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Russlands Überfall auf die Ukraine und die kriegsbedingte Flucht

Franck Düvell

/ 10 Minuten zu lesen

Im ersten Jahr seit Beginn des Kriegs gegen die Ukraine wurden viele Millionen Menschen innerhalb der Ukraine vertrieben oder flohen außer Landes. Ausblick: ungewiss.

Grabie, Gemeinde Wieliczka, Polen: Am 23. Februar 2023 versammeln sich ukrainische Kinder um eine Karte der Ukraine und zeigen auf ihre Heimatstädte während einer Zeremonie zum Gedenken an den Jahrestag der russischen Invasion. (© picture-alliance, NurPhoto | Artur Widak)

Am 24. Februar 2022 Interner Link: überfiel Russland die Ukraine. Diese Worte sind bewusst gewählt, erinnert der Überfall doch an den Interner Link: Überfall von Nazi-Deutschland auf Polen 1939. Damals wie heute war es Ausdruck einer revanchistischen Politik: Deutschland hatte den ersten Weltkrieg verloren und wollte alte Größe wiedererlangen, während am Ende des Kalten Kriegs Externer Link: die Sowjetunion zusammenbrach – sie war gescheitert. Etliche ehemalige sozialistische Republiken schlossen sich daraufhin ab 1999 als neue unabhängige Staaten Interner Link: NATO und Interner Link: EU an. Russland scheint nun eine Externer Link: Revanche zu wollen und strebt danach, seinen stark geschrumpften Externer Link: Machtbereich wieder auszudehnen. Dies geht mit einer autoritären Innenpolitik in Russland und seinem engsten Verbündeten Belarus sowie der Interner Link: Unterdrückung jedweder Opposition einher. Mit dem Überfall kehrten Krieg, Vertreibung, Deportationen und Flucht nach Europa zurück. Es ist aktuell der weltweit einzige zwischenstaatliche Krieg und zugleich größte Konflikt, gemessen an der Anzahl der Kämpfenden und der Opfer mit einer der Externer Link: größten Fluchtbewegungen seit dem Zweiten Weltkrieg (Stand: Februar 2023). Der Überfall weckt Erinnerungen an den Kolonialismus im 19. Jahrhundert, vor allem aber an den Zweiten Weltkrieg sowie die kommunistische Gewaltherrschaft in Osteuropa.

Die russische Invasion betrifft bislang vor allem das dichtbesiedelte wirtschaftliche Herz der Ukraine. Dazu gehören: (1) der Nordosten mit der Hauptstadt Kyjiw, (2) der Osten mit der zweitgrößten Stadt Charkiw sowie der Donbass mit seinen wichtigen Naturressourcen – Gas, Kohle, Erze – und vielen Groß- und Industriestädten, und (3) der Südosten mit seinen Flussmündungen, wichtigen Häfen und bedeutenden Weizenanbaugebieten. Auch die anderen Landesteile sind seit dem Herbst 2022 systematischen Raketenangriffen auf die kritische Infrastruktur ausgesetzt. Odessa im Süden wurde ebenfalls bedroht, insbesondere ein Angriff von See wurde zeitweise befürchtet, dazu kam es schlussendlich aber nicht. Bis Juli 2022 besetzte Russland ein Gebiet von der Größe der Benelux-Staaten (Belgien, Niederlande, Luxemburg); das entspricht etwa 20 Prozent des gesamten Gebietes der Ukraine mit über 2.630 Städten und Dörfern. Direkt betroffen von den Kämpfen und der Besetzung waren zu Beginn der Invasion rund 16 Millionen Menschen, mehr als ein Drittel der gesamten Bevölkerung des Landes.

Flucht und Rückkehr, Vertreibung und Deportation

Die Ukraine hatte bei Kriegsausbruch eine Externer Link: Bevölkerung von etwa 39 Millionen bzw. einschließlich des bereits 2014 besetzten Gebiete Donbass und Krim rund 43 Millionen. Durch natürliche Alterung sowie Auswanderung war die Bevölkerung seit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 um etwa acht Millionen zurückgegangen.

Das kriegsbedingte Wanderungs- und Fluchtgeschehen in der Ukraine hat diverse Formen, verläuft in verschiedene Richtungen und ist dementsprechend sehr komplex. Da ukrainische Staatsangehörige seit 2017 ohne Visum in die EU einreisen dürfen, war die Flucht vor dem Krieg von Beginn an legal möglich. Die EU-Mitgliedstaaten Externer Link: beschlossen zudem kurz nach Kriegsausbruch die 2001 ins Leben gerufene, bis dahin aber nie angewendete Richtlinie über den temporären Schutz – in Deutschland als "Massenzustromrichtlinie" bekannt – zu aktivieren. Dadurch erhalten Geflüchtete aus der Ukraine unbürokratisch einen befristeten Schutzstatus, der ihnen auch Zugang zum Arbeitsmarkt, zum Bildungssystem, zur Gesundheitsversorgung und zu sozialstaatlichen Leistungen gewährt. Allerdings fällt die Externer Link: Ausgestaltung dieser Rechte in den verschiedenen EU-Mitgliedstaaten ganz unterschiedlich und mehr oder weniger großzügig aus.

Zu Beginn des Überfalls Russlands auf die Ukraine flohen täglich bis zu 200.000 Menschen außer Landes. An den Grenzen bildeten sich teilweise bis zu 35 Kilometer lange Schlangen. Flüchtende harrten bis zu drei Tage aus, ehe ihnen die Ausreise gelang. Bislang ungenügend gewürdigt wird die Tatsache, dass die Flucht Großteils in Form einer Externer Link: geordneten Evakuierung mit Bus und Bahn erfolgte, wodurch eine humanitäre Krise vermieden werden konnte. Der relativ geordnete Charakter der Fluchtbewegung setzte sich innerhalb der EU fort, wo die verschiedenen nationalen Eisenbahnen die Weiterreise kostenfrei anboten.

Innerhalb von zwei Monaten nach Kriegsbeginn verließen rund 4 Millionen Menschen die Ukraine. Im ersten Kriegsjahr erfasste Interner Link: UNHCR mehr als Externer Link: 18,8 Millionen Ausreisen aus der Ukraine. Allerdings wurden vom ersten Kriegsmonat an auch Einreisen in die Ukraine registriert, allein 340.000 im März 2022 und Externer Link: 10,4 Millionen bis Februar 2023. Demnach sind mehrere Millionen Menschen inzwischen wieder dauerhaft in die Ukraine zurückgekehrt, während andere öfter, teils sogar regelmäßig hin- und herreisen, wodurch diese Bewegungen teilweise die Form einer Pendelmigration angenommen haben. Auch nach der Ausreise blieben viele UkrainerInnen mobil: so reisten die meisten Schutzsuchenden aus den Erstaufnahmeländern Ungarn, Slowakei, Rumänien und Moldawien Externer Link: in andere Staaten weiter. Diese Mobilität hält bis heute an, insbesondere zwischen den EU-Mitgliedstaaten. Insgesamt haben über Externer Link: 4,8 Millionen UkrainerInnen einen befristeten Schutzstatus erhalten, einschließlich Doppelmeldungen in mehreren Staaten (Stand: 20. Februar 2023). Wie viele von ihnen sich auch tatsächlich in den europäischen Aufnahmestaaten aufhalten, lässt sich vor dem Hintergrund von Rückkehr- und Pendelbewegungen nicht mit Gewissheit sagen. Nach der anfänglich hohen Zahl an neueinreisenden Kriegsflüchtlingen, sind die Zahlen von UkrainerInnen in der EU und auch in Deutschland seit Herbst 2022 weitgehend stabil.

Daneben wurden auch aus Russland 2,85 Millionen Einreisen gemeldet, die sich aber inzwischen als Externer Link: Fälschung erwiesen haben. Solche Zahlen entspringen vielmehr dem russischen Versuch, sich als Befreier der Ukraine und Schutzland von Flüchtenden zu präsentieren. Stattdessen sind schätzungsweise um die zwei Millionen UkrainerInnen kriegsbedingt in Russland, von denen wiederum die überwiegende Mehrheit Externer Link: nicht freiwillig dort ist, sondern entweder evakuiert oder deportiert wurde oder aber gezwungen war, über alternativlose sogenannte Externer Link: "grüne Fluchtkorridore" Richtung Osten zu fliehen. Von diesen zwei Millionen sind aber eigenen Kalkulationen auf der Basis diverser Länderzahlen zufolge inzwischen bereits bis zu 300.000 Externer Link: weitergeflohen, vor allem nach Finnland, Estland, Georgien und wohl auch in die Türkei. In Russland gibt es nach Aussage von AktivistInnen ein diskretes Netzwerk, welches UkrainerInnen bei der Weiterflucht unterstützt.

Binnenvertreibung

Der größere Teil der vom Krieg betroffenen Menschen blieb – wie im Weltmaßstab die Regel – als Binnenvertriebene innerhalb der Ukraine. Bei Kriegsausbruch flüchteten viele Menschen aufs Land in ihre Wochenendhäuschen oder in die Städte im Landesinneren und im Westen, etwa nach Lwiw, Winnyzja, Ternopil, Tscherniwzi und Iwano-Frankiwsk. Die Aufnahmekapazität von Binnenflüchtlingen wird, so kann angenommen werden, auch vom Bevölkerungsrückgang seit der Unabhängigkeit der Ukraine begünstigt. Schätzungen zur Zahl der Binnenflüchtlinge schwanken je nach Quelle. So ging die ukrainische Demographin Ella Libanova im Juni 2022 von Externer Link: zwischen 3,5 und 4 Millionen Binnenflüchtlingen aus, während die Interner Link: Internationale Organisation für Migration (IOM) im Frühjahr 2022 von über Externer Link: 8 Millionen und im Januar 2023 – nach der Rückkehr vieler Geflüchteter – noch von 5,4 Millionen Binnenflüchtlingen sprach. Seit der Interner Link: Annexion der Krim und dem Beginn des Krieges im Osten der Ukraine im Jahr 2014 gab es bereits vor dem 24. Februar 2022 Externer Link: 1,4 Millionen Binnenflüchtlinge. Die meisten lebten in genau jenen Gebieten, die auch 2022 wieder angegriffen wurden. Viele wurden dadurch also bereits zum zweiten oder sogar dritten Mal vertrieben.

Nicht alle Menschen wollen oder können fliehen: Trotz Kriegsgefahr und Beschuss harrten (und harren noch immer) mehrere Millionen Menschen in den Großstädten Kyjiw, Charkiw, Saporischschja und vielen anderen Städten aus. Selbst im umkämpften Donetzk sollen von einst 1,7 Millionen EinwohnerInnen noch etwa Externer Link: 350.000 geblieben sein (20 Prozent). Vor allem ältere Menschen und teils deren pflegende Angehörige, auch mit Kindern, sowie generell jene Externer Link: mit einem niedrigeren Einkommen zählen zu dieser eher immobilen Gruppe.

Nimmt man Binnenflüchtlinge und aus der Ukraine Geflüchtete zusammen, wurden Interner Link: im ersten Jahr des Angriffskriegs mindestens zehn bis zwölf Millionen Menschen vertrieben – über ein Viertel der gesamten ukrainischen Bevölkerung. In den direkt betroffenen Gebieten waren es teils 80 Prozent oder mehr. Diese Fluchtbewegungen sind damit in Europa und auch im Weltmaßstab nicht nur eine der größten seit dem Zweiten Weltkrieg, sie sind auch eine der am schnellsten anwachsenden. So wurden durch den Krieg gegen die Ukraine innerhalb von vier Monaten ungefähr ebenso viele Menschen vertrieben wie in Interner Link: Syrien innerhalb von vier Jahren Bürgerkrieg.

Wer sind die Geflüchteten?

Als Reaktion auf die russische Invasion rief die ukrainische Regierung am 24. Februar 2022 das Kriegsrecht aus und ordnete die Generalmobilmachung an. Sie verbietet Männern zwischen 18 und 60 Jahren (mit einigen Ausnahmen) das Land zu verlassen. Deshalb sind die ins Ausland Geflüchteten überwiegend erwachsene Frauen, etwa 65 Prozent, einschließlich der Mädchen sind über Externer Link: 80 Prozent der Kriegsflüchtlinge weiblich. Insgesamt sind etwa ein Drittel Kinder und Jugendliche, weshalb mit Blick auf die Integration der Geflüchteten insbesondere auch die Bildungssysteme in den Aufnahmeländern gefordert sind. So gingen im Januar 2023 in Deutschland bereits rund 200.000 junge ukrainische Geflüchtete zur Externer Link: Schule. Das Durchschnittsalter der Erwachsenen liegt bei 36 Jahren. Die ins Ausland Geflüchteten sind überdurchschnittlich gut gebildet, über 70 Prozent haben einen Hochschulabschluss, auch in Externer Link: Deutschland sind es 72 Prozent, und weitere 13 Prozent in der EU haben einen Berufsabschluss. In Deutschland waren im Herbst 2022 bereits rund 17 Prozent der Kriegsflüchtlinge im erwerbsfähigen Alter Externer Link: erwerbstätig; deutlich mehr waren es in anderen Ländern, insbesondere in Externer Link: Polen, wo es bis zu 75 Prozent sind.

Bei all dem ist zu berücksichtigen, dass die ukrainische Bevölkerung sehr divers ist; es gab vor Kriegsausbruch 130 Minderheiten im Land – RussInnen, BelarussInnen, MoldawierInnen, TatarInnen (Muslime), BulgarInnen, UngarInnen, Jüdinnen und Juden u.v.a.–, mit zusammen rund zehn Millionen Angehörigen.

Zudem Interner Link: lebten vor dem Krieg mindestens 400.000 AusländerInnen im Land – EU-BürgerInnen, internationale Studierende Externer Link: (überwiegend junge Männer), ArbeitsmigrantInnen sowie Geflüchtete aus Afghanistan und Tschetschenien (letztere oft bereits mit der ukrainischen Staatsbürgerschaft) und vielen anderen Staaten. Auch hatten sich 2020 mehrere zehntausend BürgerInnen aus Interner Link: Belarus sowie 2021 BürgerInnen aus Interner Link: Russland vor Verfolgung in die Ukraine in Sicherheit gebracht, war es doch eines der freieren Länder in der Region.

Wo fanden die Geflüchteten Schutz?

Vor dem Krieg lebten Externer Link: über zwei Millionen UkrainerInnen in der EU: ArbeitsmigrantInnen, Studierende und EhepartnerInnen von EU-BürgerInnen, darunter 150.000-200.000 in Deutschland. Diese bildeten ein bedeutendes Migrationsnetzwerk, welches einen wichtigen Anlaufpunkt für die seit Kriegsbeginn aus der Ukraine geflohenen Menschen darstellt. Die größte Gruppe der geflüchteten UkrainerInnen, Externer Link: über 1,5 Millionen, hält sich in Polen auf (Stand: Februar 2023), wo bereits vor dem Krieg bis zu 1,4 Millionen ukrainische ArbeitsmigrantInnen lebten. Die zweitgrößte Gruppe fand Schutz in Deutschland: am 20. Februar 2023 waren knapp 1,1 Millionen geflüchtete UkrainerInnen im Ausländerzentralregister AZR registriert. Allerdings ist davon auszugehen, dass viele von ihnen inzwischen wieder in die Ukraine zurückgekehrt oder in andere Länder weitergereist sind. Somit halten sich schätzungsweise zwischen Externer Link: 630.000 und höchstens 750.000 ukrainische Geflüchtete tatsächlich noch in Deutschland auf. Daneben fanden rund 490.000 in Tschechien, fast 170.000 in Italien, rund 167.000 in Spanien und rund 162.000 im Vereinigten Königreich sowie knapp 100.000 in der Türkei Schutz (Stand: 20.02.2023). Während Geflüchtete aus der Ukraine in den EU-Staaten den oben erwähnten temporären Schutzstatus mit Zugang zu Sozialhilfe und Arbeitsmarkt erhalten können, werden sie in anderen Staaten, wie der Externer Link: Türkei und Externer Link: Georgien, dagegen de facto nur toleriert, genießen aber keinen rechtsgültigen Status.

Wie geht es weiter?

Je nach Quelle, Land und Befragungszeitpunkt machen die Schutzsuchenden leicht voneinander abweichende Angaben zu ihren Zukunftsplänen. Im April 2022 wollten gemäß Externer Link: einer ukrainischen Umfrage zwei Drittel zurückkehren, im September desselben Jahres gaben dagegen in Externer Link: Polen 64 Prozent an, bis auf Weiteres bleiben zu wollen; in Externer Link: Finnland ergab eine Umfrage im Herbst 2022, dass 27 Prozent der Geflüchteten nicht mehr mit einer Rückkehr in die Ukraine planten, während laut einer Externer Link: Studie in Deutschland 37 Prozent der Geflüchteten "für immer oder mehrere Jahre" im Land bleiben möchten. Der Anteil der Unentschiedenen war in den jeweiligen Umfragen groß, mehr als ein Viertel. Je nach Dauer und Ausgang des Krieges und abhängig von der Sicherheitslage, Geschwindigkeit des Wiederaufbaus, der wirtschaftlichen Erholung und der Jobsituation sowie dem ausländerrechtlichen Status könnten, Externer Link: Prognosen zufolge, bis zu einem Drittel der geflüchteten UkrainerInnen dauerhaft in der EU bleiben und zwei Drittel zurückkehren. Allerdings zeigt sich, dass die Frage nach einem Verbleib im Zufluchtsland oder einer Rückkehr in die Ukraine keine schlichte Entweder-Oder-Entscheidung ist, sondern – wie oben gezeigt – mit einer intensiven Pendelbewegung einhergeht, die durch das visafreie Reisen ermöglicht wird.

Weitere kriegsbedingte Fluchtbewegungen

Aufgrund der russischen Kriegspolitik haben auch RussInnen in großer Zahl das Land verlassen. Externer Link: Politisch motivierte Migration ist Interner Link: seit der Machtübernahme Putins 1999 verbreitet, lässt sich aber schwer messen, da die Menschen in der Regel keine Asylanträge stellen, sondern sich als ArbeitsmigrantInnen in anderen Staaten niederlassen, vor allem in postsowjetischen Staaten, aber auch Deutschland. Seit Kriegsbeginn lassen sich Externer Link: zwei Fluchtbewegungen unterscheiden: 1. die Flucht aus politischen Gründen, begründet mit einer oppositionellen Einstellung oder gar Aktivitäten, 2. die Flucht aus Furcht vor einer Einberufung zum Kriegsdienst im Rahmen einer am 21. September 2022 verkündeten Teilmobilisierung. Letztere beinhaltet nicht unbedingt eine kritische Haltung gegenüber dem Regime. Demnach haben zunächst aus politischen Gründen mindestens Externer Link: mehrere Hunderttausend RussInnen das Land verlassen; Medienberichten zufolge weitere Externer Link: mindestens 400.000 bis Externer Link: 700.000 überwiegend junge Männer aus Furcht vor der Einberufung. Insgesamt haben also mindestens Externer Link: über eine Millionen RussInnen dem Land den Rücken gekehrt. In verschiedenen Ländern, u.a. in Externer Link: Kasachstan, nimmt inzwischen aber der politische Druck auf russische Staatsangehörige zu, wieder auszureisen.

Die EU hat im September 2022 die Externer Link: Visabestimmungen für russische Staatsangehörige verschärft, sogar von einem kompletten Einreisestopp war die Rede. Von Januar bis November 2022 wurden in der EU, Norwegen und der Schweiz mehr als 13.000 Asylanträge russischer Staatsangehöriger registriert. Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2021 hatten rund 4.500 RussInnen in den 27 Mitgliedstaaten der EU, Norwegen und der Schweiz einen Asylerstantrag Externer Link: gestellt.

Weitere indirekte oder langfristige Folgen des Krieges sind bislang noch nicht abzusehen. Die stark zurückgegangenen Externer Link: Getreideexporte aus der Ukraine z.B. in afrikanische Staaten und die damit zusammenhängenden Preissteigerungen könnten zu Externer Link: Unruhen und Flucht oder zu Migration führen. Ein Externer Link: partieller Zusammenbruch der zentralasiatischen Arbeitsmigration nach Russland, zumindest aber der Rückgang der so wichtigen Externer Link: Überweisungen aufgrund des Einbruchs der russischen Wirtschaft könnte Millionen zwingen, sich neue Migrationsziele zu suchen. Die Externer Link: Schwächung Russlands im Kaukasus oder in Zentralasien könnte eine destabilisierende Wirkung haben, was in Konflikte einmünden und weitere Flucht auslösen könnte. Und in der EU könnten noch striktere Zugangskontrollen zuungunsten von Flüchtenden aus anderen Teilen der Welt eingeführt werden.

Weitere Inhalte

Dr. Franck Düvell ist leitender Wissenschaftler und Koordinator des Konsortiums Flucht und Flüchtlingsforschung: Vernetzung und Transfer (FFVT) am Institut für Migrationsforschung und interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück. Der geographische Fokus seiner Forschung liegt auf der EU und ihrer Nachbarschaft, insbesondere der Türkei, der Ukraine, Libyen und Russland.