Politische Partizipation von Menschen mit Migrationshintergrund
Andreas M. Wüst
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Was ist über die politische Partizipation von Eingewanderten und ihren Nachkommen bekannt? Welche Faktoren erklären Unterschiede der politischen Partizipation? Ein Überblick.
Wie in anderen liberalen Demokratien, gibt es auch in Deutschland unterschiedliche Möglichkeiten und Formen politischer Partizipation, die verschiedenen Personengruppen in unterschiedlichem Maße offenstehen. Neben der Beteiligung an Wahlen umfasst politische Partizipation partei- und wahlkampfbezogene Aktivitäten, das Kontaktieren von Politikerinnen und Politikern, politischen Protest (Demonstrationen), Konsumverhalten (Kauf oder Boykott) oder die Beteiligung in zivilgesellschaftlichen Organisationen mit politischen Zielsetzungen.
Die am häufigsten von den Bürgerinnen und Bürgern genutzte Partizipationsform, das Wahlrecht, beschränkt das Grundgesetz auf "das Volk" (Art. 20 und 38 GG) – wenn auch nicht explizit, wie in anderen Grundgesetzartikeln, auf das "deutsche Volk". Den Versuch der Länder Hamburg und Schleswig-Holstein, Ende der 1980er Jahre ein Interner Link: kommunales Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer einzuführen, hat das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1990 mittels zweier Entscheidungen (BVerfGE 83, 37-81) Absagen erteilt. Das Recht zu wählen (aktives Wahlrecht) und gewählt zu werden (passives Wahlrecht), ist auf den staatlichen Ebenen (Bund, Land) deutschen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern vorbehalten. Auf der kommunalen und der Europawahlebene sind EU-Bürgerinnen und -Bürger deutschen Staatsangehörigen gleichgestellt. Bürgerinnen und Bürger eines Landes, das nicht der EU angehört (Drittstaatsangehörige), besitzen folglich kein Wahlrecht in Deutschland.
Dieser Beitrag gibt einen Überblick über die politische Partizipation von Menschen mit Interner Link: Migrationshintergrund in Deutschland. Zwei grundsätzliche Anmerkungen sind vorauszuschicken: Erstens steigen Interner Link: Anzahl und Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in der Gesamtbevölkerung kontinuierlich. Darunter finden sich aber auch Interner Link: immer mehr Menschen, die keine eigene Migrationserfahrung haben, sondern als Kinder von Zugewanderten in Deutschland geboren wurden und aufgewachsen sind. Aufgrund unterschiedlicher Einbürgerungsmuster und Altersstruktur dominiert unter den Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund (deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger ab 18 Jahre) allerdings die erste Generation, also Menschen, die selbst nach Deutschland zugewandert sind und damit über unmittelbare Migrationserfahrung verfügen. Durch das Aufwachsen im In- oder Ausland (Sozialisation) ergeben sich unterschiedliche Einflüsse auf politisches Verhalten.
Zweitens war und ist die Datengrundlage zur Partizipation von Menschen mit Migrationshintergrund unbefriedigend, denn die meisten Studien weisen mindestens eines der folgenden Defizite auf: eine unzureichende Differenzierung des Migrationshintergrunds, eine selektive Auswahl (häufig auch keine echte Stichprobe) oder eine sehr geringe Fallzahl, insbesondere für Teilgruppen. Deshalb unterliegen die Ergebnisse etlicher Studien Einschränkungen.
Bevölkerung und Wahlberechtigte mit Migrationshintergrund
Über ein Viertel der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland (27,2 Prozent / 22,3 Millionen) besaß im Jahr 2021 einen Migrationshintergrund. Die größte Teilgruppe bilden Menschen aus Interner Link: ehemaligen Anwerbeländern für Arbeitsmigration (8,4 Prozent der Bevölkerung Deutschlands), darunter vor allem Türkeistämmige (3,4 Prozent), die auch insgesamt die größte Gruppe von Menschen mit Migrationshintergrund stellen; an zweiter Stelle innerhalb dieser Gruppe kommen Menschen aus dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien (2,4 Prozent). Die zweitgrößte Teilgruppe der Bevölkerung mit Migrationshintergrund besteht aus Menschen, die aus Ländern mit einem hohen Anteil an Interner Link: (Spät-)Aussiedlerinnen und -aussiedlern (8,2 Prozent der Gesamtbevölkerung) kommen, vor allem Polen (2,7 Prozent), Russland (1,6 Prozent), Kasachstan (1,5 Prozent) und Rumänien (1,2 Prozent). Seit Ende der Abschottung der Staaten des Interner Link: Warschauer Pakts wandern aus diesen Ländern allerdings auch viele Menschen nach Deutschland ein, die keine deutschen Vorfahren haben. Darüber hinaus bilden inzwischen Menschen mit syrischem Migrationshintergrund, die vor allem im Rahmen der Interner Link: umfangreichen Fluchtzuwanderung 2015/16 nach Deutschland gekommen sind, eine signifikante Gruppe innerhalb der Bevölkerung (1,3 Prozent).
Tabelle 1: Bevölkerung Deutschlands nach Geburtsland bzw. Herkunftsland der Eltern – ausgewählte Gruppen (in 1000)
Bevölkerung insgesamt
81 875
Davon mit Geburtsland bzw. Herkunftsland der Eltern
Im Hinblick auf politische Partizipation ist es notwendig, sich auch die Gruppe der Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund näher anzusehen. Es zeigt sich, dass im Jahr 2021 lediglich 13,6 Prozent der Wahlberechtigten einen Migrationshintergrund hatten. Dies liegt zum einen darin begründet, dass nur etwa die Hälfte der Menschen mit Migrationshintergrund die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, die wiederum die Voraussetzung dafür ist, in Deutschland wählen zu dürfen. Zum anderen ist der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund unter Kindern und Jugendlichen, die nicht wahlberechtigt sind, deutlich höher als unter Erwachsenen – so hatten im Jahr 2021 in Deutschland rund 40,4 Prozent aller Kinder unter fünf Jahren einen Migrationshintergrund.
Unter Wahlberechtigten ist die Teilgruppe aus einstigen Anwerbeländern mit 3,2 Prozent deutlich kleiner als die Teilgruppe aus Aussiedlerländern mit 6,3 Prozent. Dies rührt auch daher, dass (Spät-)Aussiedlerinnen und Aussiedler bei ihrer Einreise die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten. Wie Abbildung 1 zeigt, kamen 2021 mit 3,6 Prozent die meisten Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion (darunter aus Kasachstan 1,6 Prozent und aus Russland 1,4 Prozent) sowie aus Polen mit 2 Prozent. Die Wahlberechtigten mit türkischem und ex-jugoslawischen Hintergrund machen mit zusammengerechnet 2,4 Prozent einen eher geringen Teil aller Wahlberechtigten aus. Ihr Anteil dürfte aber durch das im Jahr 2000 eingeführte Geburtsortprinzip (Interner Link: ius soli) im Staatsangehörigkeitsgesetz und derzeitige Einbürgerungsmuster in Zukunft weiter steigen, wodurch sich die Unterschiede in der Zusammensetzung der Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund zur Zusammensetzung der Bevölkerung mit Migrationsgeschichte insgesamt verringern werden. Hinzu kommen mittlerweile auch Geflüchtete, vor allem aus Syrien, die in zunehmender Zahl eingebürgert werden können.
Blickt man auf die Zusammensetzung nach Generationen, zeigt sich, dass mehr als 60 Prozent der Wahlberechtigen mit Migrationshintergrund eigene Migrationserfahrung haben, also selbst nach Deutschland zugewandert sind.
Befunde zur politischen Partizipation von Menschen mit Migrationshintergrund
Unterscheidet man lediglich zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund, dann zeigt sich in sämtlichen Untersuchungen der letzten beiden Jahrzehnte, dass sich Menschen mit Migrationshintergrund politisch seltener beteiligen als Menschen ohne Migrationshintergrund. Dies gilt für die Beteiligung an Wahlen, aber auch für die meisten anderen Formen politischer Partizipation. Am geringsten fallen die Unterschiede bei politischem Protest wie der Teilnahme an Demonstrationen aus. Mitunter werden für diese Form politischer Beteiligung sogar leicht überdurchschnittliche Partizipationsraten der Bevölkerung mit Migrationshintergrund gemessen.
Eine naheliegende mögliche Erklärung für diese Beteiligungsunterschiede liegt im Integrationsgrad: Wer in einem anderen Land geboren wurde und noch nicht so lange in Deutschland lebt, ist weniger mit dem Land, seinen politischen Akteuren und auch mit Möglichkeiten der politischen Beteiligung vertraut. Möglicherweise steht nach der Einwanderung Politik (zunächst) auch nicht ganz oben auf der Prioritätenliste, sondern eher Spracherwerb, Bildung, Beschäftigung und soziale Integration. Empirische Analysen bestätigen, dass es Beteiligungsunterschiede nach Generation und Aufenthaltsdauer gibt, ebenso mit Blick auf die Frage, ob Wahlberechtigte der Ansicht sind, dass sie politische Sachverhalte verstehen können (internal efficacy). Letzteres hängt neben ausreichenden Sprachkenntnissen auch von politischem Interesse und politischer Bildung ab. Detaillierte Ergebnisse auf eine summarische Frage aus dem Integrationsbarometer des Sachverständigenrats für Integration und Migration veranschaulichen den Generationeneffekt, der sich nicht nur beim politischen Engagement (Abbildung 2), sondern auch bei der zivilgesellschaftlichen Partizipation in Vereinen zeigt.
Wer einen Migrationshintergrund hat und im Ausland geboren wurde, partizipiert seltener, und dabei spielt es keine große Rolle, ob diese Person mittlerweile eingebürgert wurde oder nicht. Unterschiede im Partizipationsgrad bei der ersten Generation hängen unter anderem davon ab, ob Menschen in einem demokratischen Land aufgewachsen sind und politische Partizipation kennen, sie einüben und verinnerlichen konnten, oder ob das nicht der Fall war. Unter den Kindern von Einwanderinnen und Einwanderern (zweite Generation) bestehen hinsichtlich des Partizipationsgrades merkliche Unterschiede, je nachdem ob sie Nachkommen eines oder zweier Elternteile aus einem anderen Land sind und ob sie die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen: Wer lediglich ein migrantisches Elternteil oder die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, beteiligt sich häufiger politisch.
Ressourcen wie Bildung, höheres Alter, berufliche Integration und die eigene Einschätzung, politische Prozesse verstehen und an ihnen sinnvoll teilnehmen zu können, sind allgemein förderliche Aspekte politischer Partizipation. Ressourcen dieser Art sind für die erste, aber auch für die zweite Generation von Einwanderinnen und Einwanderern besonders wichtig für politische Partizipation. Und Ressourcen sind vom Einwanderungsland beeinflussbar: Frühzeitige Integrationsmaßnahmen und -angebote tragen zu einer höheren Wahrscheinlichkeit politischer Partizipation bei, ebenso die Offenheit des Landes in Form einer "Willkommenskultur" – auch in Institutionen (Vereine, Parteien) – sowie eine Bleibeperspektive, zu der auch ein einladendes Staatsbürgerschaftsrecht zählt. Gerade die soziale Einbindung und soziales Engagement erzeugen soziales Kapital, das wiederum eine Ressource für politische Partizipation ist.
Wer wenige Ressourcen (Sprachkenntnisse, Bildung, Sozialkapital) besitzt oder aufbauen konnte, ist auch eher geneigt, sich nicht als Teil des Gemeinwesens zu verstehen. Diskriminierungserfahrungen können ebenfalls dazu führen, sich vom Gemeinwesen zu distanzieren. Wer das Land eher verlassen bzw. nur vorübergehend bleiben möchte, ist kaum motiviert, sich in Deutschland politisch zu beteiligen. Neben Ressourcen sind daher Motivation in Form von politischem Interesse oder der Bindung an eine politische Partei sowie direkte Mobilisierung partizipationsfördernde Faktoren.
Mobilisierung bedeutet dabei mehr als Offenheit, sondern das Werben um Personen, sich zu beteiligen. Auch wenn im Zusammenhang von Mobilisierung und Menschen mit Migrationshintergrund nicht von einem konsolidierten Forschungsstand gesprochen werden kann, gibt es Indizien dafür, dass direkte Ansprache die Wahlbeteiligung erhöht. In einer regionalen Studie in Baden-Württemberg 2013 betrug die Beteiligungsdifferenz zwischen Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund, die angaben, direkt angesprochen worden zu sein, sich politisch zu beteiligen, und solchen, die nicht angesprochen wurden, 15 Prozentpunkte. Unter den Menschen ohne Migrationshintergrund war diese Differenz um die Hälfte kleiner.
Aufgrund geringer Fallzahlen einzelner Gruppen in Studien, teils geringer Unterschiede und Fluktuationen über die Zeit lässt sich über Unterschiede der politischen Partizipation nach Herkunftsland oder Herkunftslandgruppen wenig allgemeingültig sagen. Offenbar beeinflussen andere Faktoren als das Herkunftsland die politische Partizipation stärker: Ressourcen (vor allem Bildung), Motivation (hier vor allem politisches Interesse) und womöglich auch eine Mobilisierung tragen erheblich zu politischer Beteiligung bei. Einige dieser Ressourcenbündel werden jedoch durch die hier diskutierten migrations- und integrationsspezifischen Faktoren beeinflusst.
ist Professor für Politikwissenschaft, Hochschule München University of Applied Sciences. Seine Forschungsschwerpunkte sind die empirische Wahl- und Repräsentationsforschung.