Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Nur "Zaungäste in der Kommunalpolitik"? | Migration und politische Partizipation | bpb.de

Migration und politische Partizipation Die parlamentarische Repräsentation von Menschen mit Migrationsgeschichte im Bundestag Migrationspolitisches Engagement von Gewerkschaften und gewerkschaftliches Engagement von Migranten Einbürgerung – Vehikel oder Belohnung für Integration? Die anhaltenden Debatten über das Ausländerwahlrecht in Deutschland The persistence of debates on voting rights for foreign residents in Germany Migration und Demokratie Migrantische Selbstorganisierung als demokratische Praxis Politische Präferenzen von Menschen mit Migrationshintergrund Politische Partizipation von Menschen mit Migrationshintergrund Nur "Zaungäste in der Kommunalpolitik"?

Nur "Zaungäste in der Kommunalpolitik"? Ausländer- und Integrationsbeiträte als Möglichkeit politischer Partizipation

Deniz Nergiz

/ 9 Minuten zu lesen

Was sind Integrationsbeiräte und welche Aufgaben haben sie? Warum wurden sie gegründet und vor welchen Herausforderungen stehen sie? Das erläutert die Geschäftsführerin des Bundeszuwanderungs- und Integrationsrats, Deniz Nergiz, im Interview.

Da Zugewanderte ohne die Staatsangehörigkeit eines EU-Landes in Deutschland nicht wählen dürfen, gibt es in vielen Kommunen mit hohem Ausländeranteil Ausländer- bzw. Integrationsräte. Sie vertreten die Interessen der migrantischen Bevölkerung vor Ort und stärken somit auch das demokratische Mitbestimmungsprinzip. (© picture-alliance, imageBROKER | Marijan Murat)

In Externer Link: 14 der 27 EU-Mitgliedstaaten haben Eingewanderte, die nicht die Staatsangehörigkeit eines EU-Landes besitzen (sogenannte Drittstaatsangehörige), ganz oder teilweise das Recht, an Interner Link: Kommunalwahlen teilzunehmen. In Deutschland ist das nicht der Fall, wodurch 6,83 Millionen hier lebende Menschen (Drittstaatsangehörige, Interner Link: Staatenlose und Personen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit) nur eingeschränkte Möglichkeiten der politischen Mitbestimmung haben. In vielen Gemeinden gibt es deshalb sogenannte Ausländer- und Integrationsbeiräte.

Frau Nergiz, wann wurden die ersten Ausländerbeiräte gegründet und warum?

Die ersten Ausländerbeiräte wurden Anfang der 1970er Jahre in den Kommunen gegründet, um die Belange der immer pluraler werdenden Bevölkerung in der Kommunalpolitik aufzugreifen. Das war eine Zeit, in der sich viele der sogenannten Interner Link: Gastarbeiter*innen und ihre Familien langsam für den Verbleib in Deutschland entschieden. Deutschland hatte aber damals keine passenden politischen Maßnahmen, um Eingewanderten das Einleben und Einfinden in der Gesellschaft zu erleichtern. Auch fehlte das Selbstverständnis, ein Einwanderungsland zu sein. Die Möglichkeiten der politischen Einflussnahme von Eingewanderten waren sehr begrenzt. Die Ausländerbeiräte hatten von Anfang an eine doppelte demokratische Legitimation: Einerseits sind sie Gremien der kommunalen Selbstverwaltung (im Sinne von Artikel 28 des Grundgesetzes): d.h. ihre Satzungen, ihre Zusammensetzung, ihre Rechte und Pflichten werden von den lokalen Stadt- oder Gemeinderäten beschlossen. Andererseits waren die Beiräte in der Anfangsphase die politische Vertretung von Ausländer*innen. Heute vertreten sie alle Menschen mit Interner Link: Migrationshintergrund und beraten die Organe der Gemeinde in allen Angelegenheiten, die die migrantische Bevölkerung betreffen.

Wie haben sich Ausländer- bzw. Integrationsbeiräte und deren Arbeit seitdem entwickelt? Und welche Rolle spielen seit ihrer Gründung die Landesverbände und der Bundeszuwanderungs- und Integrationsrat?

Im Laufe der Jahre haben sich die Beiräte immer weiter institutionalisiert und etabliert. So kam es beispielsweise in den 1980er Jahren zur Etablierung der Urwahl, bei der Ausländer*innen ihre Vertreter*innen in den jeweiligen Beiräten gewählt haben. Ende der 1980er Jahre wurden zudem Landesorganisationen gegründet, um die Interessen der kommunalen Beiräte zu bündeln und in die Landespolitik zu tragen. Mit der Einführung des kommunalen Wahlrechts für Unionsbürger*innen Mitte der 1990er Jahre änderte sich die Situation: Seither sind die Beiräte für Eingewanderte aus Nicht-EU-Staaten oft das einzige Mittel, Einfluss auf das politische Geschehen zu nehmen und ihre Sichtweisen und Erfahrungen in die Politik einzubringen. Allerdings haben die Beiräte nur beratende Funktion. Der Bundeszuwanderungs- und Integrationsrat (BZI), gegründet unter dem Namen Bundesausländerbeirat, entstand dann 1998 als Zusammenschluss der Landesverbände.

Eines zeigte die Gründung der Landesverbände und des Bundesausländerbeirats deutlich: dass sich die Beiräte nicht ausschließlich in der Rolle des Lückenbüßers für ein fehlendes kommunales Wahlrecht für bestimmte eingewanderte Gruppen sahen. Stattdessen strebten sie an, die gesellschaftspolitischen Entwicklungen und Veränderungen parallel zu den kommunalen Strukturen auf Länder- und Bundesebene kritisch zu begleiten.

Was genau macht der Bundeszuwanderungs- und Integrationsrat?

Alle Projekte des BZI sind darauf ausgerichtet, Menschen mit Einwanderungsgeschichte über die verschiedenen Möglichkeiten der Teilhabe innerhalb der freiheitlich demokratischen Grundordnung zu sensibilisieren: Ziel ist es, die politische, rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung von deutschen Staatsangehörigen ohne Migrationshintergrund und hier lebenden Menschen mit Einwanderungsgeschichte herzustellen. Dazu gehören Projekte wie "KommPAktiv", bei dem ehrenamtliche Beiräte für Migration und Integration fit für die Kommunalpolitik gemacht werden sollen, oder "Hilfe, ich bin im Vorstand!", ein Unterstützungsangebot für ehrenamtliche Vorstandsarbeit. Unsere Projekte gehen aber auch über die Unterstützung der Integrationsbeiräte hinaus: die "Politik Akademie der Vielfalt" beispielsweise bietet ein diverses Programm aus Workshops und Empowerment für junge Menschen mit Migrationsbezug, die sich für politisches Engagement interessieren und sich hierfür aus- und weiterbilden möchten.

In der Anfangsphase hießen die lokalen Gremien Ausländerbeiräte. Inzwischen heißen sie in vielen Kommunen Integrationsbeiräte. Warum?

Die Umgestaltung vieler Ausländerbeiräte zu Integrationsbeiräten Ende der 1990er/Anfang der 2000er Jahre betont mit der neuen Namensgebung die Wahrnehmung einer vielfältigen Gesellschaft. Damit wird zudem deutlich, dass ein breiteres Themenfeld abgedeckt wird: Integrationsbeiräte befassen sich nicht mehr nur mit Themen der Integration von Eingewanderten, sondern mit gesamtgesellschaftlichen Themen wie zum Beispiel Interner Link: Rassismus und Interner Link: Rechtsextremismus.

Die Beiräte wurden auch diverser, weil der Kreis der Wahlberechtigten erweitert wurde und die Zusammensetzung damit vielfältiger geworden ist. Während ursprünglich ausschließlich ausländische Staatsangehörige die Mitglieder der Beiräte wählen durften, können heute in vielen Kommunen auch Interner Link: (Spät-)Aussiedler*innen und eingebürgerte Migrant*innen über die Besetzung abstimmen.

Unterscheiden sich die Beiräte von Kommune zu Kommune bzw. von Bundesland zu Bundesland?

In einigen Bundesländern schreiben die Kommunalverfassungen vor, dass Gemeinden ab einem bestimmten Anteil migrantischer Einwohner*innen einen Integrationsrat einrichten müssen. In anderen Bundesländern enthalten die Kommunalverfassungen lediglich Kann-Regelungen, die es den Kommunen freistellen, solche Gremien ins Leben zu rufen. Genauso verschieden stellen sich die Entscheidungskompetenzen dar. In einigen Kommunen müssen die Beiräte in bestimmte Entscheidungen eingebunden werden, in anderen Kommunen können die Beiräte lediglich appellieren, angehört zu werden. Die Beiräte unterscheiden sich untereinander auch dadurch, wie sie in der kommunalen Verwaltung verankert sind: einige sind bei dem*der Oberbürgermeister*in angesiedelt, wieder andere bei bestimmten Dezernaten oder den kommunalen Integrationsbeauftragten.

In einigen Kommunen gibt es Integrationsausschüsse statt der üblichen Integrationsbeiräte. Diese unterscheiden sich darin, dass sie mehr Befugnisse hinsichtlich der Verbindlichkeit von Entscheidungen haben und somit laut ihrer Unterstützer*innen auch mehr bewirken können. Solche Integrationsausschüsse bestehen jedoch mehrheitlich aus gewählten oder berufenen Mitgliedern der Kommunalpolitik und -verwaltung. Da Drittstaatsangehörige nicht über ihre Zusammensetzung mitbestimmen können, lautet die berechtigte Kritik an den Integrationsausschüssen, dass sie ihre Möglichkeiten politischer Mitbestimmung aushebeln.

Die Landesverbände der kommunalen Integrationsbeiräte wiederum sind von der kommunalen Selbstverwaltung unabhängige Zusammenschlüsse. In der Regel sind sie eingetragene Vereine und finanzieren sich durch Projektarbeit. In einigen Bundesländern, z. B. Rheinland-Pfalz, Hessen und Saarland, werden sie von der Landesregierung auch institutionell gefördert.

Als politische Gremien vertreten Integrationsbeiräte nicht nur die Interessen der migrantischen Bevölkerung vor Ort, sondern stärken damit auch das demokratische Mitbestimmungsprinzip, indem sie vielen Migrant*innen einen Einstieg in und eine Motivationsquelle für weitergehende politische Partizipation bieten. Sie bringen die Sichtweisen und Erfahrungen von Menschen in die Kommunalpolitik, die kein Wahlrecht haben, aber dennoch aktiv unsere Gesellschaft mitgestalten.

Gibt es im Bereich der Integrationsbeiräte Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland? Wenn ja, welche?

Der größte Unterschied liegt in ihrer Anzahl: In Ostdeutschland gibt es deutlich weniger solcher Gremien als in Westdeutschland. Die Gründe dafür sind vielfältig: Der Anteil von Eingewanderten und ihren Nachkommen in der Bevölkerung ist in den ostdeutschen Bundesländern geringer als in den westdeutschen. Zudem hatten die Interner Link: ausländischen Vertragsarbeiter*innen in der DDR kaum Rechte; eine Debatte über ihre politische Teilhabe gab es nicht. Erst nach der Wende konnten Gremien der Vertretung der ausländischen Bevölkerung entstehen, beispielsweise der Ausländerbeirat Erfurt, der 1992 als erster Ausländerbeirat in Ostdeutschland entstand. Bis heute gibt es in den ostdeutschen Bundesländern aber keine Verpflichtung, ab einer bestimmten Ausländerzahl vor Ort einen Beirat einzurichten, wie es beispielsweise in Rheinland-Pfalz oder NRW gesetzlich vorgeschrieben ist. Darüber hinaus gibt es keine Integrationsbeiräte auf Landesebene. Deshalb sind die wenigen existierenden kommunalen Beiräte Teil von Landesnetzwerken von Interner Link: Migrant*innenorganisationen – z.B. MigraNetz Thüringen oder MigraNet MV in Mecklenburg-Vorpommern.

Eine Kritik an den Integrationsbeiräten lautet, dass sie den Status Quo aufrechterhalten, wonach Menschen aus Drittstaaten vom kommunalen Wahlrecht ausgeschlossen bleiben, auch wenn sie schon seit Jahrzehnten in Deutschland leben. Wo sehen Sie vor diesem Hintergrund die Potenziale und Grenzen dieser Gremien?

Zunächst muss betont werden, dass es nicht die Ausländer- bzw. Integrationsbeiräte sind, die die Einführung des Interner Link: Kommunalwahlrechts für Drittstaatsangehörige ausbremsen, sondern die Politik. Zwar haben sich in der Vergangenheit Gerichte – u.a. das Bundesverfassungsgericht Anfang der 1990er Jahre – mit der Frage der Einbeziehung von in Deutschland lebenden Ausländer*innen bei Kommunalwahlen befasst und sie negativ beschieden. Gleichzeitig haben sie aber dem Bundestag, also der Bundespolitik die Aufgabe übertragen, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, da für die Einführung des Kommunalwahlrechts für in Deutschland lebende Drittstaatsangehörige eine Grundgesetzänderung vonnöten ist. Seitdem hat sich vieles in diesem Land gewandelt – nicht nur der Anteil von Drittstaatsangehörigen an der Gesamtbevölkerung und das Selbstverständnis Deutschlands als Einwanderungsland. Ein Ausschluss von Nicht-EU-Bürger*innen vom Kommunalwahlrecht ist angesichts dieser Veränderungen und vor dem Hintergrund eines wachsenden Anteils an Drittstaatsangehörigen in vielen Städten immer schwieriger zu rechtfertigen. Die Ausländer- bzw. Integrationsbeiräte, ihre Landesorganisationen und wir als Dachverband sehen daher die Notwendigkeit, dass die Bundespolitik darauf reagieren und die Zweidrittelmehrheit mobilisieren sollte, um eine Grundgesetzänderung durchzusetzen, die nach Deutschland eingewanderten Drittstaatsangehörigen die Beteiligung an Kommunalwahlen erlaubt.

Die Beiräte würden sich aber durch die Einführung des Kommunalwahlrechts für Drittstaatsangehörige nicht erübrigen – denn in Zeiten, die von Mobilität geprägt sind, beispielsweise dem Zuzug von Geflüchteten aus Kriegsgebieten, wird es immer wieder Gruppen geben, die zeitweise von bestimmten politischen Rechten ausgeschlossen sind. Die Integrationsbeiräte sind für diese Gruppen ein zentraler Ankerpunkt in den Kommunen, um Politik nahbarer und gleichzeitig bekannter zu machen. Außerdem gibt es auch Gruppen und Individuen, die sich nicht einbürgern lassen möchten oder können, aber trotzdem in diesen Gremien mitwirken und die Kommunalpolitik mitgestalten. Ganz flapsig formuliert: Es werden ja auch nicht Gremien für Jugendliche und Kinder überflüssig, nur weil sie mit 16 oder 18 Jahren wählen dürfen.

Allerdings sind die Integrationsbeiräte mit großen Herausforderungen konfrontiert. Diese liegen vor allem in den ungünstigen Rahmenbedingungen für diese Gremien. Ihnen fehlt oft die finanzielle und personelle Ausstattung, um ihrer politischen Beobachterrolle als legitimierte politische Interessenvertretung gerecht werden zu können. Auch die Arbeit der Landesverbände und des BZI werden durch finanzielle Unsicherheit erschwert.

Die aktuelle Bundesregierung hat sich mit dem geplanten Demokratiefördergesetz das Ziel gesetzt, gerade auch die demokratische Teilhabe zu stärken – das ginge aus unserer Sicht am besten durch eine institutionelle Förderung der kommunalen Integrationsbeiräte, der Landesverbände und des BZI. Bislang finanzieren sich diese Gremien zu einem großen Teil über eingeworbene Projektmittel.

Die Notwendigkeit von mehr Diversität in etablierten politischen Strukturen sowie die Pluralisierung der Akteure*innen in Politik, Verwaltung und Gesellschaft ist in den letzten Jahren zum Modevokabular geworden. Mehr Diversität und eine diversitätsorientierte Öffnung sind aber keineswegs Selbstläufer. Dafür braucht es eine Neuverteilung der Repräsentation und Gestaltungsmacht. Denn eine plurale Demokratie bedeutet eben auch plurale Akteur*innen und ihr Wissen miteinzubeziehen sowie ihre Mitbestimmung sicherzustellen.

Welche Änderungen würden Sie sich von Seiten der Politik für bessere Partizipationsmöglichkeiten für Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland wünschen?

Im Interner Link: Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90 / Die Grünen und FDP steht viel Gutes, was uns Mut macht – insbesondere in den Bereichen Vielfalt und Teilhabe. Dazu zählt auch die geplante Vereinfachung des Einbürgerungsverfahrens, etwa durch die Hinnahme von Interner Link: mehrfachen Staatsbürgerschaften oder die erleichterte Einbürgerung für Menschen der "Gastarbeiter*innen"-Generation, die viel für den Wohlstand unseres Landes geleistet hat. Lobenswert ist auch die Übernahme unserer Forderungen, ein Partizipationsgesetz zu verabschieden und einen Partizipationsrat einzuführen. Auch das entschiedene Vorgehen gegen Rassismus auf allen Ebenen – darin eingeschlossen struktureller Interner Link: Rassismus – begrüßen wir nachdrücklich.

Leider gibt es nach wie vor keine Bemühungen, ein allgemeines kommunales Wahlrecht einzuführen. Menschen mit Migrationsgeschichte, die keinen deutschen Pass oder die Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedslandes haben, bleiben damit Zaungäste in der Kommunalpolitik und werden von wichtigen Entscheidungen vor ihrer Haustür ausgeschlossen.

Die Fragen stellte Jonas Lehnen.

Weitere Inhalte

Über die Interviewpartnerin:
Dr. Deniz Nergiz leitet seit 2018 die Geschäftsstelle des Bundeszuwanderungs- und Integrationsrats (BZI). Zuvor war sie sie in der Wissenschaft tätig und im Bundestag als wissenschaftliche Referentin im Bereich Migrations- und Integrationspolitik beschäftigt. Der BZI ist ein Zusammenschluss der Landesorganisationen kommunaler Integrations-, Migrations- und Ausländerbeiräte, der seit 1998 die Interessen der migrantischen Bevölkerung Deutschlands auf Bundesebene vertritt und unter anderem Bundesregierung und Deutschem Bundestag als Ansprechpartner dient.