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Kommentar: Die Schrecken des Krieges und deren demografische Folgen für Russland | Russland-Analysen | bpb.de

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Kommentar: Die Schrecken des Krieges und deren demografische Folgen für Russland Russland-Analyse Nr. 420

Olga R. Gulina Berlin) Institute on Migration Policy Olga R. Gulina (RUSMPI UG

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Die demografische Entwicklung Russlands ist von negativem Bevölkerungswachstum, Emigration und der Abwanderung von Gastarbeiter:innen geprägt. Auch der Krieg wird Russlands Demografie nachhaltig beeinflussen.

Punks gegen Putin Proteste in Kanada. Unterstützer:innen der russischen Punkband „Pussy Riot“ bei einer Demonstration vor dem russischen Konsulat in Toronto. (Foto von AP Photo/The Canadian Press, Michelle Siu) (© picture-alliance/AP, Foto von AP Photo/The Canadian Press, Michelle Siu)

Nach den vorläufigen Daten der russischen Volkszählung des Jahres 2022 leben derzeit 147 Millionen Menschen im Land. Die Migrationslage in Russland ist geprägt durch ein negatives demografisches Szenario in Verbindung mit einer erhöhten Sterblichkeit der Bevölkerung, der Abwanderung russischer Staatsbürger:innen und der Auswanderung der Arbeitsmigrant:innen sowie einer neuen Welle humanitärer Migrant:innen aus der Ukraine, deren Zahl und rechtlicher Status bisher nur schwer vollständig abzuschätzen ist.

Demografische Prognosen

Vor einigen Jahren hat die russische Statistikbehörde Rosstat drei demografische Szenarien für die Entwicklung des Landes bis 2035 vorgelegt: ein negatives, ein konservatives und ein optimistisches. 2019 hat die Behörde diese Szenarien aktualisiert (Externer Link: https://rosstat.gov.ru/folder/12781). Diese Szenarien berücksichtigen Geburts-, Sterbe- und Migrationstrends in Russland. Das optimistische Szenario, das von positiven Veränderungen im Bereich der Migration ausgeht, würde aufgrund eines Anstiegs der Geburtenrate und der Lebenserwartung dafür sorgen, dass die russische Bevölkerung bis 2035 auf 150,1 Millionen Menschen wächst. In der konservativen Variante der Prognose würde die Bevölkerung der Russischen Föderation im Jahr 2035 143 Millionen Menschen betragen. Die pessimistische Prognose von 134,3 Millionen Menschen wurde mit der Annahme berechnet, dass die Lebenserwartung in Russland bis 2035 steigt, die Geburtenrate und die Zahl der Migranten jedoch sinken würden. Die Berechnungen der demografischen Szenarien der Vereinten Nationen waren hingegen schon immer pessimistischer: Dies mag daran liegen, dass diese die Krim-Bevölkerung nicht einbeziehen oder einen Zeithorizont bis 2100 anlegen (Externer Link: https://population.un.org/wpp2019/Download/Standard/Population/). Im konservativen Szenario sagen die VN einen weiteren Rückgang der Bevölkerung bis auf 135,8 Millionen im Jahr 2050 und auf 126,1 Millionen im Jahr 2100 voraus.

Der Krieg in der Ukraine verstärkt einerseits den Bevölkerungsschwund in Russland durch die zunehmende Auswanderung von Russ:innen und die Abwanderung von Arbeitsmigrant:innen. Dieser Negativtrend kann aber zumindest teilweise durch den Zuzug ukrainischer Bürger:innen aus den Gebieten der selbsterklärten "Volksrepubliken" Luhansk und Donezk (LVR und DVR) ausgeglichen werden.

Arbeitsmigrant:innen: Wehrdienst als neuer Job

Im Zeitraum von Januar bis Dezember 2021 waren 4.519.618 Staatsbürger:innen aus Usbekistan, 2.439.198 Staatsbürger:innen aus Tadschikistan, 884.133 Staatsbürger:innen aus Kirgisistan, 163.938 Staatsbürger:innen aus Kasachstan, 7.880 Staatsbürger:innen aus Turkmenistan, 240.590 Staatsbürger:innen aus der Ukraine und 174.500 Staatsbürger:innen aus Belarus in Russland zu "Arbeitszwecken" registriert. Der Krieg in der Ukraine wird die Rückkehr der Arbeitsmigrant:innen in ihre Herkunftsländer fördern. Usbekistan hat sich zudem bereit erklärt, Arbeitsmigrant:innen aufzunehmen und ihnen bei der Arbeitssuche zu helfen. Aus Russland kehrten 133.333 usbekische Arbeitsmigrant:innen nach Usbekistan und 60.337 tadschikische Migrant:innen nach Tadschikistan zurück.

Allerdings werden nicht alle Arbeitsmigrant:innen aus Russland in ihre Herkunftsländer zurückgehen. Unter den Arbeitsmigrant:innen, die angesichts der rückläufigen Arbeitsmarktlage in Russland bleiben, gibt es einige, die bereit sind, im Gegentausch für einen russischen Pass und/oder ein stabiles Gehalt zwischen 500 und 2500 Euro in den Krieg zu ziehen. Dieses Gehalt wurde jenen angeboten, die bereit waren, sich der russischen Armee im März/April 2022 anzuschließen. Aufgrund der 2013 vorgenommenen Änderungen des Gesetzes "Über die Wehrpflicht und den Wehrdienst" sind alle Männer verpflichtet, nach Erhalt der russischen Staatsbürgerschaft ihren Militärdienst in der russischen Armee abzuleisten, auch wenn sie ihren Militärdienst bereits in einem anderen Land geleistet haben (Artikel 23-1 Absatz G des Gesetzes FZ 111 der Russischen Föderation "Über die Wehrpflicht und den Wehrdienst", Externer Link: https://base.garant.ru/178405/74d7c78a3a1e33cef2750a2b7b35d2ed/). Die einzige Ausnahme von dieser Regel gilt für tadschikische Staatsangehörige (Externer Link: https://base.garant.ru/1119543/#block_342).

Derzeit gibt es noch keine genauen Schätzungen, wie viel Arbeitsmigrant:innen als Söldner:innen in den Krieg gezogen sind. Allerdings wird es sich dabei um eine kleine Anzahl handeln, weil die zentralasiatischen Staaten historisch enge Verbindungen zu beiden Kriegsparteien pflegen und es deswegen auch vorkommt, dass angesehene Familienmitglieder Verwandten ein Verbot aussprechen, sich im Krieg auf eine Seite zu schlagen. Im Laufe der Zeit könnte sich die Lage aber verschärfen. Für die Arbeitsmigrant:innen spielt die Aussicht auf regelmäßiges Einkommen eine entscheidende Rolle bei der Entscheidung, sich dem Militärdienst zu verschreiben. Dabei macht die russische Armee über verschiedenste Kanäle Werbung: russischsprachige und nationale Jobwebsites wie HeadHunter.ru, UzMigrant, soziale Netzwerke und Telegram. Inzwischen ist schon von einigen Bürger:innen Kirgisistans, Usbekistans und Kasachstans berichtet worden, die zur Arbeitssuche nach Russland kamen und nun aber in Särgen aus dem Krieg in der Ukraine in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt sind.

Geflüchtete, die keine Geflüchteten sind

Aus mehreren Gründen ist es schwierig, den Umfang der Migrationsströme aus der Ostukraine nach Russland zu quantifizieren und zu qualifizieren. Erstens werden im Krieg humanitäre Korridore nicht immer freigestellt. Die Betroffene haben dann keine Wahl und flüchten dorthin, wohin es möglich ist. Zweitens ist die Bevölkerung der selbsternannten "Volksrepubliken" überaltert (Externer Link: https://ukraineverstehen.de/twickel-covid19-volksrepubliken-lnr-dnr/), die ältere Generation steht oft Russland näher. Drittens gibt es schon zahlreiche Berichte über Geflüchtete aus der Ukraine, die gegen ihren Willen nach Russland deportiert wurden.

Internationale Organisationen verzeichnen 563.266 Geflüchtete aus der Ukraine auf dem Territorium Russlands (Externer Link: https://data2.unhcr.org/en/situations/ukraine). Nach Angaben des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) steht Russland an dritter Stelle, was die Zahl der aus der Ukraine aufgenommenen Geflüchteten betrifft. Doch wer sind diese Leute? Und welchen rechtlichen Status haben sie in der Russischen Föderation?

Vor dem Krieg betrug die Bevölkerung der DVR und der LVR 2,23 bzw. 1,43 Millionen. Laut UNHCR befinden sich 563.266 Geflüchtete aus der Ukraine auf dem Gebiet der Russischen Föderation (Stand: 21.04.2022). Diese, vom UNHCR erfassten Personen, sind 15 Prozent der Bevölkerung der selbsternannten "Volksrepubliken", die nach Russland kamen. Sie sind keine Flüchtlinge im Sinne des russischen und internationalen Rechts (Artikel 3 des Flüchtlingsgesetzes). Diesen Menschen wurde temporäres Asyl gewährt (Artikel 12 des Flüchtlingsgesetzes). Der Status der Geflüchteten und das temporäre Asyl unterscheiden sich je nach Gewährungs- und Verlängerungsgründen, der Dauer der Gewährung, der Zuständigkeit der Behörden und dem Umfang der persönlichen sozialen Rechte und Ansprüche. Personen, denen in Russland der Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde, haben Anspruch auf Rentenleistungen, während Personen mit temporärem Asylstatus keinen Anspruch auf Rente haben.

Schon nach 2014 kamen viele Ukrainer:innen nach Russland (Externer Link: https://www.e-ir.info/2017/05/04/migration-of-ukrainians-to-russia-in-2014-2015/#_ftn1). Nach Angaben der russischen Migrationsbehörde stieg die Zahl der ukrainischen Staatsbürger:innen auf dem Staatsterritorium Russlands zwischen 2014 bis März 2015 von 0,9 auf 2,5 Millionen Menschen an. Auch diese verfügten über ein temporäres Asyl und bekamen keinen Flüchtlingsstatus zugeschrieben. Im Laufe der Zeit kamen viele durch ein vereinfachtes Verfahren an die russische Staatsbürgerschaft, und ihr Status ist inzwischen durch zahlreiche Gesetze geregelt worden (Externer Link: https://ridl.io/en/passport-expansion/).

Um heute den Flüchtlingsstatus zu erhalten, muss eine Person einen Antrag bei einer diplomatischen Mission oder konsularischen Einrichtung der Russischen Föderation, bei der russischen Grenzbehörde oder innerhalb eines Tages nach dem Grenzübertritt bei einer Gebietskörperschaft des Innenministeriums stellen. Die Frist für die Prüfung des Antrags beträgt drei Monate (Externer Link: http://docs.pravo.ru/zakon-o-bejencah/). Im Jahr 2019 wurde 32 Personen der Flüchtlingsstatus zuerkannt, 2020 waren es 28 Personen. Am 1. Januar 2021 hatten 455 Personen in der Russischen Föderation den Flüchtlingsstatus, darunter 189 afghanische Staatsangehörige, 54 Bürger:innen der Ukraine, 20 Personen aus Georgien, 8 Personen aus Moldawien und 6 Personen aus Aserbaidschan (Externer Link: https://www.unhcr.org/ru/stats).

Eine Verordnung der Regierung der Russischen Föderation regelt die Gewährung von temporärem Asyl für Bürger:innen der Ukraine, der "Volksrepublik Donezk" und der "Volksrepublik Luhansk" auf dem Territorium der Russischen Föderation durch ein vereinfachtes Verfahren (Externer Link: http://www.consultant.ru/document/cons_doc_LAW_165933/92d969e26a4326c5d02fa79b8f9cf4994ee5633b/#dst100011). Das temporäre Asyl wird ausländischen Bürger:innen oder Staatenlosen im Hoheitsgebiet der Russischen Föderation gewährt, wenn die Person:

  1. Gründe hat, als Geflüchtete:r anerkannt zu werden, sich aber auf einen schriftlichen Antrag mit der Bitte um einen vorübergehenden Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Russischen Föderation beschränkt;

  2. keine Gründe für die Anerkennung als Geflüchtete:r hat, aber aus humanitären Gründen aus dem Hoheitsgebiet der Russischen Föderation nicht ausgewiesen werden kann.

Personen, die nach Beginn des Krieges in die Russische Föderation eingereist sind und denen ein temporärer Asylstatus zuerkannt wurde, erhalten eine Pauschalzahlung in Höhe von 10.000 Rubel, was derzeit etwa 119 EUR entspricht (Externer Link: https://krd.ru/administratsiya/administratsii-krasnodara/upravlenie-po-sotsialnym-voprosam/pomoshch-bezhentsam/); ihnen werden medizinische Versorgung, Hilfe bei der Arbeitssuche und bei der Unterbringung der Kinder in Bildungseinrichtungen garantiert. Das temporäre Asyl wird für ein Jahr gewährt und kann durch einen formlosen Einzelantrag beliebig oft verlängert werden.

Am 12. März 2022 erließ die Regierung der Russischen Föderation eine Verordnung über Quoten für die Verteilung der Einwohner:innen der LVR und der DVR auf die Regionen der Russischen Föderation (Externer Link: https://rg.ru/2022/03/16/raspredelenie.html). Die Städte Moskau, St. Petersburg und Sewastopol haben keine Zuteilung von Bewohner:innen der vom Krieg betroffenen Regionen der Ukraine über die Verteilungsquoten erhalten. Laut der Verordnung sind insgesamt 95.909 Quoten geplant (s. Karten 1/2 und Tabelle 1 auf S. 29–31). Die Verordnung nannte aber keine Kriterien für die Verteilung, das Verfahren zur Gestaltung und Festsetzung der Verteilungsquoten ist somit nicht klar geregelt. Die Verordnung legt fest, dass bei Ausschöpfung der Kontingente einer Region diese einer anderen Regionen übertragen werden können, in denen die Quoten nicht ausgeschöpft sind und/oder die Ukrainer:innen Verwandte oder Familienmitglieder haben. Die Zahl der Personen, die aus der Ukraine in der Russischen Föderation angekommenen sind, übersteigt allerdings bereits jetzt schon die Zahl der vorgesehenen Quoten. Daher ist es wahrscheinlich, dass die Mehrheit der Bewohner:innen der LVR und DVR, die in der Russischen Föderation angekommen sind,

  1. ihren Rechtsstatus 90 Tage lang nicht legalisieren und sich im Rahmen des Abkommens von 1994 ohne Visum in der Russischen Föderation aufhalten werden (Externer Link: https://base.garant.ru/1155442/)

  2. daran interessiert sind, die russische Staatsbürgerschaft in einem vereinfachten Verfahren und ohne Entrichtung der Gebühr zu erhalten (Externer Link: http://www.kremlin.ru/acts/bank/44245)

  3. die Russische Föderation verlassen werden, auch in Richtung EU. Allerdings kann es hier zu Schwierigkeiten kommen. Personen, denen ein vorübergehender Asylstatus zuerkannt wurde, können das Hoheitsgebiet der Russischen Föderation erst dann verlassen, wenn sie auf diesen Status verzichtet haben, da der Erwerb des vorübergehenden Asylstatus zum Entzug der Ausweispapiere der Person und zur Ausstellung einer vorübergehenden Asylbescheinigung führt.

Gesetzesinitiativen in der Migrationspolitik im ersten Quartal 2022

Die gesetzgeberische Tätigkeit der Staatsduma zeigt, dass das Land unter einem Kriegsregime und einer zunehmenden Konfrontation mit anderen Ländern lebt. Zwischen Januar und März 2022 haben die russischen Gesetzgeber neue Entwürfe für die Gesetze "Über die Gewährung von politischem Asyl in der Russischen Föderation" (Externer Link: https://sozd.duma.gov.ru/bill/85017-8) und "Über die Staatsbürgerschaft der Russischen Föderation" vorgelegt, während der Präsident die Einrichtung einer ressortübergreifenden Kommission für Migration beim Sicherheitsrat Russlands angeordnet hat (Externer Link: http://publication.pravo.gov.ru/Document/View/0001202202100046?). Die Themen Migration, Bevölkerungsbewegung und Demografie des Landes sind für den russischen Präsidenten und das Parlament offensichtlich zur Priorität geworden. Im Februar 2022 wurde eine dem Sicherheitsrat untergeordnete Kommission für Migration eingerichtet. Die Kommission hat den Auftrag, "die Migrationssituation" zu analysieren, nach "inneren und äußeren Bedrohungen der nationalen Sicherheit im Bereich der Migration" zu suchen und die staatlichen Stellen bei der Umsetzung der Migrationspolitik zu koordinieren. Der Kommission gehört u. a. der stellvertretende Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB, der Vorsitzende des Ermittlungskomitees, die Chefs des Innen- und des Außenministeriums sowie der Leiter der Direktion für Innenpolitik des Präsidenten an: Insgesamt setzt sich die Kommission aus 29 Personen unter der Leitung von Dmitrij Medwedew, dem stellvertretenden Vorsitzenden des Sicherheitsrates, zusammen. Die Einsetzung der Kommission zwei Wochen vor dem Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine, die Besetzung der Kommission mit bürokratischen Schwergewichten, ihre Zusammensetzung und ihre Befugnisse lassen die Frage aufkommen, welche Migrationsströme in welchem Gebiet als "innere und äußere Bedrohung der nationalen Sicherheit" der Russischen Föderation betrachtet werden können oder sollen.

Auch die Gesetzgebung über Staatsbürgerschaft erfährt einschneidende Veränderungen. Die Institution der Staatsbürgerschaft war und bleibt der verlängerte Arm der geopolitischen Macht Russlands, der auch der demografischen Lage des Landes dienen muss. Anfang April 2022 wurde ein neuer Gesetzentwurf "Über die Staatsbürgerschaft der Russischen Föderation" (Externer Link: https://sozd.duma.gov.ru/bill/49269-8?) von der Staatsduma in erster Lesung verabschiedet. Dieser Gesetzentwurf enthält zahlreiche Neuerungen in Bezug auf militärische Konflikte auf den Territorien unabhängiger Staaten.

Erstens sieht Artikel 18-1 Absatz B des Gesetzentwurfs die Verpflichtung der zuständigen Stellen vor, einen Antrag auf Staatsbürgerschaft abzulehnen, wenn der oder die Antragsteller:in "an internationalen, interethnischen oder interterritorialen Konflikten teilgenommen hat". Zweitens wird in Artikel 13-4 des Gesetzentwurfs das Prinzip der "Staatsbürgerschaftswahl" als Grund für den Erwerb der russischen Staatsbürgerschaft erwähnt. Es handelt sich um die Wahl der Staatsangehörigkeit durch die Personen, die eine doppelte Staatsbürgerschaft besitzen oder in einem Gebiet wohnen, das seine Staatszugehörigkeit geändert hat (Artikel 20 des Gesetzesentwurfs). Die Einführung dieser Norm bedeutet, dass die Frage der Staatsbürgerschaft der Bevölkerung in Konfliktgebieten durch ein einziges russisches Gesetz und nicht durch internationale Verträge der sich im Konflikt befindlichen Staaten gelöst werden kann.

Schlussfolgerungen

Zusammenfassend kann davon ausgegangen werden, dass die demografischen Folgen des Krieges in Russland dramatisch sein werden. Russland wird sich mit ihnen noch Jahre auseinandersetzen müssen. Deshalb haben die russischen Abgeordneten im Vorfeld des Krieges eine Migrationsgesetzgebung vorbereitet, die das System zur Gewährung des Status von humanitären Migrant:innen aus dem Kriegsgebiet regelt, die demografischen Herausforderungen durch die Sicherstellung des Bevölkerungswachstums in der Russischen Föderation angehen und die die Frage der Staatsbürgerschaft nach russischem Recht auf der Grundlage des Prinzips der "Staatsbürgerschaftswahl" in Gebieten mit aktiven und/oder eingefrorenen militärischen Konflikten betreffen.

Karte 1: Geplante Quoten für die Verteilung der Einwohner:innen der Donezker und Luhansker »Volksrepubliken« (DVR/LVR) auf die Regionen der Russischen Föderation (Föderationskreise

Karte 2: Geplante Quoten für die Verteilung der Einwohner:innen der Donezker und Luhansker "Volksrepubliken" (DVR/LVR) auf die Regionen der Russischen Föderation

Tabelle 1: Geplante Quoten für die Verteilung der Einwohner:innen der Donezker und Luhansker »Volksrepubliken« auf die Regionen der Russischen Föderation (Föderationskreise)

Fussnoten

Weitere Inhalte

promovierte 2010 an der Universität Potsdam in Migration Studies und 2002 zur Doktorin der Rechtswissenschaften an der Baschkirischen Staatlichen Universität. Sie ist Mitbegründerin des RUSMPI UG, Institute on Migration Policy.