der Suchanfragen aufgrund der geringen Gesamtzahl von Suchanfragen zu ungenau sind.
Die Zeitreihen der Suchanfragen für die einzelne Regionen in Grafik 2 zeigen, dass sich die Covid-19-Pandemie in Russland in zwei "Wellen" ausgebreitet hat. Die zweite Welle im Herbst ist offensichtlich mit dem Einsetzen der kalten Witterung und mit der Öffnung der Schulen zu begründen: Fast alle Regionen zeigen einen synchronen Anstieg des Auftretens des Virus zwei Wochen nach dem 01. September, an dem die Schule nach den Sommerferien wieder begann. In diesem Fall waren in allen Regionen die gleichen Faktoren für die gleichzeitige Verbreitung der Pandemie verantwortlich.
Die erste Welle, die im Frühjahr und Sommer 2020 durch die Regionen rollte, sieht jedoch sehr heterogen aus. Verschiedene Regionen erlebten den Ausbruch der Pandemiewelle zu unterschiedlichen Zeiten, wobei einige Regionen anderen nachfolgten. Diese Heterogenität ist es, die die erste Welle für Wirtschaftsgeograf:innen interessant macht. Die primäre Ausbreitung des Virus in Russland wurde durch die physische und wirtschaftliche Geografie des Landes sowie die Struktur der Beziehungen zwischen den Regionen beeinflusst. Im Folgenden werden einige markante Beispiele näher betrachtet.
Die Geografie der Ausbreitung des Covid-19-Virus und interregionale Verbindungen in Russland: eine Analyse auf Grundlage von Yandex-Suchanfragen
Der Verlauf der Pandemie in einer Region wird von mehreren Faktoren gleichzeitig beeinflusst. Erstens ist es wichtig, wann und wie massiv das Virus in die Region eingeschleppt wurde. Wenn die Bewohner:innen der Region mobil sind und häufig reisen (in diesem Fall nach Moskau, wo sich Covid-19 zuerst verbreitete), ist es wahrscheinlicher, dass das Virus schneller in die Region gelangt und die Übertragung in der lokalen Bevölkerung früher beginnt. Dabei spielen die Geografie der russischen Regionen, ihre Verkehrsanbindung und andere Faktoren, die die Intensität der interregionalen Migration und anderer menschlicher Kontakte beeinflussen, die wichtigste Rolle.
Zweitens sind die lokalen Bedingungen für die Virusübertragung von Bedeutung. Wo die Bevölkerungsdichte hoch ist, es einen hohen Grad an geografischer Bevölkerungskonzentration und es eine Tradition von engen Beziehungen innerhalb der Großfamilie gibt, entwickelt sich die Pandemie schneller, da die Menschen in derartig gesellschaftlich strukturierten Regionen mehr persönlichen Kontakt miteinander haben.
Drittens ist das Wetter ein wichtiger Faktor. In den Jahreszeiten, in denen sich das Virus leichter ausbreitet (Frühling, Winter und Herbst), ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass die Einschleppung des Virus eine lokale Pandemiewelle auslöst. Während der heißen Sommermonate ist die Übertragung jedoch weniger intensiv. Eine Pandemiewelle beginnt möglicherweise deswegen erst gar nicht.
Diese drei Gruppen von Faktoren erklären die Geografie der Ausbreitung von Covid-19 in Russland während der ersten Periode.
Die allererste Welle des Virus kam aus Moskau (und in geringerem Maße aus St. Petersburg) in Regionen mit Migrant:innen, die vorübergehend in ihre Heimatregion zurückkehrten. Zwei Gruppen von Regionen zeichnen sich durch intensive Arbeitsmigration nach Moskau aus: Das sind die nächstgelegenen Regionen Zentralrusslands, von denen aus Moskau leicht zu erreichen ist, und die Regionen des Nordkaukasus, wo es aufgrund der demografischen Struktur der Bevölkerung einen Überschuss an jungen, mobilen Arbeitskräften gibt. Die Dynamik der Suchanfragen zeigt, dass in diesen Regionen die erste Welle der Pandemie fast unmittelbar auf den Anstieg der Fallzahlen in Moskau in einem Abstand von lediglich ein paar Wochen folgt.
Grafik 3 zeigt die erste Welle der Pandemie in mehreren Regionen Zentralrusslands. Festzuhalten ist, dass der Trend der Yandex-Suchanfragen "Geruchssinn verloren" in den Oblasten Kaluga, Tula, Kursk, Orjol und Brjansk dem Moskauer Suchanfragenmuster mit einer Verzögerung von etwa drei Wochen folgt. Anfang Mai (während der Ferien, als die Arbeitskontakte zwischen den Menschen zweitweise aussetzten) beginnt ein Rückgang. Man kann sagen, dass die Dynamik der Anfragen in diesen Regionen ein "Echo" des Trends bei Suchanfragen in Moskau darstellt.
Andererseits ist in den Oblasten Belgorod und Woronesch Anfang Mai kein "Echo" zu beobachten. Diese Regionen werden erst Teil der Pandemie, als diese sich im Juni in ganz Zentralrussland ausbreitet. Der Unterschied kann durch das Ausmaß der temporären Arbeitsmigration erklärt werden. Die Oblast Belgorod ist wirtschaftlich wohlhabend, die Arbeitslosigkeit in der Region nicht hoch und die Entfernung zu Moskau bedeutend. Die Zahl der Arbeitsmigrant:innen nach Moskau aus der Oblast Belgorod ist geringer als aus den Nachbarregionen. Das gleiche gilt für die Oblast Woronesch. Ein Vergleich mit der benachbarten Oblast Kursk ist aufschlussreich. Die wirtschaftliche Situation in der Oblast Kursk ist schlechter, die Arbeitsmigration nach Moskau ist daher dort bedeutender. Es ist zu beobachten, dass die Oblast Kursk im Mai einen Ausbruch an Virusfällen aufweist, die ein "Echo" des Moskauer Anstiegs darstellen.
In ähnlicher Weise erhielten eine Reihe von Regionen im Nordwesten Russlands die erste Covid-19-Welle von St. Petersburg, da diese am engsten mit der Stadt als regionalem Wirtschaftszentrum verbunden sind. Es ist erwähnenswert, dass die "Einflusszone" von St. Petersburg geografisch begrenzter ist als die von Moskau, denn es sind insgesamt nur vier nennenswerte Regionen: die Oblaste Archangelsk, Pskow und Nowgorod und die Republik Komi.
Auch die Republiken des Nordkaukasus weisen in der ersten Welle eine unterschiedliche Dynamik auf. Der Anstieg der Suchanfragen in Inguschetien und Dagestan beginnt zwar etwas später als in Moskau, nimmt aber dann rasant zu. In der Tat war die Pandemielage in diesen Republiken Anfang Mai sehr schwierig. Die Regionen des Nordkaukasus haben aufgrund ihrer Demografie einen Überschuss an jungen, mobilen Arbeitskräften. Viele der jungen Leute vor allem aus dem östlichen Teil des Nordkaukasus arbeiten in Moskau und kehren im April nach Hause zurück. Die Tradition enger Familienbande und die hohe Bevölkerungsdichte hat zu "idealen" Bedingungen für die rasende Ausbreitung des Virus geführt. In der Republik Tschetschenien, die eine ähnliche demografische Struktur aufweist, wurden strenge Quarantänemaßnahmen ergriffen, die trotz der frühen Einschleppung des Virus in die Republik einen besonders schnellen Anstieg der Infektionen verhinderten.
Im westlichen Teil des Nordkaukasus hingegen war das "Echo Moskaus" schwächer, und tatsächlich verschlechterte sich die Pandemielage dort erst im Juni und Juli 2020. Dieser Unterschied zwischen dem westlichen und dem östlichen Teil des Nordkaukasus deckt sich vollständig mit den Unterschieden der Migrationsströme dieser Republiken. Die Migration aus dem westlichen Teil des Nordkaukasus nach Moskau ist weniger ausgeprägt, weil es mit der Region Krasnodar ein weiteres regionales Zentrum mit einer günstigen wirtschaftlichen Situation in der Nähe gibt.
Im Rest des Landes folgte die Ausbreitung des Virus in den Regionen dem oben beschriebenen Muster: Die Pandemie begann zuerst dort, wo die Bevölkerung am mobilsten war. Die Mobilität der Bevölkerung korreliert stark mit dem Einkommensniveau und der wirtschaftlichen Entwicklung. Die Bewohner:innen der abgelegenen Regionen wie dem Autonomen Kreis der Chanten und Mansen und der Jamal-Nenzen, der Tschuktschen und der Oblast Sachalin sind am mobilsten, weil die meisten Arbeiter:innen nur monateweise in den Betrieben arbeiten und ansonsten in ihren Heimatregionen leben. Viele Bewohner:innen "rotieren" dorthin und arbeiten mit kurzfristigen Verträgen, oft ohne ihre Familien. Oder sie bleiben für mehrere Jahre mit der Absicht, Geld zu verdienen und danach in Regionen mit einem besseren Klima umzuziehen. Solche Menschen reisen oft und halten Kontakt zu ihren Familien. Infolgedessen waren diese Regionen mit hohem Migrationsanteil unter den ersten, die von der Pandemie betroffen waren.
Die zweite Kategorie von Regionen, die Covid-19 früher erreichte, sind lokale Wirtschaftszentren, die Zugpferde unter den Regionen. Die Bevölkerung der wirtschaftlich gut gestellten Großstädte ist mobiler, ihre Wirtschaft ist stärker mit anderen Regionen und der Außenwelt verflochten. Eine solche Großstadt spielt für ihre Umgebung die gleiche Rolle wie Moskau für das ganze Land. Sie wird zum ersten Ankunftsort und von dort breitet sich das Virus durch Migration, geschäftliche und persönliche Kontakte zwischen den Menschen auf andere Regionen in der Zone ihres wirtschaftlichen Einflusses aus.
Tatarstan wurde so zu einem Epizentrum der lokalen Weiterverbreitung des Virus in der Wolga-Region. Im Frühjahr und Sommer des Jahres 2020 waren zwei bemerkenswerte Ausbrüche des Virus in Tatarstan zu beobachten, nämlich die Covid-19-Ausbrüche in Nabereshnye Tschelny und Kasan. Interessanterweise gibt es unter den Wolgaregionen einige mit einem "Moskauer Echo" (die Republiken Mordwinien und Tschuwaschien sowie die Oblast Pensa) und einige mit einem "Echo aus Tatarstan" (Republik Mari El, Oblast Uljanowsk). Diese Zweiteilung verdeutlicht, mit welchem der Zentren die Regionen tatsächlich durch die Intensität der zwischenmenschlichen Kontakte stärker verbunden sind.
Interessant ist auch, dass die größeren Regionen der Wolga-Region (die Oblaste Samara und Saratow und die Region Perm) im Frühjahr und Sommer 2020 keinen nennenswerten Ausbruch erlebten, denn dort war kein spürbares "Echo" zu beobachten.
Mit zunehmender Entfernung werden die persönlichen und geschäftlichen Beziehungen zwischen den Bewohner:innen verschiedener Regionen schwächer. Wir sehen, dass es in den Regionen Sibiriens und des Urals kein "Echo" der Moskauer Pandemie gab. Es kamen nur wenige Arbeitsmigrant:innen aus Moskau zurück, nicht genug, um eine lokale Welle der Pandemie auszulösen. Erst im Sommer begann die Sterblichkeit zu steigen. Allerdings schlossen sich Regionen mit mobiler Bevölkerung (die aus dem Autonomen Kreis der Chanten und Mansen und dem Autonomen Kreis der Jamal-Nenzen "rotiert") der Welle früher an als andere. Die zweite Kategorie wird also durch große Wirtschaftszentren repräsentiert: Jekaterinburg, Omsk, Nowosibirsk und Krasnojarsk. Die Pandemie erfasst diese Regionen als nächstes. Und erst danach breitet sich Covid-19 auf andere Regionen des Urals und Sibiriens aus, in denen es wahrscheinlich aufgrund des warmen Wetters überhaupt keinen Ausbruch des Virus im Sommer gab.
Das Virus breitete sich im Fernen Osten in etwa mit der gleichen Dynamik aus. Die Regionen erleben keinen Ausbruch des Virus als Folge eines "Echos aus Moskau", denn die Verbindungen zur Hauptstadt sind bei solchen Entfernungen nicht intensiv genug. Die "Spitzenreiter" in der Fallinzidenz sind zunächst die Regionen, in denen große Bauprojekte Arbeiter:innen aus anderen Teilen des Landes anziehen, die wiederum häufig in ihre Heimatregionen "rotieren": Sachalin, die Region Chabarowsk und die Republik Sacha. Nach Beginn des Schuljahres im Herbst bricht die Pandemie in allen Regionen gleichzeitig aus.
Zusammenfassend können wir die Typologie der Regionen mit unterschiedlicher Dynamik der Ausbreitung der ersten Covid-19-Welle auf der Karte in den Karten 1a und 1b auf S. 21 darstellen. Die Karte zeigt deutlich, wie die Regionen durch die "Gravitationszonen" der regionalen Wirtschaftszentren geclustert werden. Das mächtigste Gravitationszentrum ist natürlich Moskau, aber die Hauptstadt ist bei weitem nicht das einzige Zentrum.
Die Ausbreitung der Pandemie verdeutlicht einmal mehr, dass die physische Geografie für die Struktur der wirtschaftlichen und sozialen Kontakte innerhalb eines Landes von Bedeutung ist. Die Mobilität der Bevölkerung, die im Allgemeinen mit dem Einkommensniveau korreliert, macht wohlhabende Regionen anfälliger für die Ausbreitung des Virus. Die Daten bestätigen diesen Zusammenhang eindeutig.
Bibliografie
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Michajlowa T., Walseki M. Wnutrennjaja migrazija i wirus Covid-19 // In: Ekonomitscheskaja politika wo wremena Covid-19. Rossijskaja ekonomitscheskaja schkola, 01. August 2020, S. 26–33. Abrufbar unter: Externer Link: https://news.nes.ru/.
Tatjana Michajlowa ist Ökonomin. Zu ihren Forschungsinteressen gehören die Wirtschaftsgeografie, die Struktur von Wirtschaftsbranchen und die Wirtschaftsgeschichte von Russland und der Sowjetunion. Sie unterrichtete an der Universität Boston in den USA sowie der New Economic School (NES) und der Akademie für Volkswirtschaft und Öffentliche Verwaltung beim Präsidenten der Russischen Föderation (RANEPA) in Moskau.
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