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Analyse: Russische wirtschaftliche Anomalie 2022: Ein Blick aus Unternehmensperspektive | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Russische wirtschaftliche Anomalie 2022: Ein Blick aus Unternehmensperspektive Russland-Analyse Nr. 435

Andrei Yakovlev

/ 16 Minuten zu lesen

Andrei Yakovlev meint, dass die russische Wirtschaft nach dem 24. Februar keine Entwicklungsaussichten hat und das obwohl die Unternehmer erfahren im Umgang mit wirtschaftlichen Schocks sind.

(© picture alliance/Sergei Bobylev/TASS/dpa)

Zusammenfassung

In der Analyse werden Gründe für die verhältnismäßig hohe Widerstandsfähigkeit der russischen Wirtschaft 2022 untersucht. Die grundlegenden Faktoren werden im Verhalten der Unternehmen ausgemacht, die die Folgen des abrupten Abbruchs wirtschaftlicher Beziehungen mit Industrieländern gemildert haben. Gleichzeitig zeigt sich, dass der versperrte Zugang zu Technologien für Unternehmen und der Rückgang der Nachfrage Chancen für wirtschaftliche Entwicklung blockieren.

Einleitung

Die Verhängung umfangreicher internationaler Sanktionen gegen Russland nach Beginn des Krieges gegen die Ukraine wurde von Prognosen begleitet, die einen Zusammenbruch des Finanzsystems und einen Rückgang des russischen BIP um 10 bis 15 Prozent pro Jahr vorhersagten. Die Panik auf dem Devisenmarkt Ende Februar/ Anfang März, die drastische Beschleunigung der Inflation und der Produktionsstopp bei den Automobilfabriken wegen fehlender Bauteile stimmten mit diesen Prognosen überein. Gegen Ende des Frühjahrs begann sich die Lage jedoch zu stabilisieren und die Schätzungen zum Rückgang des BIP schwankten zwischen 2,5 und 3,0 Prozent; die letzte Schätzung der Statistikbehörde "Rosstat" belief sich gar auf lediglich 2,1 Prozent (siehe Externer Link: https://www.bbc.com/news/business-64708832). Warum haben die standardmäßigen theoretischen Modelle, von denen bei der Ausarbeitung der internationalen Sanktionen ausgegangen wurde, und aufgrund derer angenommen wurde, dass die Wirtschaft Russlands auf eine tiefgreifende Krise zusteuert, nicht gestimmt?

Ganz allgemein läuft die Antwort darauf hinaus, dass neben makroökonomischen Faktoren, die traditionell bei der Erstellung von Wirtschaftsprognosen berücksichtigt werden, auch verhaltensbasierte Faktoren zu berücksichtigen sind, die sich auf früheren Erfahrungen, Erwartungen und Anreize der wirtschaftlichen Akteure stützen.

Offensichtlich haben 2022 auf die Lage der Wirtschaft in Russland widersprüchliche Folgen eingewirkt, die die Beschränkungen für die russischen Exporte hatten. Während sich das physische Volumen der russischen Exporte bei einigen Positionen verringerte, machten sich auch die merklich gestiegenen Preise für Öl und andere Rohstoffe bemerkbar. Das führte zu gestiegenen Einnahmen des Staatshaushaltes und Gewinnsteigerungen der größten Unternehmen. Dies wiederum stützte die Nachfrage auf dem Binnenmarkt. Der Importstopp nach Russland, den viele global agierende Unternehmen verhängten, und auch die Beschränkungen für die Kapitalausfuhr aus Russland (unter anderem durch "persönliche Sanktionen") förderten eine Stärkung des Rubelkurses. Der Rückzug ausländischer Unternehmen aus Russland bedeutete objektiv eine Verringerung der Konkurrenz in vielen Branchen und eine Einnahmensteigerung bei russischen Firmen, die jetzt die freigewordenen Marktnischen besetzen. Allerdings war die "nicht standardgemäße" Reaktion der russischen Wirtschaft auf externe Schocks – wie schon früher – nicht nur von objektiven Makrofaktoren bestimmt, sondern vielfach auch von den Stimmungen und Erwartungen bei den Firmen.

Diese verhaltensbezogenen Aspekte beim Vorgehen der wirtschaftlichen Akteure lassen sich nicht allein aufgrund statistischer oder finanzieller Daten feststellen, da diese Art Information stets vergangene Zeiträume betreffen und erst mit einer gewissen Verzögerung verfügbar sind. Hierbei sind für eine Analyse qualitative Untersuchungsmethoden vonnöten, die mit Hilfe von Interviews mit Unternehmensleitungen, Branchenverbänden und Expert:innen sowie von branchenbezogenen Fallstudien arbeiten.

Die empirische Basis für diese Arbeit besteht aus 27 Tiefeninterviews darunter eine Reihe von Interviews mit Direktor:innen großer Industrieunternehmen im Frühjahr 2022 sowie mit Leiter:innen von IT-Firmen und Dienstleistungsunternehmen im Herbst 2022. Hinzu kamen Interviews mit Vertreter:innen von Unternehmensverbänden und Branchenexpert:innen im Verlauf des Jahres. Mit sechs Befragten aus dieser Stichprobe wurde im Januar und Februar 2023 ein zweites Interview geführt.

Durch eine Analyse dieser Interviews lassen sich folgende Faktoren für die Widerstandsfähigkeit der russischen Wirtschaft im Jahr 2022 herausarbeiten:

  • Frühere Erfahrungen und der Umstand, dass Unternehmen eine "Bereitschaft für schlechte Zeiten" entwickelt haben

  • Das Marktverhalten der meisten Firmen (einschließlich staatlicher Unternehmen)

  • Die Kommunikationskanäle der Unternehmen zum Staat sowie die Mechanismen staatlicher Förderung

  • Die persönliche, individuelle Wahrnehmung der Sanktionen und des Drucks auf Russland als "berufliche Herausforderung"

Im weiteren Verlauf soll jeder dieser Faktoren genauer betrachtet werden.

Frühere Erfahrungen und eine Einstellung auf schlechte Zeiten

Die vielen wirtschaftlichen Erschütterungen der letzten 15 Jahre (unter anderem die globalen Krisen von 2008/09 und 2020, aber auch die Krise von 2014/15 aufgrund der Sanktionen nach der Annexion der Krim und wegen des Konflikts im Donbass, das Embargo auf Getreideexporte 2010/11 sowie die Handelsblockade mit der Türkei 2015/16) haben bei den russischen Unternehmen für eine besondere psychologische Einstellung gesorgt. Da sie ständig auf plötzlich entstehende Probleme stießen, die nicht durch die eigene Tätigkeit bedingt waren, begannen die Unternehmer, in der ständigen Erwartung "schwarzer Schwäne" (black swans ) nach Nassim Taleb zu leben. Dadurch haben die "Schwäne", wenn sie dann tatsächlich landeten, eine weniger desorientierende und demotivierende Wirkung. Es geht hier aber nicht nur um Psychologie. Auf der praktischen Ebene drückte sich die Erwartung, dass es zu negativen Szenarien kommen könnte, in größeren materiellen Reserven aus (auch von Vorräten an Rohstoffen und Bauteilen), sowie durch eine geringere Verschuldung gegenüber Banken und Zulieferern und durch "flexiblere" Verhaltensmuster gegenüber Mitarbeiter:innen.

Diese Faktoren hatten zur Folge, dass die russische Realwirtschaft angesichts der unterbrochenen Lieferketten 2020 eine sehr viel größere Widerstandsfähigkeit zeigte. Die Lehren der Coronapandemie haben den Unternehmern deutlich gemacht, dass diese Ansätze begründet waren. Und dass sie in der Praxis beibehalten wurden, half 2022, die Auswirkungen externer Schocks abzumildern.

Aus Sicht der Standardtheorie der globalen Wertschöpfungsketten können zu große materielle Vorräte als ineffizient gelten. Angesichts der Realitäten in Russland erweist sich jedoch für Unternehmer das Prinzip "Besser vorgesorgt als in die Röhre geschaut" als sicherer. Hier lässt sich folgende Analogie ziehen: Unter normalen Bedingungen die ganze Zeit mit einem Helm herumzulaufen oder gar damit zu schlafen, ist unbequem. Wenn die Erfahrung Sie jedoch gelehrt hat, dass Ihnen wirklich jederzeit ein Ziegel auf den Kopf fallen kann, dann ist es besser, mit Helm zu gehen und zu schlafen. 2022 ist den russischen Firmen wieder einmal ein Ziegel auf den Kopf gefallen. Durch die entwickelte Angewohnheit, auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein, haben es die meisten von ihnen geschafft, nur mit einer Delle im Helm davonkommen.

Dabei muss man sich bewusst machen, dass ein "ständiger Helm" mit erheblichen Mehrkosten verbunden ist. Daher sollte einen nicht verwundern, dass die mittleren Wachstumsraten der russischen Wirtschaft von 2012 bis 2021 rund ein Prozent jährlich betrugen. Das war erheblich weniger als in den USA (von China ganz zu schweigen). Das bedeutet, dass ein solches Modell allein auf Überleben ausgerichtet ist, und nicht auf Entwicklung.

Das Marktverhalten der meisten Unternehmen

Aufgrund vielzähliger früherer Studien (die sich oft auf Daten aus den 1990er oder beginnenden 2000er Jahren stützten) hat sich in Expert:innenkreisen und in der Wissenschaft die Vorstellung herausgebildet, dass in der russischen Wirtschaft viele ineffiziente "Rent-Seeking"-Firmen erhalten geblieben sind. Auch die These von einer "Dominanz des Staates in der Wirtschaft" ist weit verbreitet.

Die Realität ist allerdings komplizierter als diese Vorstellungen. In den 30 Jahren seit den Reformen der 1990er Jahre ist die russische Wirtschaft zu einer Marktwirtschaft geworden. Die Ausweitung der Präsenz des Staates in "strategisch wichtigen Sektoren", die seit Mitte der 2000er Jahre in unterschiedlicher Form einsetzte, hat ihren marktwirtschaftlichen Charakter nicht verändert. Die überwiegende Mehrheit der Unternehmen ist auf dem Markt tätig und lässt sich von Marktanreizen leiten. Die Krise von 2014/15 (bei der der Staat den Unternehmen keine erhebliche Hilfe geleistet hatte) hat eine Säuberung der Wirtschaft von ineffizienten Firmen angestoßen. Das betraf Branchen, in denen überwiegend private Unternehmen tätig waren. Doch auch das Verhalten von Staatsunternehmen wurde marktwirtschaftlicher, weil die Anforderungen an die Topmanager erhöht wurden und die Regierung die Endergebnisse ihrer Tätigkeit schärfer kontrollierte.

Einer der marktwirtschaftlichen Aspekte im Verhalten russischer Unternehmen ist die veränderte Haltung gegenüber Mitarbeiter:innen, als nämlich angesichts der Pandemie von 2020 viele Unternehmer bestrebt waren, qualifiziertes Personal zu halten. 2022 zählte zu den Anpassungsstrategien von Unternehmen die Lieferkettenoptimierung. Ebenso gab es überaus große Anstrengungen, neue Zulieferer, eine flexible Preispolitik und Investitionen in substituierende Produktionen zu finden. Das Ziel war dabei letztlich sicherzustellen, dass die Produktion nicht stockt, und sei es auf Kosten eines verringerten technologischen Niveaus. Und es war eben den Anstrengungen der Unternehmen zu verdanken, dass die Wirtschaft insgesamt einen tiefen Einbruch abwenden konnte.

Kommunikation mit dem Staat und Mechanismen staatlicher Förderung

Eine erhebliche Rolle hat 2022 angesichts der stressenden Bedingungen gespielt, dass der Wirtschaftsblock der Regierung in der Lage war, Krisenbewältigungsmaßnahmen wirksam umzusetzen und mit den Unternehmen im Dialog zu bleiben. Seit 2008 ist in dieser Hinsicht zweifellos ein Fortschritt zu verzeichnen. Die für die Wirtschaft zuständigen Ministerien sowie Behörden und die Zentralbank haben aus jeder neuen Krise ihre Lehren gezogen, und ihre Reaktionen waren bei jeder neuen Krise angemessener. Am bezeichnendsten sind hier die Erfahrungen bei der Coronapandemie, als die russische Regierung erstmals eine große Bandbreite staatlicher Unterstützungsmaßnahmen für kleine und mittlere Unternehmen auf den Weg brachte (z. B. vergünstigte Kredite und Subventionen zur Beschäftigungssicherung). Nach Einschätzung der Unternehmen wurde die Förderung im Großen und Ganzen nach klaren Kriterien verteilt und war auch für gewöhnliche Firmen zugänglich, die keine "Beziehungen zur Politik" hatten. Und im Frühjahr 2022 dann setzte die Regierung sehr schnell – neben außerordentlichen Maßnahmen der Zentralbank zu Stabilisierung des Devisenmarktes – die Mechanismen staatlicher Förderung ein, die schon 2020 funktionierten und ihre Wirksamkeit zeigten. So startete die Regierung analog zur Pandemiezeit bereits im April 2022 ein Programm für vergünstigte Kredite, das einem breiteren Kreis von Firmen zugänglich ist.

Es ist anzunehmen, dass die erhöhte Wirksamkeit der Fördermechanismen zum Teil auf die Erfahrungen mit den internationalen Sanktionen von 2014 zurückzuführen ist. Die verhängten Sanktionen hatten deutlich gemacht, wo die bisherige Industriepolitik gescheitert war, und zu einem erhöhten Druck des Kreml auf die Bürokratie geführt. Es wurde mehr Kompetenz eingefordert, eine stärkere Ergebniskontrolle vorgenommen und auf der unteren und mittleren Ebene des Staatsapparates mit Strafen gegen Korruption vorgegangen. In diesem Zusammenhang können die vielen Strafverfahren jener Zeit (z. B. wegen der unterschlagenen Milliarden beim Weltraumbahnhof Bajkonur) nicht nur als Indikator für das Ausmaß der Korruption aufgefasst werden, sondern auch als Signal, dass die Risiken für die Bürokrat:innen erhöht wurden. Bezeichnend ist, dass gerade in dieser Zeit neue Mechanismen staatlicher Förderung entstanden, die auf den Grundsätzen der "neuen Industriepolitik" nach Dani Rodrik beruhen (siehe https://drodrik.scholar.harvard.edu/files/dani-rodrik/files/industrial-policy-twenty-first-century.pdf). Eines der Beispiele hierfür ist der "Fonds zur Entwicklung der Industrie", der seit 2016/17 regelmäßig in Umfragen unter Mitgliedern des RSPP als ein effektiv funktionierendes "Entwicklungsinstitut" erwähnt wird.

Zudem ist zu erwähnen, dass die Unternehmensleitungen zur Erörterung der Ausgestaltung der Krisenbewältigungsmaßnahmen hinzugezogen wurden, sowohl direkt (im Falle von Großunternehmen), als auch über Unternehmensverbände. Dabei war bei gleichen Parametern der Gang durch die Coronapandemie in jenen Branchen leichter, in denen die Regierung im Dialog mit den Unternehmen stand. In den Worten eines/r Expert:in klang das so: "[…] wenn die Unternehmer:innen und Bürokrat:innen früher noch individuell und informell zusammenarbeiteten, so sind während Corona Mechanismen kollektiver Zusammenarbeit entstanden: Die CEOs der Firmen versuchten nicht, nur das eigene Unternehmen zu retten, sondern auch die Branche als Ganzes. Es gab auf WhatApp bis dahin unerhörte Chats von Top-20-Unternehmern der Forbes-Liste… Der Kitt für diese Zusammenarbeit war eine äußere Gefahr, nämlich Corona".

Diese Praxis wurde 2022 fortgesetzt. Nach Eindrücken von einem Arbeitstreffen mit Unternehmer:innen im Ministerium für Industrie und Handel Anfang 2023 unterstrich eine der teilnehmenden Expert:innen: "Die Unternehmen erbitten nicht Geld, sondern sprechen von langfristiger Finanzierung – und der Staat kommt ihnen entgegen… Das Akademiemitglied Polterowitsch hat 25 Jahre von Institutionen nachholender Entwicklung, indizierter Planung und Koordinierungsmechanismen im Sinne Dani Rodriks gesprochen und geschrieben. Es scheint, als würde das alles jetzt in der Praxis umgesetzt […]".

Der Gerechtigkeit halber muss man zugestehen, dass seinerzeit in Südkorea, Singapur und Taiwan eine solche konstruktive Zusammenarbeit zwischen Staat und Unternehmerschaft ebenfalls unter extremen Bedingungen zustande kam – als nämlich die Existenz des Staates auf dem Spiel stand. Und diese Krise war für die Unternehmen und die Regierung leichter durch eine Zusammenarbeit zu bewältigen. Die Transformation einer solchen Zusammenarbeit hin zu nachhaltig bestehenden Institutionen eines "Entwicklungsstaates" (developmental state) erfolgte in all diesen Ländern vor dem Hintergrund einer Einbindung ihrer Volkswirtschaften in die globale Arbeitsteilung und eines Eintritts der nationalen Unternehmen in externe Märkte. Dabei ermöglichte gerade der Umstand, dass die Ausrichtung auf Exporte in die Märkte entwickelter Länder als Indikator für die Wirksamkeit staatlicher Förderung betrachtet wurde, dass die negativen Folgen enger Kontakte zwischen Unternehmen und dem Staatsapparat begrenzt wurden, was in vielen Ländern sonst in Korruption gemündet hätte. Der Unterschied zur heutigen Lage in Russland besteht darin, dass für russische Unternehmen der Weg auf die Märkte entwickelter Länder in beträchtlichem Maße versperrt ist, und dass sie auf dem chinesischen oder indischen Markt von niemandem groß erwartet werden.

Reaktion auf die Sanktionen als "berufliche Herausforderung"

In einigen Interviews mit Unternehmer:innen waren Äußerungen zu hören, in denen die "militärische Spezialoperation" unterstützt wurde. Sehr viel typischer jedoch war die Wahrnehmung, dass die Sanktionen eine Bedrohung darstellen, die die Unternehmen und das Geschäft der Befragten zerstören kann, wo doch Jahre aufgewendet wurden, sie aufzubauen und es zusammengewachsene Belegschaften (und die Verantwortung für sie), eine Reputation und eine Nische auf dem Markt gibt. Daher haben nicht nur die Eigentümer:innen, sondern auch die Manager:innen "sich festgebissen, um ihr Unternehmen zu retten".

So ging es bei den IT-Chef:innen großer Organisationen um koordinierte Anstrengungen, damit die zuvor entwickelten IT-Systeme bewahrt werden. Gleichzeitig mussten sie den Übergang zu russischer Software gewährleisten, den Ankauf von Technologie organisieren und das Team zusammenhalten. Die Notwendigkeit, all diese Aufgaben schnell zu lösen, wurde von den Befragten als "berufliche Herausforderung" aufgefasst, die eine zusätzliche Motivation zur Überwindung der Folgen der Krise bildete. Eine/r der Befragten hob zudem hervor, dass der starke Stress von 2022 für die IT-Industrie Anreize schuf, zu neuen Geschäftsmodellen überzugehen.

Dabei ist zu betonen, wie sich die Stimmung der Befragten nach der "Teilmobilisierung" vom September 2022 verändert hat. Am Ende des Frühjahrs und im Frühsommer 2022 überwog das Gefühl, dass man sich zusammenreißen und versuchen müsse, die Probleme des Unternehmens angesichts der internationalen Sanktionen zu lösen; danach werde sich alles wieder normalisieren. Hierzu hatte auch die Informationspolitik des Kreml beigetragen. Nach der Mobilisierung stellte sich das Bewusstsein ein, dass der Krieg lang andauern wird und jetzt alle betrifft. Vor diesem Hintergrund zeigten sich bei Top-Manager:innen sehr viel häufiger Apathie oder ein "berufliches Burnout", wie es eine/r der Befragten formulierte.

Unterschiede in den verschiedenen Segmenten

Alles oben Gesagte trifft im Großen und Ganzen auf die großen und mittleren Unternehmen zu. Sie hatten traditionell mehr Möglichkeiten einer Kommunikation mit dem Staat, sowohl einer direkten wie auch der über Unternehmensverbände. In vielen Branchen haben große Unternehmen das Jahr 2022 mit hohen Gewinnen abgeschlossen, und zwar nicht nur aufgrund der günstigen außenwirtschaftlichen Konjunktur, sondern auch, weil ausländische Unternehmen sich vom russischen Markt zurückzogen und auf dem Binnenmarkt für russische Produzenten Nischen frei wurden. Diese zusätzlichen Gewinne wurden auch deshalb möglich, weil die Preise in dieser Zeit stiegen, während die Kosten für die Unternehmen (vor allem Lohnkosten) sich nicht groß veränderten.

Bei den kleinen Unternehmen ist die Lage komplizierter. Hier sind die Ergebnisse einer formalisierten Umfrage bei 1.200 Mikro- und Kleinunternehmen kennzeichnend, die von der "Stiftung Öffentliche Meinung" (FOM) im Dezember 2022 für das "Institut für Industrie- und Marktanalysen" der Higher School of Economics durchgeführt wurde. Die Umfrage ergab, dass bei 20 Prozent der Befragten die Einnahmen 2022 gegenüber 2021 gestiegen, bei 35 Prozent gleichgeblieben, und bei 45 Prozent zurückgegangen sind. Dabei erging es folgenden Kategorien besser: kleine Unternehmen mit 15 oder mehr Mitarbeiter:innen (im Unterschied zu kleineren Unternehmen); Unternehmen, die in vier oder mehr Regionen tätig sind (anders als die, die in nur 1 – 2 Regionen arbeiten), und Unternehmen, die auf eine Nachfrage durch den Staat oder – in geringerem Maße – durch Unternehmen setzen (anders als jene, bei denen die Bevölkerung der wichtigste Kunde ist).

Zu erwähnen sind auch die Unterschiede in Abhängigkeit vom Segment, auf das die Unternehmen ausgerichtet sind. Dies wird durch zwei Fälle aus dem Bereich der zahnmedizinischen Dienstleistungen recht deutlich. Beim ersten handelt es sich um ein größeres Netz von Kliniken, die auf die Mittelschicht ausgerichtet waren. Bereits im Frühjahr bekam das Netz eine stark sinkende Nachfrage zu spüren, im Sommer erfolgten dort erhebliche Gehaltskürzungen, worauf viele Mitarbeiter:innen kündigten. Beim zweiten Fall handelt es sich um eine Spitzenklinik, die sich auf komplizierte, teure Operationen konzentriert. Im März und April 2022 kaufte diese Klinik eilig Vorräte an Verbrauchsmaterialien und Bauteilen, um die nächsten 7 – 8 Monate reibungslos ihre Dienste anbieten zu können. Wegen des damaligen Devisenkurses wurden diese Ankäufe zu sehr hohen Preisen getätigt (was die Manager später bedauerten), doch sind all diese Ausgaben durch die anhaltend hohe Nachfrage nach den Leistungen der Klinik kompensiert worden. Allerdings hat sich die Kundschaft geändert: Waren es früher Top-Manager aus den Büros global agierender Unternehmen, die in Moskau arbeiteten, so sind es jetzt Beamte des Moskauer Bürgermeisteramtes.

Einige Schlussfolgerungen

Die wichtigsten Faktoren, warum die russische Wirtschaft erfolgreich durch das Jahr 2022 kam, sind ihr marktwirtschaftlicher Charakter, der es den Firmen ermöglichte, sich an die radikale Veränderung der externen Bedingungen anzupassen, die Kompetenz des Wirtschaftsblocks der Regierung und dessen effektive Kommunikation mit den Unternehmen, sowie die hohen Einnahmen des Staatshaushalts und der großen Unternehmen, die als Faktor für eine Nachfragesteigerung eine Rolle spielen.

Als Zwischenergebnisse der Anpassung an die neuen Bedingungen sind zu nennen:

  • Umorientierung bei den Einkäufen von Komponenten und Bauteilen in Richtung China und Indien: Die Produktionsprozesse werden bei verringerter Qualität und Effizienz aufrechterhalten.

  • Wiederherstellung des Kreditvolumens; Kredite für Investitionen in den Aufbau neuer Produktionen, die die weggefallenen Lieferungen ersetzen.

  • Beschleunigte Entwicklung russischer IT-Produkte

  • Horizontale und vertikale Koordinierung (in der Logik einesdevelopmental state ).

Lässt sich daraus der Schluss ziehen, dass sich die russische Wirtschaft erfolgreich an die neuen Bedingungen angepasst hat (in der Logik der Prognose des Finanzministeriums, die bereits für 2023 eine Zunahme des BIP um 0,3 % erwartet; siehe: Externer Link: https://www.euronews.com/my-europe/2023/01/31/imf-improves-economic-forecast-for-the-eurozone-and-russia-amid-energy-crisis-and-raging-w)? Berücksichtigt man die "substituierenden Investitionen" in die Entwicklung von IT-Produkten und in die Schaffung neuer Produktionen, könnte die Prognose des Finanzministeriums sich 2023 bewahrheiten. Allerdings ist auch die andere Seite der Medaille zu beachten. Russische Firmen konnten zwar 2022 zu chinesischen und türkischen Bauteilen übergehen, erleben aber bereits Probleme mit den Anlagen, und bei diesen Problemen ist keine Lösung in Sicht. Eine weitere Aufrechterhaltung der Produktionsprozesse (was 2022 die vorrangige Aufgabe war) hängt von einer anhaltenden Nachfrage in der Wirtschaft ab. Und hier muss man sich vor Augen führen, dass die Nachfrage durch den Staat schrumpfen wird und Grundlagen für einen Anstieg der privaten Nachfrage nicht erkennbar sind. Mehr noch: Es zeichnet sich das Risiko einer makroökonomischen Destabilisierung aufgrund eines wachsenden Haushaltsdefizits ab.

Ein weiterer wichtiger Faktor ist mit den Erwartungen verbunden. Der Beginn des Krieges war ein Schock, der bei sehr vielen eine panische Stimmung hervorrief, was sehr gut an der Lage auf dem Devisenmarkt abzulesen war. Unter diesen Umständen war das Vorgehen der Zentralbank zur Stabilisierung der Finanzmärkte nicht nur für das Bankensystem wichtig, sondern auch zur Stabilisierung der Stimmungen und Erwartungen in der Bevölkerung und bei den Unternehmen. Dann wurden Maßnahmen zur staatlichen Förderung eingeleitet, es begann eine Rentenerhöhung, durch Parallelimporte pendelte sich die Anlieferung von Waren wieder ein und bei den Menschen stellte sich das Gefühl ein: "Ja, der Krieg ist sehr schlecht. Doch er ist weit weg. Und überhaupt ist das kein Krieg, sondern eine Spezialoperation, die uns nicht betrifft. Wir können weiterleben wie früher." Das war zweifellos nur deshalb möglich, weil es dem Staat und den großen Unternehmen finanziell gut ging.

Die ganze Situation sorgte für das Gefühl, dass man weiterleben könne wie früher. Unsere Interviews im Frühjahr und Sommer 2022 haben gezeigt, dass viele Unternehmer davon ausgingen, dass es ja schon seit 2014 Sanktionen gab, dass man sie damals umging, dass man das jetzt auch irgendwie hinkriegen werde, und dass die westlichen Geschäftspartner sich ja auch ins Zeug legen müssen und trotzdem schon etwas liefern werden. Dabei zählte man angesichts der gestiegenen Zinssätze der Zentralbank auf ein Programm für vergünstigte Kredite (das tatsächlich umgehend aufgelegt wurde). Gleichzeitig zogen sich ausländische Unternehmen vom Markt zurück und es war klar – auch wenn ein Rückgang der Nachfrage erwartet wurde –, dass auf dem Markt Nischen frei würden. Etwa bei Möbeln, die natürlich kein Produkt des Primärbedarfs sind, und wo die Nachfrage schrumpfen wird. Aber "Ikea" ist abgezogen, und das sind 15 – 20 Prozent des Marktes – ein gutes Stück vom Kuchen, für das es sich zu kämpfen lohnt. Vereinzelt bestand bei Unternehmer:innen die Erwartung, dass sie beim Wiederaufbau der "befreiten Gebiete" beteiligt würden.

Bis zum September 2022 waren all diese Stimmungen insgesamt ein starker psychologischer Faktor, der unter anderem Auswirkungen auf den Konsum hatte, und auf die Investitionen (die für eine Anpassung an die neuen Bedingungen und die Besetzung der frei gewordenen Marktnischen notwendig waren). Die Mobilmachung vom September, zu der die Regierung mehrfach versprochen hatte, dass es sie nicht geben werde, bedeutete einen Umbruch. Nach dem 21. September wurden sich alle – sowohl auf der Ebene der Unternehmen wie auch in den regionalen Zivilverwaltungen – bewusst, dass dies jetzt auch ihr Krieg ist. Zudem war völlig unklar, wann und wie er enden würde. Das wird meiner Ansicht nach hinsichtlich der Erwartungen langfristig einen sehr starken negativen Faktor darstellen, dessen Auswirkungen wir 2023 sehen werden – zusammen mit einem Rückgang der Haushaltseinnahmen, einer zwangsweisen Gewinnabschöpfung bei großen Unternehmen, wachsenden Problemen bei der Anlieferung importierte Bauteile und einer schrumpfenden Nachfrage.

Wenden wir uns der Ausgangsfrage zu den standardmäßigen theoretischen Modellen und die auf ihnen basierenden Vorhersagen über einen tiefen Einbruch der russischen Wirtschaft 2022 unter dem Druck der Sanktionen zu, die sich nicht bewahrheitet haben: Ja, es ist nicht das erste Mal, dass Russland die entstandenen Stereotype hinter sich lässt. Und bei einer Analyse der Realitäten in Russland müssen die verhaltensbezogenen Faktoren und die entwickelten Schutzreaktionen der wirtschaftlichen Akteure auf die ständigen Schocks in sehr viel höherem Maße berücksichtigt werden. Auf längere Sicht hebt das alles aber nicht die sich aus der Theorie ergebende Schlussfolgerung auf, dass die russische Wirtschaft nach dem 24. Februar keine Entwicklungsaussichten hat. Und diese Sackgasse wird 2023 mit großer Wahrscheinlichkeit der Masse der Bevölkerung bewusst werden.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

Quellen / Literatur

Gaddy, C.; B.W. Ickes: Russia’s Virtual Economy, in: Foreign Affairs, 77.1998, Nr. 5, S. 53–67.

Fussnoten

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Andrei Yakovlev ist Gastwissenschaftler am Davis Center für Russland- und Eurasienstudien an der Universität Harvard sowie leitender Forscher am Institut für Industrie- und Marktforschung der Higher School of Economics Moskau. Er ist einer der führenden russischen Expert:innen für Analysen der Politökonomie von Reformen, der Beziehungen zwischen Staat und Unternehmen und der Industriepolitik. 2002 – 2003 war er Humboldt-Stipendiat und Gastwissenschaftler an der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. 2017 erhielt er den Gaidar-Preis für Wirtschaft.