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Kommentar: Nur ein Menschenleben lang | Russland-Analysen | bpb.de

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Kommentar: Nur ein Menschenleben lang

Susanne Schattenberg Susanne Schattenberg (Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen)

/ 5 Minuten zu lesen

In fast 70 Jahren Sowjetunion lebten Menschen aus vier Generationen. Die Historikerin Susanne Schattenberg charakterisiert ihre Gemeinsamkeiten und erklärt, worin sie sich unterschieden.

Ein Vater und seine Tochter bei einem Spaziergang durch eine Wohnsiedlung in Irkutsk, Sibirien 1972. (© picture-alliance, Klaus Rose)

Die Sowjetunion bestand nur ein Menschenleben lang, fast 70 Jahre, von Dezember 1922 bis Dezember 1991. Sie konnte nur eine Generation begeistern, sich verpflichten und an sich binden, oder, je nach Lesart: nur eine Generation als Geisel nehmen und in Angst und Schrecken halten. Die drei nachfolgenden sowjetischen Generationen brachen alle auf ihre Art aus und entwickelten alternative Ideale und Lebenswelten.

Die Angehörigen der ersten sowjetischen Generation waren im Durchschnitt im Jahr 1906 geboren und erlebten noch als Kinder das Zarenreich. Sie stammten aus armen Verhältnissen, waren Arbeiter- oder Bauernkinder, kannten Hunger, Not und Ausbeutung. Vor diesem finsteren Hintergrund versprach ihnen die Revolution eine lichte Zukunft. Viele schlossen sich als Jugendliche im Bürgerkrieg den Roten an, leisteten in den 1920er Jahren Aufbauarbeit in Gewerkschafts- oder Parteiorganisationen und wurden als Lohn zum Studium abkommandiert. Auf zwei Jahre Arbeiterfakultät folgten ein Ingenieursstudium und eine Tätigkeit in der Produktion oder auf den (Groß-)Baustellen der 1930er Jahre. Der Große Terror 1937/38 sorgte dafür, dass die "Neuen Menschen" die Leitung von Industrie und Wirtschaft, Staat und Partei übernahmen.

So lautete nicht nur das Meisternarrativ der Parteipropaganda; in diesen Formeln erzählten die Erbauer*innen der Sowjetunion auch selbst ihren Lebensweg, und zwar ganz gleich, ob vor oder nach 1991, ob öffentlich oder privat. Ab 1940 besetzte diese Generation der Aufsteiger, wie sie auch genannt wurde, – nur sehr selten waren es Aufsteigerinnen – die Hälfte bis über 90 Prozent der Posten in den Ministerien, im Zentralkomitee und im Politbüro der KPdSU. Der Westen wurde von Juristen regiert, die Sowjetunion von Ingenieuren. Als Grund für diese hohe Affinität und Loyalität dieser 1906er-Generation werden je nach Erklärungsansatz sehr unterschiedliche Faktoren genannt: Angst und Alternativlosigkeit (Totalitarismus); soziale Mobilität (Sozialgeschichte); die Prägung durch sowjetische Normen und Werte bzw. Diskurse (Kulturgeschichte). Unabhängig davon ist festzuhalten, dass die Bindung an das Regime stark an die Erfahrung dieser einen Generation geknüpft war.

Michail Gorbatschow war das nach langer Zeit erste Politbüromitglied, das nicht dieser Generation angehörte, nicht Ingenieurwissenschaft studiert und nicht Militärangehöriger im Krieg gewesen war. Er gehörte zur zweiten sowjetischen Generation, den Schestidesjatniki  – den "Sechzigern" –, wie sie genannt wurden. Sie waren die Nachkommen der Erbauer*innen, in den 1930er Jahren geboren, und hatten den Terror und den Krieg als Kinder erlebt. Geprägt aber hatte sie das Tauwetter unter Nikita Chruschtschow 1953 – 1964, die Öffnung der Gesellschaft, die Möglichkeit, abweichende Meinungen zu äußern und wieder laut zu lachen. Dies gab ihnen den Impuls, sich ab den 1960er Jahren für eine bessere Sowjetunion einzusetzen, sei es im System, wie Gorbatschow, oder jenseits davon: per Petitionen und Protestbriefen, mit selbstverlegten Schriften (Samisdat) und bald den ersten Menschenrechtskomitees. Während die "loyalen Dissidenten" bzw. "Reformer im System" überlebten und teils später zu Gorbatschows Mannschaft gehörten, zerschlug der KGB systematisch alle Gruppierungen, die abweichende Meinungen äußerten: Die Andersdenkenden wurden verhaftet, verbannt, außer Landes gezwungen oder zwangspsychiatriert.

Die dritte sowjetische Generation waren die Kinder der Schestidesjatniki, die "Baby Boomer", um 1950 geboren – und wenig an Politik interessiert. Weder teilten sie das Pathos ihrer Großeltern noch das Unbehagen ihrer Eltern; für sie zählte v. a. eine gute Ausbildung, eine erfolgreiche Karriere, die Partizipation an Kunst und Kultur, das Streben, zur sowjetischen Elite zu gehören. Maiparaden, Revolutionsfeiern, Parteitage und Generalsekretäre nahmen sie als gegeben und Teil des sowjetischen Alltags unhinterfragt zur Kenntnis. Im besten Foucault’schen Sinne manifestierte sich das Sowjetregime vollends erst mit und in ihnen, die weder ein Leben ohne Sowjetunion kannten, noch es sich vorstellen konnten, geschweige denn herbeisehnten.

Ganz anders verhielt es sich dagegen mit der vierten und letzten sowjetischen Generation, den "zynischen Konformist*innen", wie sie auch genannt werden: Die soziopolitischen Strukturen, die ihre Eltern als Basis für ihr Leben akzeptiert hatten, verhöhnten sie; statt Bildung interessierte sie Konsum, statt Autorität beeindruckte sie das Ausland; statt gesellschaftlicher Anpassung lebten sie Subversion in vielen kleinen Akten, vom Jeanstragen bis zum Hören verbotener Rockmusik.

Zu all den Erklärungsansätzen, warum die Sowjetunion zusammenbrach, gehört zentral der Aspekt der Generationen: Mit dem Tod der ersten sowjetischen Generation ging auch die Sowjetunion unter; die nachfolgenden waren nicht bereit, dieses politische System bis aufs letzte Hemd zu verteidigen, wie es die 1906er getan hatten: Es war ihr Land, dass sie in den 1930er Jahren aufgebaut, für das sie die Kollektivierung und den Großen Terror durchgestanden hatten, das sie im Großen Vaterländischen Krieg verteidigt und später von den "stalinistischen Auswüchsen" befreit hatten. Es war ihr Lebenswerk, nicht das ihrer Kinder oder Kindeskinder, schon gar nicht der Urenkel.

So sehr sich die Generationen in ihrer Haltung zum gesellschaftspolitischen System und teils auch in ihren Werten unterschieden haben mögen, so sehr einte sie ein gemeinsamer Habitus (abweisend zu Fremden, großzügig zu Freunden), eine gemeinsame Erwartungshaltung (der Wohlfahrtsstaat kümmert sich um alles), gemeinsame Alltagserfahrungen (Schlangestehen und die Organisation von Defizitprodukten) und ihr Aktionsradius (keine Auslandsreisen, aber das ganze Sowjetreich als Heimat). Den homo sovieticus gab es wirklich und alle vier Generationen gehörten dazu. Als Ausländerin fiel man in der UdSSR sofort auf, und das lag nicht nur an Kleidung und Brillengestellen, sondern auch an einer anderen Mimik und Gestik. All diese feinen, aber für jede*n wahrnehmbaren Unterschiede sind heute verschwunden: Kleidung, Gesten, Lachen haben sich internationalisiert; Auslandsreisen sind genauso normal wie, dass sich jede*r selbst um Arbeitsplatz und Wohnung kümmern muss. Wörter wie "bisnismen", "schopping" und "uik-end" gehören lange zum russischen Sprachgebrauch. Was der homo sovieticus war, ist für die heute dreißigjährigen Russ*innen nicht mehr vorstellbar.

Auf das Verschwinden eines kulturellen Phänomens haben erste Autorinnen reagiert: Ljudmila Aleksejewa (1928 – 2018), die Grande-dame der sowjetischen Menschenrechtsbewegung, hat ihr Buch über die Tauwetter-Generation, das sie 1990 auf Englisch schrieb, um der westlichen Welt die Lebensverhältnisse in der UdSSR zu erläutern, erst 2006 auf Russisch veröffentlicht, als sie den Eindruck gewann, dass die jungen Leute nichts mehr von der Sowjetzeit wussten. 2018 hat die große Krimi-Autorin Alexandra Marinina (*1957) einen dreibändigen Roman veröffentlicht, in dem ein exzentrischer Remigrant im heutigen Russland junge Leute mit Geld für eine Art "Big Brother" ködert, wo sie abgeschieden von der Öffentlichkeit und modernen Kommunikationsmitteln typische Situationen des sowjetischen Alltagslebens mit den damals verfügbaren Mitteln meistern müssen. Darin können sich die jungen Leute weder vorstellen, dass es damals kein Telefon in jedem Haushalt geschweige denn Internet gab, noch dass eine Mutter sonntags einen großen Topf Borschtsch kochte, der dann die ganze Woche reichen musste. So langatmig und teils übertrieben dieser Roman wirken mag, umso deutlicher bringt er auf den Punkt, dass die meisten sowjetischen Lebensrealitäten für die nachgeborenen Generationen unvorstellbar und absurd sind. Es ist dies das gefährliche am Regime Putins: Es geht nicht mit Mangelverwaltung, eingeschränkter Freizügigkeit und technologischer Rückständigkeit einher; das autoritäre Regime gibt sich heute fortschrittlich, flott und modern. Die Sowjetgenerationen wussten, dass sie in einer anderen Welt lebten; die jungen Russ*innen tun dies nicht.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Prof. Dr. Susanne Schattenberg ist Historikerin und Direktorin der Forschungsstelle Osteuropa und Professorin für Zeitgeschichte und Kultur Osteuropas an der Universität Bremen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören u. a. die Parteiführer Chruščev und Brežnev, der homo sovieticus, Dissens und Konsens. 2017 ist ihr Buch "Leonid Breschnew. Staatsmann und Schauspieler im Schatten Stalins. Eine Biographie" beim Verlag Böhlau erschienen.