Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Analyse: Russlands Arktis-Strategie bis 2035 – Große Pläne und ihre Grenzen | Russland-Analysen | bpb.de

Russland-Analysen Wirtschaftsmodell und Eliten (25.10.2024) Veränderungen in den Beziehungen zwischen Staat und Unternehmen angesichts des Krieges und der Sanktionen Ranking: Russen auf der Forbesliste der Milliardäre weltweit 2024 Analyse: Rätselhafte Todesfälle in der russischen Elite vor dem Hintergrund des russischen Überfalls auf die Ukraine Chronik: Hinweis auf die Online-Chronik Propaganda / Nawalnyj (19.02.2024) Analyse: It’s fake! Wie der Kreml durch Desinformationsvorwürfe die Diskreditierung von Informationen in ein Propagandainstrument verwandelt Kommentar: Der Kampf um die Deutungshoheit. Deutsche Medien zu Ukraine, Krim-Annexion und Russlands Rolle im Jahr 2014 Von der Redaktion: dekoder-Special "Propaganda entschlüsseln" Kommentar: Erste Gedanken zum Tod und zum Leben Alexej Nawalnys Statistik: Politisch motivierte strafrechtliche Verfolgung in Russland Chronik: 23. Januar – 09. Februar 2024 Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen und Übergangsjustiz (16.12.2023) Analyse: Russland vor Gericht bringen: Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen Dokumentation: Die Brüsseler Erklärung Analyse: Optionen der Übergangsjustiz für Russland dekoder: "Das unbestrafte Böse wächst" dekoder: "Ist es nicht Patriotismus, wenn alle Kinder zu uns gehören?" Chronik: 01. November – 14. Dezember 2023 Getreidehandel in Kriegszeiten / Wasserwege (06.12.2023) Analyse: Russlands Getreideexporte und Angebotsrisiken während des Krieges gegen die Ukraine Analyse: Russland setzt den Getreidehandel als Waffe gegen die Ukraine ein Analyse: Die strategische Bedeutung des russischen Wolga-Flusssystems Chronik: 23. – 29. Oktober 2023 Hat das Putin-Regime eine Ideologie? (15.11.2023) Von der Redaktion: 20 Jahre Russland-Analysen Analyse: Macht und Angst Die politische Entwicklung in Russland 2009–2023 Kommentar: Russlands neuer Konservatismus und der Krieg Kommentar: Chauvinismus als Grundlage der aggressiven Politik des Putin-Regimes Analyse: Verschwörungstheorien und Russlands Einmarsch in die Ukraine Kommentar: Die konzentrischen Kreise der Repression dekoder: Ist Russland totalitär? Chronik: 03. – 20. Oktober 2023 LGBTQ und Repression (30.09.2023) Analyse: Russlands autoritärer Konservativismus und LGBT+-Rechte Analyse: Russlands Gesetz gegen „Propaganda für Homosexualität“ und die Gewalt gegen LGBTQ-Personen Statistik: Gewalt gegen LGBTQ+-Menschen und Vertrauen in Polizei und Gerichte unter LGBTQ+-Menschen in Russland Dokumentation: Diskriminierung von und Repressionen gegen LGBTQ+-Menschen in Russland Kommentar: Wie sehr geht es bei der strafrechtlichen Verfolgung von "Rehabilitierung des Nazismus" um politische Repressionen? Von der Redaktion: Ausstellung: "Nein zum Karpfen" Chronik: 31. Juli – 04. August 2023 Chronik: 07. – 27. August 2023 Chronik: 28. August – 11. September 2023 Technologische Souveränität / Atomschlagdebatte (20.07.2023) Von der Redaktion: Sommerpause, на дачу – und eine Ankündigung Analyse: Die Sanktionen machen sich bemerkbar: Trübe Aussichten für die russische Chipindustrie Analyse: Kann Russlands SORM den Sanktionssturm überstehen? Kommentar: Russisches Nuklearroulette? Die Atomschlagdebatte in der russischen Think-Tank-Fachöffentlichkeit Dokumentation: Die russische Debatte über Sergej Karaganows Artikel vom 13. Juni 2023 "Eine schwerwiegende, aber notwendige Entscheidung. Der Einsatz von Atomwaffen kann die Menschheit vor einer globalen Katastrophe bewahren" Umfragen: Die Einstellung der russischen Bevölkerung zu einem möglichen Einsatz von Atomwaffen Chronik: 13. Juni – 16. Juli 2023 Chronik: 17. – 21. Juli 2023 Wissenschaft in Krisenzeiten / Prigoshins Aufstand (26.06.2023) Kommentar: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine – Ein "Virolog:innen-Moment" für die deutsche Osteuropaforschung? Kommentar: Osteuropaforschung im Rampenlicht: ein Drahtseilakt zwischen Wissenschaft und Aktivismus Kommentar: Ein Moment der Selbstreflexion für Russlandstudien Kommentar: Wissenschaft im Krieg: Die Verantwortung der Regionalstudien und was daraus folgt Kommentar: Verträgt sich politisches Engagement und Wissenschaft? Zur öffentlichen Position des Fachs Osteuropäische Geschichte dekoder: Mediamasterskaja: Wissenschaftsjournalismus – seine Bedeutung und seine Herausforderungen dekoder: Prigoshins Aufstand gegen den Kreml: Was war das? dekoder: Prigoshins Aufstand: eine Chronologie der Ereignisse Chronik: 15. Mai – 12. Juni 2023 Deutschland und der Krieg II / Niederlage und Verantwortung (26.05.2023) Kommentar: Ostpolitik Zeitenwende? Deutschland und Russlands Krieg gegen die Ukraine Kommentar: Deutsche Wirtschaft und der Krieg Kommentar: Deutschland, der Krieg und die Zeit Kommentar: Nach einem Jahr Krieg: Deutschland im Spiegel der russischen Medien Kommentar: Der Ukrainekrieg: Kriegsängste, die Akzeptanz von Waffenlieferungen und Autokratieakzeptanz in Deutschland Umfragen: Die Haltung der deutschen Bevölkerung zum Krieg gegen die Ukraine: Waffen, Sanktionen, Diplomatie Statistik: Bilaterale Hilfe für die Ukraine seit Kriegsbeginn: Deutschland im internationalen Vergleich Notizen aus Moskau: Niederlage Chronik: 24. April – 14. Mai 2023 Auswanderung und Diaspora (10.05.2023) Analyse: Politisches und soziales Engagement von Migrant:innen aus Russland im Kontext von Russlands Krieg gegen die Ukraine Dokumentation: Ukraine-Krieg: Bislang nur wenig humanitäre Visa für gefährdete Russen Statistik: Asylanträge russischer Bürger:innen in Deutschland Analyse: Emigration von Wissenschaftler:innen aus Russland: Kollektive und individuelle Strategien Dokumentation: Schätzungen zur Anzahl russischer Emigrant:innen nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine Chronik: 01. März – 23. April 2023 Sanktionen (27.03.2023) Analyse: Die Wirkung von Krieg und Sanktionen auf Russlands Volkswirtschaft im Jahr 2022 Statistik: Russlands Wirtschaft Analyse: Russische wirtschaftliche Anomalie 2022: Ein Blick aus Unternehmensperspektive Umfragen: Wahrnehmung von Sanktionen durch die russische Bevölkerung Chronik: 01. – 28. Februar 2023 Feminismus / Kriegswahrnehmung / Gekränktes Imperium (13.03.2023) Analyse: Feminist_innen machen in Russland Politik auf eine andere Weise Statistik: Kennzahlen und Indizes geschlechterspezifischer Ungleichheit Analyse: Nicht Befürworter:innen und nicht Gegner:innen: Wie verändert sich bei der Bevölkerung in Russland mit der Zeit die Wahrnehmung des Krieges in der Ukraine? dekoder: Die imperiale Formel ist: Russland hat keine Grenzen Repression und stiller Protest / Die Botschaft des Präsidenten (06.03.2023) Analyse: "Nein zum Karpfen": Stiller Protest im heutigen Russland Dokumentation: Repressionen wegen Antikriegs-Akten in Russland seit 2022 dekoder: Die Schrecken des Kreml Analyse: Ein langer Krieg und die "Alleinschuld des Westens". Präsident Putins Botschaft an die Föderalversammlung am 23. Februar 2023 Kriegsentwicklung / Kirchen im Ukrainekrieg (23.02.2023) Analyse: Unerwartete Kriegsverläufe Analyse: Die Invasion der Ukraine nach einem Jahr – Ein militärischer Rück- und Ausblick Kommentar: Die Unterstützung der NATO-Alliierten für die Ukraine: Ursachen und Folgen Kommentar: Der Krieg und die Kirchen Karte: Kriegsgeschehen in der Ukraine (Stand: 18. Februar 2023) Eliten (16.02.2023) Analyse: Ansichten der russischen Eliten zu militärischen Interventionen im Ausland Analyse: Zusammengeschweißt und gefesselt durch Illegitimität Ranking: Die politische Elite im Jahr 2022 Meinungsumfragen im Krieg (02.02.2023) Kommentar: Sind Meinungsumfragen im heutigen Russland sinnvoll? Kommentar: Diese vier Fragen sollten Sie sich stellen, bevor Sie Meinungsumfragen darüber lesen, was Russ:innen über den Krieg denken Kommentar: Es gibt noch immer keine öffentliche Meinung – der Krieg in der Ukraine und die Diktatur in Russland lassen uns das besser erkennen Kommentar: Die Meinungsumfragen des Lewada-Zentrums auf der Discuss Data Online-Plattform. Zur Diskussion um die Aussagekraft der Daten Kommentar: Telefonische Umfragen im autoritären Russland: der Ansatz von Nawalnyjs Stiftung für Korruptionsbekämpfung Kommentar: Annäherungen an eine Soziologie des Krieges Kommentar: Methodologische Probleme von russischen Meinungsumfragen zum Krieg Kommentar: Befragungen von Emigrant:innen: Herausforderungen und Möglichkeiten dekoder: "Die öffentliche Meinung ist ein Produkt von Umfragen" Dokumentation: Umfragen zum Krieg (Auswahl) Chronik: 01. – 31. Januar 2023

Analyse: Russlands Arktis-Strategie bis 2035 – Große Pläne und ihre Grenzen

Janis Kluge Michael Paul Berlin) Janis Kluge & Michael Paul (Stiftung Wissenschaft und Politik

/ 9 Minuten zu lesen

Russland will bis 2035 die Ressourcen in der Arktis erschließen. Moskau hofft auf eine neue Nördliche Seeroute, die eisfreie Arktis weckt aber auch Sorgen, um die dortigen Staatsgebiete.

Der Schutz der langen arktischen Küste Russlands wurde bislang auch durch die extremen Klimabedingungen gewährleistet, die als natürliche Barriere wirkten. Die Auflösung des »ewigen Eises« bereitet Sorgen. (© picture-alliance/AP, Alexander Zemlianichenko)

Zusammenfassung

Russland hat im Oktober 2020 eine bis 2035 geltende Entwicklungsstrategie für die Arktis beschlossen. Sie spiegelt die Hoffnungen, aber auch die Bedrohungsszenarien wider, die der Kreml mit der fortschreitenden Erwärmung der Arktis verbindet. Die reichlich vorhandenen Rohstoffe, allen voran Gas und Öl, sollen weiter erschlossen, der Bevölkerung bessere Lebensstandards geboten werden. Moskau hofft zudem, mit der Nördlichen Seeroute langfristig eine neue Arterie der Weltschifffahrt etablieren und kontrollieren zu können. Die zusehends eisfreie Arktis weckt in Russland aber auch Sorgen, dass russisches Territorium im Norden auf neuartige Weise verwundbar werden könnte. Diesen Sorgen begegnet es mit dem Wiederaufbau seiner Militärpräsenz. Schließlich will Moskau auch das ökologische Gleichgewicht der Arktis bewahren. Vieles spricht indes dafür, dass zwar die Energiewirtschaft und das Militär in der Region zum Zuge kommen, Gelder für den Umweltschutz und die Unterstützung der Bevölkerung aber weiterhin ausbleiben.Am 26. Oktober setzte Wladimir Putin eine neue Entwicklungsstrategie (Externer Link: https://www.publication.pravo.gov.ru/Document/View/0001202010260033) für die Arktis in Kraft, die Russlands Politik in der Region bis 2035 prägen soll. Sie beruht auf den im März verabschiedeten Grundlagen (Externer Link: https://www.kommersant.ru/doc/4277362) der Arktispolitik und löst die 2013 beschlossene Arktis-Strategie 2020 (Externer Link: http://government.ru/info/18360/) ab.

Der Arktis wird in der russischen Politik seit Ende der 2000er Jahre zunehmend Aufmerksamkeit zuteil, wie sich in diversen Strategien, Programmen und Reden des Präsidenten spiegelt. Die Reaktivierung und Modernisierung militärischer Stützpunkte in der Arktis zeugen ebenfalls davon. Voraussichtlich im Mai 2021 wird Russland den Vorsitz des Arktis-Rats übernehmen, was die Region zusätzlich in den Fokus rückt.

Die Zeichen in der neuen Strategie stehen größtenteils auf Kontinuität. Zwischen den Zeilen werden aber auch Veränderungen sichtbar, die sich in der russischen Innen- und Außenpolitik seit 2013 ergeben haben. So verweist auch die neue Strategie auf mögliche internationale Kooperationen, allerdings erhalten die Bedrohungsszenarien mehr Raum. Zivilgesellschaftliche Organisationen, die 2013 noch als Partner in der Umsetzung der Strategie genannt wurden, kommen nun nicht mehr vor. Schließ­lich hat sich auch die Einschätzung des Klimawandels verändert.

Arktische Problemzonen

Besondere Priorität erhält in der neuen Strategie die Verbesserung der Lebensbedingungen für die Bewohner der Arktis. Der Bevölkerungsschwund, unter dem die gesamte arktische Zone seit dem Ende der Sowjetunion leidet, soll bis 2030 gestoppt werden. Jahr für Jahr verlassen netto rund 18 000 der 2,4 Millionen Einwohner die russische Arktis. Es lohnt sich finanziell kaum noch, dauerhaft in der arktischen Dunkelheit und Kälte sesshaft zu werden. Zwar liegen die durchschnittlichen Einkommen über dem russischen Mittel, allerdings sind auch die Lebenshaltungskosten deutlich höher.

Vom rauen Klima abgesehen ist das Fehlen oder Zerfallen der Infrastruktur (Externer Link: https://www.reuters.com/article/us-russia-bridge/russias-rail-link-to-port-of-murmansk-severed-by-bridge-collapse-idUSKBN2390X7) im Norden das größte Problem für Bevölkerung und Wirtschaft. Das durch die Erwärmung bedingte Auftauen der Permafrostböden wirkt sich verheerend aus. 70 Prozent der Infrastruktur sollen in den nächsten Jahren betroffen sein. Gleichzeitig hängen viele auf regionaler Ebene konzipierte Projekte für den Neubau von Straßen, Schienen und Häfen in der Luft, weil Finanzmittel aus dem Staatshaushalt ausbleiben. Dabei ist die arktische Zone aus Moskauer Sicht nur eine von vielen problematischen und strukturschwachen Gebieten der Russischen Föderation. Zwar wurde bereits im Jahr 2014 ein staatliches Programm für die sozioökonomische Entwicklung der Arktis aufgelegt. Für die Jahre 2021–2023 sind im föderalen Haushalt dafür allerdings nur 17,6 Milliarden Rubel (190 Millionen Euro) vorgesehen. Zum Vergleich: Das Programm zur Entwicklung der Krim soll über 300 Mil­liarden Rubel (3,2 Milliarden Euro) kosten.

Weil die hehren Ziele vergangener Arktis-Strategien nicht mit entsprechenden Haus­haltsmitteln unterlegt wurden, gibt heute allein die mächtige Energieindustrie in Russ­lands Norden den Takt vor. Über 90 % der russischen Erdgas- und 17 % der Ölförderung entfallen auf die arktische Zone. Neue Großprojekte wie die Flüssiggas-Anlagen des Konzerns Novatek auf den Yamal- und Gydan-Halbinseln sind der zentrale Motor, der den lokalen Ausbau von Infrastruktur antreibt. Das gilt nicht nur für den Bau von Schienen und Straßen im westlichen Teil der russischen Arktis, der mit privatem Kapital realisiert werden soll – etwa als Konzession oder öffentlich-private Partnerschaft –, sondern auch für die Häfen der Nördlichen Seeroute (NSR) und ihre Anbindung an die russischen Industriegebiete. 2018 hatte Staatspräsident Putin in seinen nationalen Zielen (Externer Link: http://www.kremlin.ru/acts/bank/43027/page/2) festgelegt, dass das jährliche Transportvolumen auf der NSR bis 2024 auf 80 Millionen Tonnen vervierfacht werden soll. Derzeit wird in Moskau über dieses Ziel gestritten (Externer Link: https://thebarentsobserver.com/ru/arktika/2020/10/federalnye-chinovniki-ne-mogut-dogovoritsya-o-cifrah-gruzopotoka-v-arktike), das inzwischen als unrealistisch gilt. Der von Rosatom auf 11,7 Milliarden US-Dollar (Externer Link: https://www.reuters.com/article/us-russia-rosatom-arctic/rosatom-sees-northern-sea-route-costs-at-735-billion-roubles-russian-budget-to-provide-a-third-idUSKCN1TP1LB) geschätzte Investitionsbedarf für die NSR soll zu einem Drittel vom russischen Staat getragen werden, der Rest von Rosatom, Rosneft, Novatek, Gazprom Neft, Gazprom, Nornickel und Banken sowie künftigen Nutzern der NSR.

Weitere Entwicklungsimpulse durch kommerzielle Projekte verspricht sich Moskau von der Offshore-Förderung von Öl und Gas in der Arktis. Bisherige Vorstöße sind größtenteils infolge der westlichen Sanktionen zum Erliegen gekommen. Der umworbene Ersatz-Partner China kann nur be­grenzt die Technologie (u. a. zur seismischen Erkundung von Ölfeldern in der Barentssee) und das notwendige Kapital zur Verfügung stellen. Zudem ist fraglich, ob der Ölpreis in Zukunft die Erschließung dieser schwer zu­gänglichen Reservoirs rechtfertigt. Bleiben die Preise unter 80 US-Dollar pro Fass (derzeit rund 40 US-Dollar (Externer Link: https://www.profinance.ru/chart/urals/)), ist die Nutzung arktischer Offshore-Felder nicht wirtschaftlich. Auch die geplante Erschließung neuer Kohle-Vorkommen geht nur schleppend voran. Das Zeitfenster für die Förderung der schwer erreichbaren fossilen Ressourcen dürfte sich langsam schließen, wenn die Nachfrage aufgrund der internationalen Klimaschutz-Bemühungen nachlässt.

Neue Bedrohungsszenarien

Der Schutz der langen arktischen Küste Russ­lands wurde bislang auch durch die extremen Klimabedingungen gewährleistet, die als natürliche Barriere wirkten. Die Auf­lösung des "ewigen Eises" bereitet Sorgen. In der neuen Strategie ist von einer Zunahme des Konfliktpotentials die Rede, die einen dauerhaften Ausbau der russischen mili­tärischen Kräfte in der Arktis erfordere.

Russland erhält gewissermaßen neue Außengrenzen, die es vor einem potentiellen Aggressor zu schützen gilt. Kriegsschiffe könnten theoretisch einen Angriff aus dem Osten starten, durch die Beringstraße, oder aus dem Westen über Stützpunkte auf Grön­land und Norwegen. Der Rückgang des Eises öffnet so eine neue Angriffsfront. Außerdem sind die Terminals zur Förderung von Öl und Gas aus russischer Sicht per se zu verteidigende Ziele. Viele der seit 1990 geschlossenen Stützpunkte aus Sowjetzeiten wurden daher reaktiviert und neue Basen errichtet – darunter 10 Stationen zur Seenotrettung, 16 Tiefwasserhäfen, 10 neue Flughäfen (von insgesamt 14) und 10 Radar­stationen zur Luftverteidigung entlang der NSR.

Das Militär dient in der russischen Arktis häufig als Ersatz für mangelnde oder zu teure zivile Fähigkeiten, beispielsweise zur Seenotrettung. Die zunehmende militärische Präsenz muss also kein Anzeichen für ein expansives Vorgehen sein. Ungeachtet dessen ist ein signifikanter Anstieg mili­tärischer Aktivitäten zu verzeichnen, dar­unter simulierte Luftangriffe auf Radaranlagen im norwegischen Vardø und der Einsatz von GPS-Störsendern gegen Finnland, außerdem verstärkte U-Boot-Patrouillen – zuletzt passierten im Oktober 2019 zehn U-Boote das Europäische Nordmeer auf ihrem Weg in den Nordatlantik, der größte Einsatz seit dem Kalten Krieg. Ein russisches Kampfflugzeug verfolgte im August 2020 während der Nato-Übung "Allied Sky" einen US-Bomber bis in den dänischen Luftraum.

Russlands Position als Seemacht soll gemäß seiner Marine-Doktrin gestärkt, der Schwerpunkt auf Arktis und Atlantik gelegt werden. Die NSR soll den Zugang zu Atlantik und Pazifik gewährleisten. Daher genießt die Nordflotte auf der Kola-Halbinsel absolute Priorität; sie soll im Konfliktfall außerdem die mit ballistischen Raketen bestückten Unterseeboote und damit zwei Drittel der maritimen nuklearen Zweitschlagsfähigkeit verteidigen. Das reaktivierte Bastions­konzept aus Sowjetzeiten sieht dafür einen Schutzraum vor, der sich über die Barentssee bis nach Island erstreckt. Der eigenen Flotte soll im Konfliktfall der Zugang zum Atlantik gesichert, anderen aber der Zugang zur russischen Arktis verwehrt werden. Zum Schutz von Bastion und Flotte wurden schon 2007 die Patrouillenflüge entlang der NSR wieder aufgenommen. 2019 wurden neue Luftabwehrraketen bei Nowaja Semlja in der Barentssee stationiert sowie – auch als Demonstration russischer Stärke – eine hyperschallschnelle Rakete getestet. Im Verbund mit mobilen S‑350-Flugabwehrsystemen sollen im Rahmen einer Abhaltestrategie (A2/AD) die Stützpunkte auf Franz-Josef-Land, Sewernaja Semlja, den Neu­sibirischen Inseln, Nowaja Semlja und Wrangelinsel geschützt werden. Die Reichweite des Gesamtsystems deckt alle Inseln und Archipele entlang der Nordroute ab.

Russland zeigt ein defensives Verständnis der Arktis, ist im Konfliktfall aber auf eine rasche Eskalation vorbereitet, die zur Verteidigung der Bastion offensive Opera­tionen – darunter die Eroberung von Teilen Nordskandinaviens – umfassen kann.

Aber nicht nur an den Außengrenzen, auch bei der inneren Sicherheit sieht Moskau neue Bedrohungen (Externer Link: https://thebarentsobserver.com/en/security/2020/05/fsb-general-sees-growing-threat-foreign-arctic-researchers-and-indigenous-peoples) aus dem In- und Ausland. Darunter leiden auch jene in der russischen Zivilgesellschaft, die sich für Umweltschutz in der Arktis oder die Rechte der indigenen Bevölkerung einsetzen. Die Verwirklichung wirtschaftlicher Großprojekte ruft immer wieder Proteste der lokalen Bevölkerung hervor. Manche zivilgesellschaftliche Organisation wurde vom russischen Staat kooptiert (Externer Link: https://neweasterneurope.eu/2020/05/19/indigenous-voices-and-security-in-the-russian-north/), andere sind aber auch Repressionen (Externer Link: https://thebarentsobserver.com/en/civil-society-and-media/2019/11/russia-makes-ready-arctic-council-chairmanship-removing-critical) ausgesetzt. Erhalten sie Förderung aus dem Ausland, werden die Organisationen als "ausländische Agenten" diffamiert und in der Folge strengen Kontrollen und Einschränkungen unterworfen.

Halbherziger Umweltschutz

In der neuen Arktis-Strategie hat die rus­sische Führung erneut ihren Willen bekundet, die arktischen Ökosysteme zu schützen. Das ist dringend nötig: Die oftmals marode Schwerindustrie im Norden, Folgen des Klimawandels wie das Auftauen des Permafrosts und lokales Staatsversagen sind eine toxische Mischung für die empfindlichen Ökosysteme der Arktis. Das wurde zuletzt Anfang Juni deutlich, als über 20 000 Tonnen Diesel in den Ambarnaja-Fluss gelangten (Externer Link: https://www.bbc.com/news/world-europe-52977740), nachdem der Permafrostboden unter einem großen Öltank nachgegeben hatte. 2019 gelang es auch nicht, die in der russischen Arktis wütenden Waldbrände (Externer Link: https://graphics.reuters.com/WEATHER-WILDFIRES-ARCTIC/0100B26K13Y/index.html) einzudämmen, vielmehr breiteten sie sich 2020 erneut in Sibirien aus.

Die Arktis-Strategie sieht nun vor, dass empfindliche Infrastruktur für den Klimawandel fit gemacht wird. Außerdem ist geplant, neue Umweltschutzgebiete auszuweisen und die Abfallwirtschaft staatlich zu unterstützen. Neu ist, dass die russische Arktis regelmäßig auf Verschmutzungen geprüft werden soll, für die die Staaten Nord­amerikas, Europas oder Asiens verantwortlich gemacht werden könnten.

Während weltweit in vielen Staaten die Klimaschutzbemühungen intensiviert werden, vermeidet die russische Führung zusehends, die Ursachen des Klimawandels zu benennen. Die 2013 beschlossene Entwicklungsstrategie für die Arktis enthielt noch einen Verweis auf den menschengemachten Klimawandel. In der neuen Strategie werden die Gründe für die Erderwärmung nicht mehr erwähnt.

Russlands Klimapolitik bleibt damit zwiespältig. Moskau nutzt das Thema im Rahmen der Vereinten Nationen, um sich von Washington abzugrenzen und als verantwortungsvoller Akteur darzustellen. Zwar wird auch in Russland über ein Gesetz für die Regulierung von CO2-Emissionen diskutiert. Man hat sich selbst aber Emissionsziele gesetzt, die sogar noch über den aktuellen Emissionen liegen. Kein Thema ist derweil die Abkehr von der Förderung von Öl und Gas. Im Gegenteil: Moskau will die Förderung und den Export fossiler Brennstoffe weiter steigern. Das gilt auch für die besonders klimaschädliche Kohle, deren Produktion bis 2035 auf bis zu 668 Millionen Tonnen pro Jahr anwachsen könnte.

Kooperation in der Arktis

Auch wenn die Offenheit für internationale Kooperation in der neuen Arktis-Strategie zum Teil der Wahrnehmung von Bedrohungen gewichen ist, so ist sie doch nicht vollends verschwunden. Die teils gegensätzlichen Interessen – etwa die Betonung nationaler Souveränität vs. Internationalisierung der NSR – kommen in einer ambivalenten Haltung zum Ausdruck, die konfrontative und kooperationsorientierte Elemente enthält, also jeweils nach Lage der Dinge politische Konkurrenz oder praktische Zusammenarbeit betont.

Die neue Arktis-Strategie enthält einen gesonderten Abschnitt zur internationalen Zusammenarbeit, in dem ausländische Investitionen eine zentrale Rolle spielen. Dabei ist Moskau primär an Technologien und Investitionen im Energiesektor inter­essiert, die unter die westlichen Sanktionen fallen. Westliche Firmen könnten dagegen beim Aufbau der Infrastruktur und auch bei der Bewältigung von Umweltproblemen kooperieren.

Weiterhin erfolgreich ist die aus Kreml-Sicht weniger bedenkliche deutsch-russische naturwissenschaftliche Kooperation. Die neue Arktis-Strategie sieht vor, einen Gesamtplan für die gemeinsame internationale Erforschung der Ökosysteme und der Effekte des Klimawandels zu entwickeln. Ein Beispiel ist die internationale MOSAiC-Expedition (Multidisciplinary drifting Ob­servatory for the Study of Arctic Climate), die ohne Russlands Erfahrung und Unterstützung nicht möglich gewesen wäre.

Quelle: SWP-Aktuell 2020/A 89, 05. November 2020, Externer Link: https://www.swp-berlin.org/publikation/russlands-arktis-strategie-bis-2035 .

Fussnoten

Weitere Inhalte

Dr. Janis Kluge ist Senior Associate der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Er promovierte an der Universität Witten/Herdecke in Wirtschaftswissenschaften. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit der wirtschaftlichen Entwicklung Russlands, Innenpolitik und Sanktionen.

Dr. Michael Paul ist Senior Fellow der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin, Projektleiter des Streitkräftedialogs in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium der Verteidigung sowie Leiter des Gesprächskreises maritime Sicherheit der SWP.