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Dokumentation: Russlands Wissenschaftler*innen protestieren – Offene Briefe gegen den Krieg | Russland-Analysen | bpb.de

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Dokumentation: Russlands Wissenschaftler*innen protestieren – Offene Briefe gegen den Krieg Russland-Analysen Nr. 422

Robert Kindler (Freie Universität Berlin)

/ 6 Minuten zu lesen

Die Bevölkerung Russlands steht nicht geschlossen hinter dem Krieg gegen die Ukraine. Wir dokumentieren offene Briefe russischer Wissenschaftler:innen gegen den Krieg vom 24.02.2022.

Ein Zeichen gegen den Krieg auf einer Demonstration. An russischen Universitäten sprechen sich viele Wissenschaftler:innen gegen den Krieg aus. (© picture-alliance, ASSOCIATED PRESS)

Die Bevölkerung Russlands steht nicht geschlossen hinter dem Krieg gegen die Ukraine. Trotz aller Bemühungen der staatlichen Propaganda, den Krieg in der russischen Öffentlichkeit als "Spezialoperation" zu inszenieren, regt sich vielerorts Widerstand. Die Proteste begannen unmittelbar nach dem russischen Angriff. Nicht nur in den Hauptstädten Moskau und St. Petersburg, sondern in vielen Städten gingen tausende Menschen auf die Straßen und Plätze um gegen den Krieg zu demonstrieren. Eine vom Bürgerrechtler Lew Ponomarew am 24. Februar initiierte Petition auf der Plattform change.org haben bis zum 2. März mehr als 1,1 Millionen Menschen unterschrieben. In sozialen Medien wird der Hashtag #НетВойне (dt. Nein zum Krieg) millionenfach genutzt, geteilt und gelikt – auch von prominenten Künstler*innen und Intellektuellen.

Jede einzelne Unmutsäußerung erfordert großen persönlichen Mut und Zivilcourage im Angesicht des staatlichen Repressionsapparats. Innerhalb einer Woche sind mehrere tausend Menschen (kurzzeitig) inhaftiert worden, die sich an Protestaktionen beteiligt hatten. Es kann als sicher gelten, dass es in naher Zukunft zu zahlreichen Verfahren mit vermutlich drakonischen Haft- und Lagerstrafen kommen wird. Noch viel mehr Menschen werden ihre Arbeitsstellen verlieren und Karrierechancen einbüßen.

Und dennoch äußern sich viele russische Wissenschaftler*innen, Journalist*innen, Künstler*innen und Journalist*innen deutlich gegen den Krieg. Gegenwärtig kursieren mehrere "Offene Briefe", die binnen kürzester Zeit von hunderten oder gar tausenden Personen unterzeichnet wurden. Sie alle eint das Entsetzen über den Krieg, den Russland entfesselt hat. Dass ihre Stimmen in Deutschland gehört werden, ist wichtig in einer Situation, in der deutsche und europäische Wissenschaftsinstitutionen ihre teils seit Jahrzehnten bestehenden Kooperationen mit russischen Universitäten und Forschungseinrichtungen auf unbestimmte Zeit unterbrochen oder gänzlich beendet haben.

Deshalb werden hier drei dieser Dokumente in Auszügen übersetzt und so für ein deutschsprachiges Publikum dokumentiert.

Am 24. Februar wurde ein "Offener Brief russischer Wissenschaftler und Wissenschaftsjournalisten gegen den Krieg mit der Ukraine" veröffentlicht (Externer Link: https://t-invariant.org/2022/02/we-are-against-war/). Diesem Aufruf haben sich bis zum 2. März 2022 mehr als 6100 Unterzeichner*innen angeschlossen. In dem Text heißt es:

"Wir, russische Wissenschaftler und Wissenschaftsjournalisten, erklären unseren entschiedenen Protest gegen die kriegerischen Handlungen, die von den Streitkräften unseres Landes auf dem Territorium der Ukraine begonnen wurden. Dieser fatale Schritt führt zu großen menschlichen Opfern und erschüttert die Grundlagen, die dem System der internationalen Sicherheit zugrunde liegen. Die Verantwortung für die Entfesselung eines neuen Krieges in Europa liegt vollständig auf Russland.

Für diesen Krieg gibt es keine vernünftigen Begründungen. […] Es ist vollkommen klar, dass die Ukraine keine Bedrohung für die Sicherheit unseres Landes darstellt. Der Krieg gegen sie ist ungerechtfertigt und offensichtlich sinnlos.

Die Ukraine war und ist ein Land, das uns sehr nahe ist. Viele von uns haben in der Ukraine Verwandte, Freunde und Kollegen. Unsere Väter, Großväter und Urgroßväter haben gemeinsam gegen den Nationalsozialismus gekämpft. Die Entfesselung eines Krieges aufgrund der geopolitischen Ambitionen der Führung der RF [Russischen Föderation RK], die von fragwürdigen historischen Phantasien geleitet wird, ist ein zynischer Verrat an ihrem Andenken.

Wir respektieren die ukrainische Staatlichkeit, die sich auf funktionierende demokratische Institutionen stützt. Wir haben Verständnis für die Entscheidung unserer Nachbarn für Europa. Wir sind davon überzeugt, dass alle Probleme in den Beziehungen unserer Staaten friedlich gelöst werden können. […]

Indem Russland den Krieg entfesselt hat, hat es sich selbst zur internationalen Isolation verurteilt und sich in die Position eines Paria-Landes begeben. Für uns Wissenschaftler bedeutet das, dass wir unsere Arbeit nicht mehr in der gewohnten Weise fortsetzen können, denn wissenschaftliche Forschung ist ohne die umfassende Kooperation mit Kollegen aus anderen Ländern nicht denkbar. Die Isolierung Russlands bedeutet die weitere kulturelle und technologische Degradierung unseres Landes ohne jede positive Perspektive. Der Krieg mit der Ukraine ist ein Schritt ins Nichts.

[…] Wir fordern, dass die Souveränität und die territoriale Integrität des ukrainischen Staates respektiert werden. Wir fordern Frieden für unsere Länder."

Einen "Offenen Brief russischer Historiker gegen den Krieg mit der Ukraine" (Externer Link: https://docs.google.com/forms/d/e/1FAIpQLSfGnGJbaEzHgcovcOZ-AvwXcXESefK49X9GH1EyNyLg02y7Hg/viewform) haben bis zum 2. März 2022 mehr als 550 Personen unterschrieben; jeweils auch mit ihrer institutionellen Affiliation. In dem Schreiben heißt es:

"Wir, russische Historiker – Wissenschaftler, Dozenten, Studenten, Doktoranden und Absolventen historischer Fakultäten – erklären unseren entschiedenen Protest gegen die kriegerischen Aktivitäten, die russische Streitkräfte auf dem Gebiet des souveränen Staates Ukraine.

In der Vergangenheit sind viele vernichtende Kriege und aggressive Handlungen mit dem Hinweis auf die historische Unzulänglichkeit anderer Staaten und Völker begründet worden. Im 21. Jahrhundert ist eine solche Manipulation der Geschichte unannehmbar. Streitfragen müssen in Diskussionen, bei diplomatischen Verhandlungen und wissenschaftlichen Konferenzen gelöst werden, aber nicht auf dem Schlachtfeld.

Alle Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zeigen, dass Kriege mit Katastrophen für alle Beteiligten enden. Der Einsatz von Waffen führt zu Opfern in der Zivilbevölkerung, zur Zerstörung von Gebäuden und Kommunikationseinrichtungen und am Ende zu einer humanitären Katastrophe. […]

Die Ukraine war und ist für Russland ein wirkliches Bruderland, mit dem uns verwandtschaftliche, freundschaftliche und berufliche Beziehungen verbinden, unsere gemeinsame historische Erfahrung. Wir sprechen über das Heldentum unserer Völker während des Großen Vaterländischen Krieges. […]

In der Zukunft werden wir auf die Fragen unserer Kinder und Enkel nach den Gründen der Katastrophe antworten müssen, die sich vor unseren Augen abspielt. Uns allen, der russischen Gesellschaft, steht die große Aufgabe bevor, unserer Verantwortung für diese Ereignisse gerecht zu werden.

Wir fordern die sofortige Beendigung des Krieges."

Direkt an Vladimir Putin wenden sich die "Absolventen, Studenten, Doktoranden und Mitarbeiter des MGIMO" (Externer Link: https://docs.google.com/document/d/1uAiGSF97ysGKbzC3-6qDGNb0xb6xjvHcKChsQtx9Af4/edit).

Beim MGIMO handelt es sich um die Kaderschmiede des russischen Außenministeriums; praktisch alle russischen Diplomaten werden dort ausgebildet. Auch ihrem Selbstverständnis nach gehören Absolventen des MGIMO zur Elite des russischen Staatsapparates. Dies macht diesen Text so bemerkenswert. Am 2. März haben bereits mehr als 1200 Personen unterschrieben.

"Wir, Absolventen, Studenten, Doktoranden und Mitarbeiter des Moskauer Staatlichen Instituts für Internationale Beziehungen MGIMO des Außenministeriums der Russischen Föderation, die diesen Aufruf unterzeichnet haben, lehnen die Militäraktionen der Russischen Föderation auf dem Territorium der Ukraine kategorisch ab.

Wir halten es für moralisch inakzeptabel, zur Seite zu treten und zu schweigen, während Menschen in einem Nachbarstaat sterben. Sie sterben durch die Schuld derer, die Waffen der friedlichen Diplomatie vorgezogen haben.

In seiner Geschichte hat Russland hat sich immer wieder für die Verteidigung der Schwachen eingesetzt und sie unterstützt, auch wenn dies einen hohen Preis erforderte. Die Führer unseres Staates haben trotz aller ideologischen Differenzen selbst die schwierigsten Krisensituationen friedlich gelöst. Wir fordern, dass diese außenpolitische Tradition auch heute fortgeführt wird: Truppen vom Territorium der Ukraine müssen abziehen, die Bombardierung ukrainischer Städte muss enden und ein ehrlicher Verhandlungsprozess muss beginnen – ohne Ultimaten und Kapitulationsforderungen an die andere Seite. […]

Wir sind für das Leben und Arbeiten in einer offenen Welt ausgebildet. Wir bereiten uns darauf vor, Repräsentanten eines Landes zu sein, für das die ganze Welt offen steht – und Russland ist offen für die ganze Welt. Uns wurden Diplomatie, internationales Recht, journalistische Standards beigebracht, uns wurde der Wert internationaler Zusammenarbeit erklärt, von Kooperationen, kulturellem Austausch. Besonderer Wert wurde immer auf die Bedeutung internationaler Anstrengungen zur Schaffung einer internationalen Übereinkunft zur Reduzierung von Atomwaffen gelegt.

Die Handlungen der russischen Streitkräfte auf dem Territorium der Ukraine haben Bedingungen geschaffen, angesichts derer die Umsetzung der Werte, die uns im Laufe unseres Studiums beigebracht wurden, unmöglich erscheint.

Wir, die Absolventen, Studenten, Doktoranden und Mitarbeiter des MGIMO, streben danach, die traditionellen außenpolitischen Werte Russlands zu bewahren: Sicherheit, friedliche Zusammenarbeit und Dialog. Aber wenn diese Werte in der gegenwärtigen Situation von der offiziellen Position des Außenministeriums und des Staates insgesamt abweichen, haben wir keine Scheu uns offen zu ihnen zu bekennen."

Diese Dokumentation wurde erstmals am 3. März 2022 veröffentlicht. Einen Tag später, am 4. März, verabschiedete die Staatsduma ein Gesetz, das für die Verbreitung von "falschen Nachrichten" über das Militär und die sogenannte "Spezialoperation" in der Ukraine Geldbußen oder Haftstrafen von bis zu 15 Jahren vorsieht. Das Gesetz wurde sofort rigoros angewendet. Abgesehen von wenigen Einzelfällen und individuellen Manifestationen des Protests endete damit das massenhafte öffentliche Auftreten gegen den Krieg. Angesichts der Repressionsdrohung des Staates zogen sich die meisten Unzufriedenen ins Private zurück, viele verließen in den letzten Monaten das Land. Der Widerstand gegen den Krieg ist damit nicht erloschen, aber sein Umfang nahm ab. Seitdem dominierten öffentlich weniger sichtbare Protestformen. Und auch das gehört zur Realität dieses Krieges: Die meisten russischen Wissenschaftler*innen, Studierenden oder Journalist*innen versuchen sich mit den Verhältnissen zu arrangieren oder unterstützen die Politik ihrer Regierung.

Erstveröffentlicht: 03.03.2022. Aktualisiert: 29.06.2022

Quelle: Kindler, Robert: Russlands Wissenschaftler*innen protestieren – Offene Briefe gegen den Krieg. In: Zeitgeschichte Online, 03.03.2022, Externer Link: https://zeitgeschichte-online.de/themen/russlands-wissenschaftlerinnen-protestieren

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