Krankenmord
Die Entscheidung zum Mord an sogenanntem lebensunwertem Leben war bereits zu Kriegsbeginn mit der Tötung von kranken und behinderten Menschen gefallen. Forderungen nach Einführung erbbiologischer Personalbögen, nach einem Eheverbot für unerwünschte Paare bis hin zur Asylierung von Epileptikern, psychisch Kranken und Kriminellen sowie zur Sterilisation "Minderwertiger" waren schon in der eugenischen Diskussion der Weimarer Republik laut geworden. 1920 hatten der Strafrechtler Karl Binding und der Psychiater Alfred Hoche eine einflussreiche Broschüre mit dem Titel "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens" veröffentlicht, in der die jüdisch-christliche Achtung vor der Unantastbarkeit des Lebens mit Hinweisen auf antike Gesellschaften wie Sparta angegriffen wurde. Gleich zu Beginn der NS-Herrschaft erließ die Hitler-Regierung im Juli 1933 ein "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses", das erstmals in Deutschland die Zwangssterilisation erlaubte. Nun wurden die Stimmen immer lauter, die auch die Tötung von behinderten und psychisch kranken Menschen forderten.
Immer wieder erreichten die "Kanzlei des Führers der NSDAP", eine eher marginale Institution, die Hitlers Privatangelegenheiten und persönliche Eingaben an ihn regelte, Gesuche, in denen um die Genehmigung zur Sterbehilfe gebeten wurde. Darunter befand sich 1939 auch ein Schreiben, in dem ein Vater darum bat, sein behindertes Kind töten zu lassen. Hitler, der sich stets öffentlich über die "moderne Humanitätsduselei" zugunsten der Kranken und Schwachen mokiert hatte, nahm sich des Falles an und ermächtigte den Leiter der "Führerkanzlei", Philipp Bouhler, und seinen persönlichen Arzt, Dr. Karl Brandt, das Kind zu töten und in ähnlichen Fällen analog zu verfahren. Als die beiden im Laufe der organisatorischen Vorbereitungen der "Euthanasie"-Morde um eine schriftliche Ermächtigung baten, erteilte Hitler im Oktober 1939 den Mordbefehl, bezeichnenderweise rückdatiert auf den 1. September, um den Zusammenhang mit dem Krieg deutlich zu machen.
Im kleinen Kreis bereiteten die Funktionäre der "Führerkanzlei" zusammen mit Ärzten die Morde an Kranken und Behinderten vor und gründeten zur Tarnung des Unternehmens einen "Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden", der seinen Sitz in Berlin, Tiergarten 4, hatte, weswegen die "Euthanasie"-Morde unter der Chiffre "T4" geplant wurden. Bereits am 18. August 1939 erging ein streng vertraulicher Runderlass des Reichsministeriums des Innern an alle Landesregierungen, dass Hebammen und Ärzte missgebildete und behinderte Neugeborene unverzüglich den Amtsärzten melden müssten, die wiederum die Meldungen zu prüfen und an den "Reichsausschuß" weiterzuleiten hätten. Später wurden insbesondere die Leitungen von Krankenanstalten und psychiatrischen Kliniken aufgefordert, auch erwachsene Patienten zu melden.
In Berlin wurden die Meldebögen durch drei ärztliche Gutachter geprüft. Diejenigen Menschen, die ermordet werden sollten, erhielten ein "+"-Zeichen auf dem Bogen. Mit unauffällig erscheinenden, grau angestrichenen Bussen wurden dann die Opfer in besondere Krankenanstalten, nach Bernburg, Brandenburg, Grafeneck, Hadamar, Hartheim und Sonnenstein, verlegt, um sie dort zu töten.
Da die Täter für ihre Morde Giftmittel brauchten, wandten sie sich an Himmler, der sie an das Kriminaltechnische Institut des Reichskriminalpolizeiamtes verwies. Der zuständige Referent, Dr. Albert Widmann, kam auf die Idee, die Kranken durch Kohlenmonoxid zu töten. Während Widmann daran dachte, das Gas nachts, wenn die Kranken schliefen, in die Schlafsäle zu leiten, entschieden die Verantwortlichen der T4-Aktion anders. Die Patienten sollten in eigens eingerichteten Gaskammern umgebracht werden. Der erste Versuch mit Menschen fand im Dezember 1939 oder Januar 1940 im alten Zuchthaus Brandenburg statt. An ihm nahm als Beobachter neben den "Euthanasie"-Beauftragen Hitlers, Dr. Karl Brandt und Philipp Bouhler, dem für Gesundheitsfragen zuständigen Staatssekretär im Reichsinnenministerium, Leonardo Conti, etlichen Bürokraten und Ärzten auch Albert Widmann teil, der die Ärzte instruierte, wie man das Gas in die Kammer leitete. Die versammelten Teilnehmer verfolgten das qualvolle Ersticken der Opfer durch ein Guckloch in der Tür. Widmann beschaffte in der Folgezeit das notwendige Kohlenmonoxidgas für die "Euthanasie"-Morde vom Ludwigshafener Werk der IG Farben, der heutigen BASF. Bis zum Kriegsende wurden in Deutschland und in den besetzten Gebieten etwa 275.000 kranke und behinderte Menschen ermordet.
Geheimhalten konnten die Täter diese Morde nicht. Verwandte erkundigten sich, wohin ihre kranken Familienangehörigen gebracht worden seien, und erhielten nur ausweichende, fadenscheinige Antworten, schließlich Formschreiben mit der Todesnachricht. In den Orten der Tötungsanstalten wie in Grafeneck im Kreis Münsingen auf der Schwäbischen Alb wurde rasch bekannt, dass es in den Krankenanstalten zu ungewöhnlich zahlreichen Todesfällen kam. Etliche Patienten selbst ahnten das Schicksal, das ihnen bevorstand, wehrten sich und schrien um Hilfe beim Abtransport. Bei den Kirchenstellen häuften sich die Meldungen von Pfarrämtern über den unerwarteten Tod von Kranken und die sofortige Einäscherung ihrer Leichen. Im Juli 1940 wandte sich der Vormundschaftsrichter Dr. Lothar Kreyssig aus Brandenburg/Havel empört an das Reichsjustizministerium und verlangte Aufklärung über das Schicksal der ihm anvertrauten Menschen. Auch aus anderen Orten erreichten Justizminister Franz Gürtner Berichte über umlaufende beunruhigende Gerüchte. Der württembergische evangelische Landesbischof Theophil Wurm schrieb am 19. Juli 1940 persönlich an Reichsinnenminister Frick, um gegen die "Lebensvernichtung" zu protestieren. Im August nahm auch die katholische Bischofskonferenz intern Stellung und verlangte ein Ende der Tötungen. Der mutige Amtsrichter Kreyssig hatte mittlerweile Anzeige wegen Mordes erstattet. Als sich die Nachrichten über die "Euthanasie"-Morde innerhalb der Bevölkerung immer mehr ausbreiteten, Familienangehörige sich Hilfe suchend sogar an die Polizei wandten und schließlich der Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen Anfang August 1941 öffentlich gegen die Morde predigte, machte die Regimeführung einen Rückzieher. Auf Weisung Hitlers wurde die "Euthanasie" an Erwachsenen im Deutschen Reich offiziell gestoppt – und heimlich an Kindern, in den Konzentrationslagern und in den besetzten Gebieten fortgeführt. Etliche "Mordexperten" aus den Tötungsanstalten wie Christian Wirth, Irmfried Eberl oder Franz Stangl fanden nach wenigen Monaten wieder Anstellung in den Vernichtungslagern im von Deutschland besetzten Polen, wo ihre Kenntnis, Menschen mit Gas zu töten, erneut zum Einsatz kam.
Nach dem Überfall auf Polen töteten SS-Einheiten auch dort kranke und behinderte Menschen, nicht zuletzt, um die Heime, in denen diese Menschen untergebracht waren, als Unterkünfte für sich selbst und für volksdeutsche Siedler zu nutzen. Das SS-Kommando Lange, das sich bei diesen Morden besonders hervortat, entwickelte dazu eine neue Methode: Die Opfer wurden in einen Kastenwagen gepfercht und dort mit CO aus Gasflaschen erstickt. 1941 ließ das Reichssicherheitshauptamt 30 solcher Wagen so umbauen, dass durch einen Schlauch die Motorabgase hineingeleitet werden konnten, sodass die Menschen unter furchtbaren Qualen starben. Diese Gaswagen setzte die SS in der Vernichtungsstätte Kulmhof/Chełmno bei Łódz´, im Lager Sajmište bei Belgrad und in Maly Trostenez bei Minsk ein und lieferte sie an die Einsatzgruppen als mobile Tötungsinstrumente.
QuellentextDas Schicksal der Emilie R.
Emilie R., geb. 1891 in Alsfeld, heiratete 1912 den Polizeisekretär Christian R. Sie bekam vier Kinder und war geistig gesund, bis 1931 Verwirrungszustände und Depressionen auftauchten. Zu dieser Zeit war ihr Mann wegen eines Hüftleidens krankgeschrieben – was zu größten Ängsten um den Arbeitsplatz und das Ansehen der Familie bei ihr führte. Am 30. November 1931 brachte ihr Mann sie erstmals in die Universitätsnervenklinik Frankfurt, wo als Diagnose „ängstliche Beziehungspsychose“ festgehalten wurde. Im Dezember konnte sie auf Wunsch ihres Mannes wieder entlassen werden, galt aber nicht als geheilt. Im April 1936 wurde Emilie R. wieder in die Frankfurter Nervenklinik aufgenommen und ihr dieses Mal „paranoide Demenz“ diagnostiziert – Emilie R. litt unter „Wahnvorstellungen“. Sofort wurde von der Klinik auch ein Antrag auf Sterilisation gestellt, obwohl ähnliche Krankheiten in der Familie nicht bekannt waren und alle Kinder sich bester Gesundheit erfreuten. Schon am 12. Mai 1936 wurde Emilie R. als ungeheilt in die Landesheilanstalt Hadamar entlassen, wo sie jedoch nur fünf Monate blieb. Ihr Mann stellte den Antrag, sie in das konfessionelle St. Valentinushaus in Kiedrich verlegen zu lassen. In einer der letzten Eintragungen in ihre Krankengeschichte in Hadamar hieß es: „7.8.36. Steht nach wie vor unter dem Einfluß ihrer Sinnestäuschungen. Ist zu keiner Arbeit zu bewegen.“ Damit erklärt sich auch, warum die Anstalt gegen eine Verlegung nichts einzuwenden hatte, denn Emilie R. konnte nicht mehr zur Arbeit eingesetzt werden. In dem konfessionellen Pflegeheim wurden ihren Verwandten meist die Besuche verwehrt, auch der Ehemann musste sich intensiv um Besuchserlaubnis bemühen. Ein Spaziergang am Tage der Silberhochzeit in den Ort Eltville wurde ihnen verwehrt, da Emilie R. unter das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ fiel und nicht sterilisiert war. Im August 1939 wurde sie aus dem St. Valentinushaus in die Anstalt Eichberg verlegt und kam am 21. Februar 1941 mit einem Sammeltransport in die Tötungsanstalt Hadamar. Dort ist sie am selben Tag ermordet worden. Anschließend wurde ihre Krankenakte an die T4-Anstalt Sonnenstein bei Pirna versandt und ihr Tod mit dem Datum 1. März 1941 in Sonnenstein beurkundet.
Landeswohlfahrtsverband Hessen (Hg.), Bettina Winter (Bearb.), „Verlegt nach Hadamar“. Zur Geschichte einer NS-„Euthanasie“-Anstalt. Begleitband für eine Ausstellung des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen. Historische Schriftenreihe des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Kataloge Bd. 2. Kassel 1991, S. 103
QuellentextEine Predigt gegen das Morden
Predigt des Bischofs von Münster Clemens August von Galen vom 3. August 1941:
„Andächtige Christen! In dem am 6. Juli dieses Jahres in allen katholischen Kirchen Deutschlands verlesenen gemeinsamen Hirtenbrief der deutschen Bischöfe vom 26. Juni 1941 heisst es unter anderem: ‚Gewiss gibt es nach der katholischen Sittenlehre positive Gebote, die nicht mehr verpflichten, wenn ihre Erfüllung mit allzu großen Schwierigkeiten verbunden wäre. Es gibt aber auch heilige Gewissensverpflichtungen, von denen niemand uns befreien kann, die wir erfüllen müssen, koste es, was es wolle, koste es uns selbst das Leben. Nie, unter keinen Umständen darf der Mensch außerhalb des Krieges und der gerechten Notwehr einen Unschuldigen töten.‘ Ich hatte schon am 6. Juli Veranlassung, diesen Worten des gemeinsamen Hirtenbriefes folgende Erläuterung hinzuzufügen:
‚Seit einigen Monaten hören wir Berichte, dass aus Heil- und Pflegeanstalten für Geisteskranke auf Anordnung von Berlin Pfleglinge, die schon länger krank sind und vielleicht unheilbar erscheinen, zwangsweise abgeführt werden. Regelmäßig erhalten dann die Angehörigen nach kurzer Zeit die Mitteilung, der Kranke sei verstorben, die Leiche sei verbrannt, die Asche könne abgeliefert werden. Allgemein herrscht der an Sicherheit grenzende Verdacht, dass diese zahlreichen unerwarteten Todesfälle von Geisteskranken nicht von selbst eintreten, sondern absichtlich herbeigeführt werden, dass man dabei jener Lehre folgt, die behauptet, man dürfe so genannt lebensunwertes Leben vernichten, also unschuldige Menschen töten, wenn man meint, ihr Leben sei für Volk und Staat nichts mehr wert. Eine furchtbare Lehre, die die Ermordung Unschuldiger rechtfertigen will, die die gewaltsame Tötung der nicht mehr arbeitsfähigen Invaliden, Krüppel, unheilbar Kranken, Altersschwachen grundsätzlich freigibt.‘
Wie ich zuverlässig erfahren habe, werden jetzt auch in den Heil- und Pflegeanstalten der Provinz Westfalen Listen aufgestellt von solchen Pfleglingen, die als so genannt unproduktive Volksgenossen abtransportiert und in kurzer Zeit ums Leben gebracht werden sollen. Aus der Anstalt Marienthal bei Münster ist im Laufe dieser Woche der erste Transport abgegangen. [...] Nachricht über ein Einschreiten der Staatsanwaltschaft oder der Polizei ist mir nicht zugegangen. Ich hatte bereits am 26. Juli bei der Provinzialverwaltung der Provinz Westfalen, der die Anstalten unterstehen, der die Kranken zur Pflege und Heilung anvertraut sind, schriftlich ernstestens Einspruch erhoben. Es hat nichts genützt. Der erste Transport der schuldlos zum Tode Verurteilten ist von Marienthal abgegangen. Und aus der Heil- und Pflegeanstalt Warstein sind, wie ich höre, bereits 800 Kranke abtransportiert worden. So müssen wir damit rechnen, dass die armen, wehrlosen Kranken über kurz oder lang umgebracht werden.
Warum? Nicht, weil sie ein todeswürdiges Verbrechen begangen haben! Nicht etwa, weil sie ihren Wärter oder Pfleger angegriffen haben, so dass diesem nichts anderes übrig blieb, als dass er zur Erhaltung des eigenen Lebens in gerechter Notwehr dem Angreifer mit Gewalt entgegentrat. Das sind Fälle, in denen neben der Tötung des bewaffneten Landesfeindes im gerechten Kriege Gewaltanwendung bis zur Tötung erlaubt und nicht selten geboten ist.
Nein, nicht aus solchen Gründen müssen jene unglücklichen Kranken sterben, sondern darum, weil sie nach dem Urteil irgendeines Amtes, nach dem Gutachten irgendeiner Kommission lebensunwert geworden sind, weil sie nach diesem Gutachten zu den unproduktiven Volksgenossen gehören. [...]
Wenn man den Grundsatz aufstellt und anwendet, dass man den unproduktiven Mitmenschen töten darf, dann wehe uns allen, wenn wir alt und altersschwach werden! Wenn man die unproduktiven Mitmenschen töten darf, dann wehe den Invaliden, die im Produktionsprozess ihre Kraft, ihre gesunden Knochen eingesetzt, geopfert und eingebüßt haben! Wenn man die unproduktiven Mitmenschen gewaltsam beseitigen darf, dann wehe unseren braven Soldaten, die als schwer Kriegsverletzte, als Krüppel, als Invalide in die Heimat zurückkehren.
Wenn einmal zugegeben wird, dass Menschen das Recht haben, unproduktive Mitmenschen zu töten, und wenn es jetzt zunächst auch nur arme, wehrlose Geisteskranke trifft, dann ist grundsätzlich der Mord an allen unproduktiven Menschen, also an den unheilbar Kranken, den arbeitsunfähigen Krüppeln, den Invaliden der Arbeit und des Krieges, dann ist der Mord an uns allen, wenn wir alt und altersschwach und damit unproduktiv werden, freigegeben. [...]
Wehe den Menschen, wehe unserem deutschen Volk, wenn das heilige Gottesgebot: Du sollst nicht töten!, das der Herr unter Donner und Blitz auf Sinai verkündet hat, das Gott unser Schöpfer von Anfang an in das Gewissen der Menschen geschrieben hat, nicht nur übertreten wird, sondern wenn diese Übertretung sogar geduldet und ungestraft ausgeübt wird!“
Bischof Clemens August Graf von Galen. Akten, Briefe und Predigten 1933-1946, Band II, bearb. v. Peter Löffler (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe A, Quellen; Bd 42), 2., erw. Aufl., Schöningh Verlag Paderborn 1996, S. 875 ff.
Deportationen
Im Deutschen Reich wurden die Juden mit dem Kriegsbeginn verschärften Drangsalierungen ausgesetzt. Am 10. September 1939 ordnete Himmler an, dass die jüdischen Gemeinden sich selbst um ihren Schutz vor Bombardierungen zu sorgen und eigene Luftschutzräume zu bauen hätten. Lokale Parteigruppen und kommunale Ämter hatten bereits ihrerseits damit begonnen, Ausgehverbote für Juden zu verhängen oder die Radioapparate zu beschlagnahmen. Zwar verbot die NS-Führung derlei Initiativen von unten, Himmler erließ aber seinerseits ebenfalls am 10. September ein Ausgehverbot für Juden ab 22 Uhr. Wenige Tage später folgte eine Verordnung, die Juden untersagte, ein Radiogerät zu besitzen. Am 23. September sollte die Gestapo "schlagartig" im ganzen Reich die Radioapparate von Juden einziehen. Lebensmittelkarten für Juden wurden von Januar 1940 an generell mit einem "J" gekennzeichnet, die Rationen immer weiter eingeschränkt und Zulagen gestrichen.
Konsequent in ihren Bemühungen, die Juden vollständig sozial zu isolieren, machten sich die Nationalsozialisten 1939 daran, auch in Deutschland die jüdische Bevölkerung zu "gettoisieren". Das hieß, die bestehenden Mietverhältnisse wurden aufgelöst und "Judenhäuser" eingerichtet, in denen die jüdischen Deutschen von nun an, oftmals auf engstem Raum mit mehreren Familien in einer Wohnung, leben mussten. Darüber hinaus forcierte die NS-Führung Pläne, die noch im Reich lebenden Juden zur Zwangsarbeit heranzuziehen, nachdem schon zuvor arbeitslose Juden arbeitsverpflichtet worden waren. Jetzt wurden Männer und Frauen, die als arbeitsfähig eingestuft wurden – das waren im Sommer 1941 etwa 59.000 Menschen – zur Erntearbeit in der Landwirtschaft, in Industriebetrieben, zum Räumen von Bombardierungsschäden oder Bauen von Straßen und Eisenbahngleisen eingesetzt, oftmals ohne Lohn und Versicherungsschutz. Zudem galt ein Sonderarbeitsrecht für Juden, die keine Zulagen oder sonstigen Vergünstigungen, die den nichtjüdischen Arbeitern zustanden, erhalten sollten. Auf die "Wahrung des sozialen Abstandes" der Volksgenossen zu den jüdischen und polnischen Arbeitern legte das Arbeitsministerium größten Wert.
1940 wurde ein alter antisemitischer Plan zu neuem Leben erweckt: die Deportation der europäischen Juden nach Afrika. Antisemiten wie der deutsche Kulturphilosoph Paul de Lagarde hatten diese Idee seit Ende des 19. Jahrhunderts verbreitet. Auch andere europäische Staaten wie Polen oder Frankreich zogen in den 1930er-Jahren die Deportation ihrer jüdischen Staatsbürger nach Madagaskar ernsthaft in Erwägung. Die polnische Regierung entsandte gar 1937 eine Kommission dorthin, um die Bedingungen für eine Deportation polnischer Juden zu prüfen.
Heydrich ließ im August 1940 drei Exemplare einer vierzehnseitigen Broschüre mit Karte, Lexikon-Auszügen und Organigramm zum "Madagaskar-Projekt" an das Auswärtige Amt schicken. Detailliert war in diesem RSHA-Plan entwickelt, wie vier Millionen europäische Juden nach Madagaskar deportiert und dort in einem Polizeistaat unter der Leitung des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD dahinvegetieren sollten. Mit 120 Schiffen – so die Broschüre – könnten täglich etwa 3.000 Juden verschifft werden, sodass nach Rechnung des RSHA innerhalb von vier Jahren das "Judenproblem" gelöst sein sollte. Heydrich selbst sprach im Juni in einem Brief an Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop von einer "territorialen Endlösung", die jetzt notwendig sei. Auch das Auswärtige Amt arbeitete an einem Madagaskar-Plan.
QuellentextÜberleben in Wien 1941 bis 1943
Lotte Freiberger ist 1923 in Wien geboren. Ihr jüdischer Vater war Großkaufmann in der Garnbranche. Ihre Mutter war geborene Katholikin, aber bei ihrer Heirat zum Judentum konvertiert. Um die Familie zu schützen, trat die Mutter in der NS-Zeit wieder zum katholischen Glauben über.
Der Text wurde im Rahmen eines 1982 begonnenen „Oral-History“-Projektes erhoben.
[...] „Um diese Zeit [1941] verschickten die Nazi junge Mädchen nach Stendal in Norddeutschland zum Spargelstechen. Wir ahnten zu Recht nichts Gutes. Durch einen ‚arischen‘ Geschäftsfreund meines Vaters bekamen wir die Adresse einer Frau Ostermann, die eine Schneiderwerkstätte hatte und jüdische Arbeiterinnen aufnehmen durfte, als Zwangsdienstverpflichtete. Sie war eine sehr brave, anständige Frau. Die Werkstatt war in der Alserstraße. Ich trat am 26. Mai 1941 dort ein und blieb bis Kriegsende. Die Firma lieferte ins ‚Altreich‘, wie man Deutschland damals nannte, das war quasi ein ‚Export‘, und ich war dadurch vor dem Spargelstechen in Stendal geschützt. Ich möchte noch erwähnen, dass keine meiner Freundinnen Stendal überlebte. Ich hörte nie mehr etwas von ihnen. Später hat man erfahren, dass sie nach getaner Arbeit direkt in die Vernichtungslager geschickt wurden.
Eine ‚arische‘ Firma wie Ostermann durfte jüdische Arbeiterinnen – gegen lächerliche Bezahlung – anstellen, wenn folgende Voraussetzungen gegeben waren: strengste Isolation von den ‚arischen‘ Mitarbeitern der Werkstatt, extra Klosett, keine Küchenbenützung. Wir stellten unsere Reindeln [Dosen] aufs Fensterbrett, woanders war kein Platz. Die Arbeiterinnen der ‚arischen‘ Werkstatt spuckten darauf. [...]
Es war bereits die Zeit der Deportationen. Wenn ich in die Werkstatt kam, fehlte täglich die eine oder andere. Sie kamen nie mehr wieder, sie waren deportiert worden. Wir wurden immer weniger, manchmal fehlten gleich vier oder fünf von uns, man wagte sich kaum mehr in die Firma – aus Angst, wer morgen fehlen würde. So passierte es, dass ich eines Tages allein dort war. Alle waren bereits ‚ausgehoben‘ worden, wie man die Abholung durch die SS nannte, und nach Polen deportiert worden. Niemand von den Frauen hat überlebt.
Zu Anfang der Deportationen kam die SS alleine, später mit ‚Aushebern‘, das waren jüdische Männer, die gezwungen wurden – teilweise vielleicht auch freiwillig dabei waren –, diesen Dienst zu machen. Sie waren sehr unangenehm und brutal, aus Selbsterhaltungstrieb, sie dachten damit ihr Leben retten zu können. Dem war aber nicht so. Mit dem letzten Polentransport gingen alle ‚Ausheber‘ mit ihren Familien mit.
Nach der ersten ‚Aushebung‘, bei der meine Tante geholt wurde, kamen sie noch dreimal zu uns, bei Tag und bei Nacht. Immer dieselbe Situation. Nachdem sie unsere Dokumente gesehen hatten, sagten sie zu meinem Vater: ‚Sie können bleiben, die Tochter packt. Wir lassen die Papiere im Lager überprüfen und kommen wieder.‘ Das erste Mal rannte ich zum offenen Fenster, mein Vater zog mich noch an meinen Füßen zurück, der SS-Mann schrie: ‚Soll sie springen!‘ Dann wurde gepackt. Meine Mutter sagte: ‚Du gehst nicht alleine. Entweder wir alle oder keiner.‘ So packten wir drei Koffer, nähten Geld in Mäntel ein und warteten. Nach Stunden kam der SS-Mann mit meinen Papieren und sagte: ‚Sie kann bleiben.‘ Einige Tage später wurde wieder an unsere Tür geklopft. Vor der Tür stand ein wütender SS-Mann. Alles wiederholte sich: Packen, Dokumente, Warten – und nach Stunden die Mitteilung, dass ich bleiben kann. Noch ein drittes Mal wiederholte sich diese Szene, da rannte ich zum Gashahn, und wieder drehte mein Vater im letzten Moment ab.
Die Transporte gingen Ende 1942 fast täglich. Es kamen auch die Alten und Kranken aus dem Spital dran, alle, die früher zurückgestellt worden waren. Es passierte mitunter, dass ein Auto nicht vollbesetzt war, da holte man ganz einfach von der Straße Juden, sie trugen ja alle den Stern und waren dadurch als Juden kenntlich. Sie wurden auf die Lastwagen verladen – so, wie sie waren – und direkt zum Bahnhof geführt. Wenn ich also in der Früh in die Arbeit ging, wusste ich nie, ob ich abends wieder nach Hause kam. [...]
Die wenigen jüdischen Jugendlichen, die es in Wien noch gab, trafen sich zum Wochenende am jüdischen Friedhof beim vierten Tor. Dort gab es eine große Fläche ohne Grabsteine, wo Gemüse und Kartoffeln für das jüdische Spital angebaut wurden. Dort spielten wir Ball und andere Spiele und konnten ein wenig die Sorgen vergessen. Leider wurde auch diese Gruppe von Sonntag zu Sonntag immer kleiner, immer wieder fehlte wer, weil er schon am Transport war. [...] Wien war 1943/44 schon fast ‚judenrein‘.“ [...]
Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands (Hg.), Jüdische Schicksale. Berichte von Verfolgten, Wien 1992, S. 199 ff.
Zit. nach Steffens/Lange (s. Lit.), Bd. 2, S. 174 ff.
Faktisch war das Madagaskar-Projekt bereits im Ansatz gescheitert, weil nur dann deutsche Deportationsschiffe auf den Weltmeeren nach Afrika fahren konnten, wenn die Seemacht Großbritannien besiegt war. Trotz seiner mehr als fragwürdigen Umsetzbarkeit wurde der Plan innerhalb der NS-Führung ernsthaft erwogen. Mitte August, als der Luftkrieg gegen England noch im vollen Gang war, vermerkte Goebbels nach einem Gespräch mit Hitler, dass die Juden "später mal nach Madagaskar verfrachtet" werden sollten.
Und noch etwas anderes machte der Madagaskar-Plan deutlich. Allen Beteiligten, ob im Reichssicherheitshauptamt oder im Auswärtigen Amt, war klar, dass auf dieser Insel, die nur teilweise landwirtschaftlich zu nutzen war, keinesfalls Millionen Menschen würden überleben können. Der Madagaskar-Plan besaß bereits eine völkermörderische Dimension, auch wenn noch von einer "territorialen Endlösung" die Rede war.
Tatsächlich wurde im Frühjahr 1940 eine andere Gruppe aus Deutschland deportiert: Roma und Sinti. Schon im 19. Jahrhundert waren "Zigeuner", wie sie abfällig genannt wurden, Opfer polizeilicher Drangsalierung und gesellschaftlicher Vorurteile gewesen. Kommunen hatten ihnen den Aufenthalt verboten, sie waren als Diebe und Spione verdächtigt und vertrieben worden. Das NS-Regime systematisierte die Verfolgung von Roma und Sinti und gründete bei der Kriminalpolizei eine eigene "Reichsstelle für die Bekämpfung des Zigeunerunwesens". Ebenfalls unterstützte die Kriminalpolizei die sogenannte Rassenhygienische Forschungsstelle unter Dr. Robert Ritter, die in einem groß angelegten Projekt die in Deutschland lebenden "Zigeuner" rassistisch erfasste. Tausende von Menschen mussten sich vermessen lassen und Auskunft über ihre Familie geben. 1936 begannen die Internierung von Roma und Sinti in eigenen Lagern an den Stadträndern und ihr Einsatz zur Zwangsarbeit.
QuellentextVerfolgung von Sinti und Roma
Jakob Müller, 1928 geboren, heute in Kaiserslautern.
„Als wir aus Worms abgeholt wurden, wurde uns keine Begründung dafür gegeben. Wir lebten in einem großen Gebiet, wo viele Sinti wohnten. Die haben dann das Areal umstellt und kamen morgens an, in unsere Wohnung in der Kleinen Fischerweide 50, direkt neben der Nibelungenschule. Sie riefen ‚Raus, raus, raus‘, und wir konnten nur das Nötigste mitnehmen. Dann sind wir mit den Lastwagen von Worms direkt nach Frankfurt gekommen. Mein Vater war gar nicht mehr zuhause, er war bei der Deutschen Luftwaffe.
Der ist dann 1941 ‚aus rassischen Gründen‘ unehrenhaft aus der Armee entlassen worden und kam dann auch ins Frankfurter Lager. Reingekommen in das Lager in der Dieselstraße in Frankfurt sind wir am 10. September 1940 und sind bis zum 13. März 1943, bis wir nach Auschwitz deportiert wurden, dort geblieben. Von da aus sind wir in das Konzentrationslager nach Auschwitz gekommen und danach weiter in verschiedene Lager.
Das Lager in Frankfurt in der Dieselstraße hatte eine Länge von circa 80 Metern und eine Breite von etwa 20 Metern. Wir hatten keine Wohnungen, sondern mußten in ausrangierten Möbelwagen wohnen. Da waren etwa 25 Möbelwagen drin, und am Anfang so ungefähr 150 bis 180 Personen. Manche Familien, mit acht bis zwölf Personen, mußten auf einem Raum von circa sieben Meter Länge und zwei Meter Breite wohnen. Die mußten also auf circa 14 Quadratmetern hausen, waren auf engstem Raum zusammengepfercht.
Morgens war immer ‚der Appell‘, da sind wir gezählt worden – wir waren ja eingezäunt, vorne dran am Ausgang war eine Wachstube, da war turnusmäßig immer ein Polizist. Insgesamt waren es vier. [...]
Wir durften ein Jahr zur Schule gehen, und zwar in die Riederwaldschule, dann hat sich die Bevölkerung darüber mokiert, zuletzt mußten wir alle ganz hinten in einem Block sitzen. Dann kam der Frankfurter Erlaß, und da durften wir Kinder nicht mehr die Schule besuchen.
Die Familien waren unter sich. Sie konnten kochen und haben sich die Verpflegung selbst gekauft. Die Kinder haben später überhaupt keinen Ausgang gehabt, die Frauen konnten wenigstens morgens einkaufen gehen. Wir konnten das Lager nicht verlassen, wie wir wollten. Nur die arbeitsfähigen Personen, die in der Rüstungsindustrie tätig waren, sind morgens zur Arbeit gegangen, und abends war wieder Appell.[...]
Das Lager wurde dann im März 1943 zu fünfzig Prozent aufgelöst, die Hälfte von uns kam nach Auschwitz, die andere Hälfte ist im Frankfurter Lager geblieben. [...]
Mein Vater starb 1943 im KZ-Lager von Auschwitz, was man dort so sterben nannte. Von Auschwitz sind wir dann 1944 in ein Lager nach Ravensbrück gekommen. Erst dort haben wir mit den Sterilisationen zu tun bekommen. Wir waren dort mit 191 Männern und 34 Kindern, der jüngste war da fünfeinhalb. Dort wurde dann gesagt, daß, wenn man sich sterilisieren ließe, die Verwandten freikämen. Da mußte man dann Fragebögen ausfüllen, für welchen Angehörigen man das machen ließe, die Mutter, den Bruder oder so. Nur zwei Jungen, darunter ich, wurden nicht sterilisiert. Aber statt der versprochenen Freiheit kamen wir dann ins nächste Lager, nach Oranienburg. Dort wurde dann gesagt: Eure Familienangehörigen kommen frei, wenn ihr Euch zur Waffen-SS meldet. Tatsächlich haben sich etliche gemeldet, aber keiner der Verwandten kam frei.“
Eva von Hase-Mihalik / Doris Kreuzkamp, „Du kriegst auch einen schönen Wohnwagen“. Zwangslager für Sinti und Roma, während des Nationalsozialismus in Frankfurt am Main, Brandes & Apsel Verlag Frankfurt 1990, S. 23 ff.
Ende April 1940 ordnete Himmler die Deportation von insgesamt 2500 "Zigeunern" aus Norddeutschland und dem Rheinland sowie aus Frankfurt und Stuttgart ins Generalgouvernement an. Im Mai nahm daraufhin die Kriminalpolizei im Reich Hunderte von Roma und Sinti fest, internierte sie in provisorischen Lagern und deportierte sie ins besetzte Polen. Dort mussten sie schwere Zwangsarbeit leisten und waren nur notdürftig untergebracht. Im Verlaufe des Winters 1940/41 wurden die Roma und Sinti weitgehend sich selbst überlassen; viele starben an Kälte, Unterernährung und Krankheiten. Etliche versuchten, sich zurück zu ihren Familien nach Deutschland durchzuschlagen, wenige blieben in Polen zurück, um dort auf irgendeine Weise im Untergrund zu überleben.
Mittlerweile drängten zahlreiche Instanzen des NS-Regimes darauf, sich der Juden zu entledigen. Nachdem Reinhard Heydrich offenkundig seit längerem mit einem Plan zur "Endlösung der Judenfrage" beauftragt worden war, dessen Einzelheiten jedoch nicht überliefert sind, erhielt er von Göring am 31. Juli 1941 die Ermächtigung, "alle erforderlichen Vorbereitungen in organisatorischer, sachlicher und materieller Hinsicht zu treffen für eine Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflußgebiet in Europa."
Im April 1941 hatte der ehemalige Stellvertreter Heydrichs, Werner Best, der nun als Verwaltungschef der deutschen Besatzung in Paris fungierte, für eine Besprechung mit dem sogenannten Judenkommissar der Vichy-Regierung, Xavier Vallet, die allgemeine Maxime formuliert, dass das deutsche Interesse "in einer progressiven Entlastung aller Länder Europas vom Judentum mit dem Ziel der vollständigen Entjudung Europas" bestehe, was die Dimension der Planungen innerhalb der SS-Führung markierte. Der "Judenreferent" in der Deutschen Botschaft in Paris unterbreitete Botschafter Otto Abetz diverse Vorschläge, darunter die Zwangssterilisation sämtlicher französischer Juden, die Abetz bei nächster Gelegenheit mit Ribbentrop und Göring besprechen wollte.
Auch die NSDAP-Gauleiter in Deutschland drängten auf eine rasche Deportation der Juden vor allem aus den Städten, damit die frei werdenden Wohnungen ausgebombten "Volksgenossen" zur Verfügung gestellt werden könnten. "In der Judenfrage", so schrieb Goebbels über eine Unterredung mit Hitler am 19. August 1941, "kann ich mich beim Führer vollkommen durchsetzen. Er ist damit einverstanden, daß wir für alle Juden im Reich ein großes sichtbares Judenabzeichen einführen, das von den Juden in der Öffentlichkeit getragen werden muß […]. Im übrigen sagt der Führer mir zu, die Berliner Juden so schnell wie möglich, sobald sich die erste Transportmöglichkeit bietet, von Berlin in den Osten abzuschieben. Dort werden sie dann unter einem härteren Klima in die Mache genommen." Die Behörde von Albert Speer als Generalbauinspektor für Berlin ging zur selben Zeit davon aus, dass demnächst Tausende von Juden bewohnte Wohnungen geräumt würden, um die "Volksgenossen" mit Wohnungen zu versorgen, und stellte aus seiner Gesamtkartei entsprechende Listen zusammen, die der Berliner Gestapo übergeben wurden.
Im September wurde die Drohung Wirklichkeit: Deutsche Juden mussten von nun an in der Öffentlichkeit einen Stern tragen. Die Polizeiverordnung vom 1. September 1941 legte detailgenau fest: "Der Judenstern besteht aus einem handtellergroßen, schwarz ausgezogenen Sechsstern aus gelbem Stoff mit der schwarzen Aufschrift ‚Jude’. Er ist sichtbar auf der linken Brustseite des Kleidungsstücks fest aufgenäht zu tragen."
QuellentextVictor Klemperer beschreibt die Einführung des „Judensterns“ …
Victor Klemperer (1881-1960), Romanist, Hochschullehrer, stammte aus einer jüdischen Familie und war 1912 zum Protestantismus übergetreten. Dennoch verfolgten ihn die Nationalsozialisten als „rassischen Juden“. 1935 wurde er als Professor an der Technischen Hochschule Dresden entlassen und konnte nur aufgrund der Ehe mit seiner nichtjüdischen Frau Eva überleben. Nach 1945 war er wieder als Professor an den Universitäten Halle, Greifswald und Berlin tätig.
Tagebucheintrag am 8. September 1941: „Heute morgen brachte Frau Kreidl (die Witwe) aufgelöst und blaß die Nachricht, im Reichsverordnungsblatt stehe die Einführung der gelben Judenbinde. Das bedeutet für uns Umwälzung und Katastrophe. Eva hofft noch immer, die Maßregel werde gestoppt werden, und so will ich noch nichts weiter darüber schreiben.“
Tagebucheintrag am 15. September: „Die Judenbinde, als Davidsstern wahr geworden, tritt am 19.9. in Kraft. Dazu das Verbot, das Weichbild der Stadt zu verlassen, Frau Kreidl sen. war in Tränen, Frau Voß hatte Herzanfall. Friedheim sagte, dies sei der bisher schlimmste Schlag, schlimmer als die Vermögensabgabe. Ich selber fühle mich zerschlagen, finde keine Fassung. Eva, jetzt gut zu Fuß, will mir alle Besorgungen abnehmen, ich will das Haus nur bei Dunkelheit auf ein paar Minuten verlassen.“
Tagebucheintrag am 19. September: „Heute der Judenstern. Frau Voß hat ihn schon aufgenäht, will den Mantel darüber zurückschlagen. Erlaubt? Ich werfe mir Feigheit vor. Eva hat sich gestern auf Pflasterweg den Fuß übermüdet und soll nun jetzt auf Stadteinkauf und hinterher kochen. Warum? Weil ich mich schäme. Wovor? Ich will von Montag an wieder auf Einkauf. Da wird man schon gehört haben, wie es wirkt.“
Tagebucheintrag am 20. September: „Gestern, als Eva den Judenstern annähte, tobsüchtiger Verzweiflungsanfall bei mir. Auch Evas Nerven zu Ende.“
Victor Klemperer. Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1945, 2 Bände Hg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer © Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 1995, Bd. I: 1933-1941, S. 663, 671
... und erlebt die Deportation seiner Bekannten
Tagebucheintrag am 25. Oktober 1941: „Immer wieder erschütternde Nachrichten über Judenverschickungen nach Polen. Sie müssen fast buchstäblich nackt und bloß hinaus. Tausende aus Berlin nach Lodz (‚Litzmannstadt‘).“
Tagebucheintrag am 27. Oktober: „Am Sonnabend abend Ida und Paul Kreidl bei uns. Sie haben eine Tochter vel Schwester in Prag, die für Polen registriert ist. Sie waren Sonnabend gefaßter als die Tage vorher. Es lägen relativ günstige Nachrichten aus Lodz vor: saubere Baracken, gute Heizung und Verpflegung, anständige Behandlung in den Munitionsfabriken“.
Tagebucheintrag 9. November: „Die Verschickungen nach Polen nehmen ihren Fortgang, überall unter den Juden tiefste Depression. Ich traf am Lehrerseminar in der Teplitzer Straße Neumanns, die sonst tapfer optimistischen Leute waren ganz am Boden, erwogen Selbstmord. Ihnen hatte sich eben die Möglichkeit aufgetan, nach Kuba zu kommen, da trat die absolute Emigrationssperre ein. In Berlin beging der Onkel Frau Neumanns, Atchen Finks älterer Bruder, ein tiefer Sechziger, mit seiner Frau Selbstmord, als sie abtransportiert werden sollten. Er möchte lieber tot sein und seine Frau tot wissen, sagte mir Neumann, ehe er sie ‚verlaust beim Aufbau von Minsk‘ sehe. Frau Neumann, in Tränen: ‚Wir besprachen gerade, wo man sich Veronal beschaffen könnte‘ ... Ich rüttelte an ihnen mit so schönen Worten, daß ich selber davon ganz erbaut war. Fünf Minuten vor zwölf ... unsere besondere Tapferkeit ... Minsk aufzubauen könne nicht uninteressant sein, etc.“
Tagebucheintrag 13. Januar: „Paul Kreidl erzählt – Gerücht, aber von verschiedenen Seiten sehr glaubhaft mitgeteilt –, es seien evakuierte Juden bei Riga reihenweis, wie sie den Zug verließen, erschossen worden.“
Tagebucheintrag 20. Januar: „Gestern bis Mitternacht bei Kreidls unten. Eva half Gurte für Paul Kreidl nähen, an denen er seinen Koffer auf dem Rücken schleppt. Dann wurde ein Bettsack gestopft, den man aufgibt (und nicht immer wiedersehen soll). Ihn karrte Paul Kreidl heute auf einem Handwägelchen zum vorgeschriebenen Spediteur.“
Tagebucheintrag 21. Januar: „Vor dem Weggehen des Deportierten versiegelt Gestapo seine ganze Hinterlassenschaft. Alles verfällt. Paul Kreidl brachte mir gestern abend ein Paar Schuhe, die mir genau passen und bei dem furchtbaren Zustand der meinigen höchst willkommen sind. Auch ein bißchen Tabak, den Eva mit Brombeertee mischt und in Zigaretten stopft. Ich bin schon seit vielen Wochen bei purem Brombeertee. – Heute vormittag Art Kondolenzbesuch bei der Mutter.“
[Paul Kreidl verließ Deutschland am 21. Januar 1942 mit dem Transport nach Riga und wurde dort vermutlich gleich am Tag seiner Ankunft erschossen – Anm. d. Red.].
In: Ders., Bd. I, S. 681 f., 685, Bd. II: 1942-1945, S. 9, 14
Am 14. September 1941 übersandte Alfred Rosenberg, Reichsminister für die besetzten Ostgebiete, Hitler ein Memorandum, dass das Deutsche Reich als Vergeltungsmaßnahme, falls die Sowjetunion ihre Ankündigung wahr mache, 400.000 Wolgadeutsche umzusiedeln, seinerseits die Deportation aller Juden Zentraleuropas in den Osten in Angriff nehmen sollte. Zwei Tage später traf Botschafter Abetz mit den Vorschlägen seines "Judenreferenten" aus Paris in Hitlers Hauptquartier ein. Noch am selben Tag hatte er eine Unterredung mit Hitler, der, laut Abetz’ Aufzeichnungen, von "Vernichtungsphantasien" gegenüber "Bolschewisten und Asiaten" erfüllt war. Am 17. September schließlich trug Außenminister Ribbentrop persönlich seine Stellungnahme zu Rosenbergs Vorschlag bei Hitler vor.
In diesen Septembertagen fiel die Entscheidung Hitlers, mit der Deportation aller deutschen, österreichischen und tschechischen Juden zu beginnen, noch bevor der Krieg zu Ende sei. Am 18. September teilte Himmler dem Gauleiter des Warthelandes, Arthur Greiser, mit, der "Führer" wünsche, dass "möglichst bald das Altreich und das Protektorat vom Westen nach dem Osten von Juden geleert und befreit" werde. Möglichst noch im Jahr 1941 sollten die Juden des Altreichs und des Protektorats vorübergehend in das Getto Litzmannstadt deportiert werden, um sie dann im Frühjahr 1942 "weiter nach dem Osten abzuschieben". Am 15., 16. und 18. Oktober verließen die ersten Deportationszüge Wien, Prag und Berlin in Richtung Łódz´, später auch nach Riga, Minsk und Kaunas.
In den dortigen Gettos, die unmittelbar nach dem Überfall auf die Sowjetunion errichtet worden waren, gab es nicht genügend Räume für die Neuankömmlinge. Die SS erschoss deswegen Tausende von einheimischen Juden, um Platz für die deutschen Juden zu schaffen.
QuellentextAus dem Erinnerungsbericht von Chaim Baram
(Heinz Behrendt), geboren 1919, der mit seiner Frau am 14. November 1941 von Berlin nach Minsk deportiert worden war:
„Wir bekommen unsere Behausung zugeteilt. Sieben Leute sind in unserem Zimmer, das eine Bodenfläche von 5 x 5 mtr hat. [...] Die Kälte ist in diesem Winter besonders grausam. Der abends gekochte Tee in einer Kanne ist am Morgen vollkommen zu Eis erstarrt. [...] Im Ghetto gab man uns als Tagesration 200 gr Brot und eine Schöpfkelle, ca. ½ l Wassersuppe. Die sanitären Verhältnisse spotteten aller Beschreibung. Es gab noch keine Latrine. Die erste Arbeit im Berliner Ghetto war daher das Ausgraben von kleinen Gruben. [...] So blieb es nicht aus, dass im Ghetto ungenannte Epidemien ausbrachen. Todesfälle waren jetzt an der Tagesordnung. [...] Im Laufe der kalten Monate konnte man die Toten nicht begraben, die Erde war zu hart gefroren. Unser Schuppen nebenan diente als Sammelstelle für Tote, die aufgeschichtet einer über dem anderen den Raum füllten.“
Ungedruckte Quelle aus dem Archiv von Yad Vashem
Obwohl damit noch nicht ihre Ermordung beschlossen war, so war doch eine entscheidende Grenze überschritten. Denn bislang hatte Hitlers politische Linie gegolten, alle Mittel auf die Erringung des Sieges zu konzentrieren und die "Judenfrage" nach dem Ende des Krieges gegen die Sowjetunion zu "lösen". Dass er in diesen Septembertagen die bisherigen Einwände beiseite schob und den Forderungen nach Deportation der deutschen und westeuropäischen Juden in den Osten zustimmte, obwohl der Krieg gegen die Sowjetunion noch nicht gewonnen war, durchbrach die letzte immanente Schranke in der Radikalisierung der Politik. Von diesem Punkt an waren alle Schritte möglich – auch die systematische Vernichtung.
Mord an den polnischen Juden
Seitdem die Juden auf dem sowjetischen Kriegsschauplatz vom Sommer 1941 an systematisch ermordet wurden, waren auch die polnischen Juden vom Massenmord bedroht. Nachdem sich Generalgouverneur Hans Frank erfolgreich dagegen gesperrt hatte, die Juden aus den besetzten westpolnischen Gebieten in das Generalgouvernement zu deportieren, waren sich die deutschen Besatzungsbehörden unschlüssig, was nun mit den überfüllten Gettos geschehen solle. So waren beispielsweise 140.000 Menschen im Getto Litzmannstadt in Łódz´ zusammengepfercht. Die Enge, die katastrophale Ernährung und mangelhafte Hygiene ließen Epidemien ausbrechen, die den Deutschen wiederum das Schreckensbild und den Vorwand lieferten, dass die Gettos Seuchenherde seien, die rücksichtslos gesäubert werden müssten. Dass die Täter wie selbstverständlich Mord als "Lösung" betrachteten und die vorsätzliche Tötung sogar als "human" gegenüber dem Sterben im Getto, zeigt jenes berüchtigte Telegramm, das der regionale SD-Chef Rolf-Heinz Höppner am 16. Juli 1941 an Eichmann als Zusammenfassung verschiedener Besprechungen zur "Lösung der Judenfrage" im Warthegau schrieb: Es bestehe im kommenden Winter die Gefahr, "daß die Juden nicht mehr sämtlich ernährt werden können. Es ist daher ernsthaft zu erwägen, ob es nicht die humanste Lösung ist, die Juden, soweit sie nicht arbeitseinsatzfähig sind, durch irgendein schnellwirkendes Mittel zu erledigen. Auf jeden Fall wäre dies angenehmer, als sie verhungern zu lassen."
Im Oktober 1941 bat Gauleiter Greiser Himmler um die Genehmigung, 100.000 als arbeitsunfähig eingestufte Juden töten zu lassen. Daraufhin wurde im nahegelegenen Kulmhof/Chełmno eine Vernichtungsstätte mit Gaswagen errichtet, in denen ab Anfang Dezember systematisch Menschen ermordet wurden. Unter den ersten Opfern waren Roma, die aus dem österreichischen Burgenland nach Łódz´ deportiert worden waren. In Kulmhof/Chełmno starben insgesamt mindestens 152.000 Menschen.
Mitte Oktober 1941 hatte Himmler dem SS- und Polizeiführer in Lublin, Odilo Globocnik, allem Anschein nach den Auftrag erteilt, ein regionales Vernichtungslager in Bełz˙ec für die polnischen Juden im Generalgouvernement zu errichten. Zugleich wurde das T4-Expertenpersonal aus der Mordaktion gegen behinderte und kranke Menschen nach Lublin versetzt, um dort die neuen Vernichtungslager, in denen mit Gas getötet werden sollte, aufzubauen. Im Unterschied zu Kulmhof/Chełmno errichtete man in Bełz˙ec erstmals Gaskammern, an die große Panzermotoren angeschlossen wurden, um die Menschen mit den Abgasen zu töten. Nach diesem Modell entstanden weitere Vernichtungsstätten im Bezirk Lublin: Sobibór und Treblinka.
Die Entscheidung, die deutschen und westeuropäischen Juden in den Osten zu deportieren, warf für die Täter eine Reihe von Fragen auf, die von den verschiedenen mit der Deportation befassten Instanzen des NS-Regimes gemeinsam abgestimmt werden mussten. Zudem war noch nicht geklärt, ob die – im Warthegau und im Reichskommissariat Ostland bereits gefällten – Entscheidungen, die in den Gettos zusammengepferchten Menschen nach Arbeitsfähigkeit zu selektieren und die angeblich Arbeitsunfähigen mit neuen Tötungsmitteln massenweise und systematisch zu ermorden, von den anderen NS-Institutionen geteilt wurden.
Als dringliches Problem für die NS-Führung erwies sich die Behandlung der deutschen und österreichischen Juden, also der Menschen, die aus dem eigenen Land kamen. Von den etwa 20.000 Juden aus Deutschland, die zwischen dem 15. Oktober und 4. November 1941 nach Łódz´ deportiert worden waren, starben etliche an Hunger, Krankheiten und Entbehrung, aber noch wurde keiner von ihnen in Kulmhof/Chełmno ermordet. Die 12.000 deutschen, österreichischen und tschechischen Juden, die im November nach Minsk verschleppt worden waren, kamen ins Getto und blieben vorerst am Leben, wohingegen mehr als 6.600 weißrussische Juden wenige Tage zuvor erschossen worden waren. Andererseits tötete das SS-Einsatzkommando 3 sämtliche 4.934 Juden aus Deutschland und Österreich, die am 25. und 29. November 1941 in Kaunas/Kowno angekommen waren. Gleichfalls ermordeten SS-Einheiten unter dem Höheren SS- und Polizeiführer Friedrich Jeckeln am 30. November in Riga 1.000 Berliner Juden unmittelbar nach ihrer Ankunft.
Wannsee-Konferenz
Am 20. Januar 1942 fand in der einstigen Villa des Industriellen Ernst Marlier, nun Gästehaus des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, jenes Treffen statt, das als Wannsee-Konferenz in die Geschichte eingehen sollte. Neben Reinhard Heydrich, dem Chef der Gestapo Heinrich Müller und Adolf Eichmann vom Reichssicherheitshauptamt nahmen Staatssekretär Dr. Wilhelm Stuckart aus dem Reichsinnenministerium, der Leiter der Deutschland-Abteilung im Auswärtigen Amt und Unterstaatssekretär Martin Luther, der Staatssekretär im Justizministerium Dr. Roland Freisler, Erich Neumann, Staatssekretär im Amt des Beauftragten für den Vierjahresplan, und andere hochrangige Vertreter aus dem Staats- und Parteiapparat an dem Treffen teil.
Auf der Wannsee-Konferenz wurde nicht, wie früher angenommen, die "Endlösung der Judenfrage" beschlossen, sondern vielmehr, wie die nachträgliche Niederschrift es ausdrückte, die "Parallelisierung der Linienführung" vereinbart, das heißt, man verständigte sich auf Mord. An die Stelle der Auswanderung sei nunmehr "als weitere Lösungsmöglichkeit nach entsprechender vorheriger Genehmigung durch den Führer die Evakuierung der Juden nach dem Osten getreten". Deren Zahl gab Heydrich, nach den überhöhten statistischen Vorlagen Eichmanns, mit elf Millionen an. Europa sollte "vom Westen nach Osten durchgekämmt" werden, wobei das Deutsche Reich und das Protektorat Böhmen und Mähren "allein schon aus Gründen der Wohnungsfrage und sonstigen sozial-politischen Notwendigkeiten" vorweggenommen werden müssten. Über elf Millionen Juden sollten im Zuge der "Endlösung der europäischen Judenfrage" getötet werden. Die detaillierte Länderliste führte auch Staaten wie Irland, Portugal, Spanien, England, Schweden, Finnland, die Schweiz und die Türkei auf, die gar nicht unter deutscher Gewalt standen, was zeigt, wie systematisch, umfassend und unerbittlich diese Täter planten.
Ein weiterer, wichtiger Besprechungspunkt war die "Mischlingsfrage". Die Bestimmungen der Nürnberger Gesetze waren dem Reichssicherheitshauptamt, aber auch der Parteikanzlei und dem Rassepolitischen Amt der NSDAP zu eng gefasst. Sie wollten die "Halbjuden" den Juden gleichstellen. Für die besetzten Gebiete hatten die Nürnberger Gesetze und deren nachfolgende Durchführungsverordnungen, in denen bürokratisch festgelegt wurde, wer als "Jude" zu gelten habe, sowieso keine Gültigkeit, aber auch innerhalb des Reichsgebietes wollten die SS und die Polizei Zugriff auf die "Mischlinge" haben. Das Reichsinnenministerium wie auch Göring lehnten eine Ausweitung der Definition, soweit sie deutsche und österreichische Juden betraf, jedoch ab. Sie fürchteten eine mögliche Unruhe in der Bevölkerung, wenn zum Beispiel Juden, die mit nichtjüdischen Deutschen verheiratet waren, in die Deportationen und Morde einbezogen wurden. Die Wannsee-Konferenz sollte hier Klarheit bringen, aber Heydrich konnte sich nicht gegen Stuckart durchsetzen. Die "Mischlingsfrage" blieb offen.
Dennoch war Heydrich mit dem Ergebnis der Konferenz offensichtlich zufrieden, hatten doch die übrigen Staats- und Parteiinstanzen seine Führung in der "Endlösung der Judenfrage" anerkannt und den Massenmord als Instrument akzeptiert. Insofern bildet die Wannsee-Konferenz zweifellos einen wichtigen Markstein im Prozess der Radikalisierung der Gewalt (Unter Externer Link: http://www.ghwk.de/wannsee-konferenz/dokumente-zur-wannsee-konferenz/ sind Protokolle der Konferenz als PDF-Dokumente eingestellt, zuletzt abgerufen am 05.03.2018).
"Aktion Reinhardt"
Im März 1942 setzten dann die "Räumungen" der jüdischen Gettos im von Deutschland besetzten Polen ein, zunächst in Lemberg und Lublin, deren jüdische Bewohner in Bełz˙ec ermordet wurden. Anfang Mai 1942 kam Sobibór hinzu und in der zweiten Julihälfte Treblinka, wohin die Menschen des Warschauer Gettos gebracht wurden, um dort sofort in den Gaskammern ermordet zu werden.
Seit dem Frühjahr 1941 hatte der geschäftsführende Ernährungsminister Herbert Backe bei Hitler immer wieder auf die Lebensmittelkrise im Deutschen Reich aufmerksam gemacht; für den April mussten spürbare Kürzungen der Rationen angeordnet werden, die zu deutlichem Unmut in der Bevölkerung führten – eine gefährliche Situation, in der die NS-Führung stets den Ersten Weltkrieg, in dem die Loyalität der Bevölkerung aufgrund der schlechten Versorgung eingebrochen war, als Warnung vor Augen hatte. Aus dem Generalgouvernement sollten mehr Nahrungsmittel als bisher ins Reich geschafft werden, indem dort die Rationen noch weiter gesenkt würden. Als die deutsche Besatzungsverwaltung einwandte, dass die Rationen für die Polen schon viel zu gering seien, erwiderte Backe, dass es doch im Generalgouvernement noch 3,5 Millionen Juden gebe. Anfang Juli 1942 besprach Backe seine Mordpläne mit Hitler und Göring, zur gleichen Zeit fanden Unterredungen Hitlers mit Himmler statt.
Nach einem Besuch des Vernichtungslagers Auschwitz ordnete Himmler am 19. Juli 1942 an, dass es bis zum Jahresende keine Juden mehr im Generalgouvernement geben dürfe. In nur wenigen Monaten, zwischen Juli und November 1942, fielen so weit über zwei Millionen Menschen dem systematischen Völkermord zum Opfer. Unter der Leitung deutscher Polizei trieben meist einheimische Kräfte die Juden in den Gettos aus ihren Häusern. Kranke und behinderte Menschen wurden gleich an Ort und Stelle erschossen. Die übrigen Opfer mussten sich auf einem zentralen Platz sammeln, auf dem anschließend Selektionen stattfanden und entschieden wurde, wer noch "arbeitsfähig" sei und deshalb vorerst von der Deportation in den Tod ausgenommen werden sollte. Alle anderen wurden zum Bahnhof gebracht und mit Zügen in die Vernichtungsstätten gebracht. Allein in den drei Lagern der "Aktion Reinhardt" wurden über 1,4 Millionen Menschen mit Gas ermordet. In Bełz˙ec starben etwa 435.000 Menschen, in Sobibór zwischen 160.000 und 200.000. Im Vernichtungslager Treblinka, in das die Juden aus dem Getto Warschau gebracht wurden, wurden etwa 850.000 Menschen getötet.
QuellentextDas Todesurteil für das Warschauer Getto
Marcel Reich-Ranicki erinnert sich:
[...] 1938 war ich aus Berlin nach Polen deportiert worden. Bis 1940 machten die Nationalsozialisten aus einem Warschauer Stadtteil den von ihnen später sogenannten „jüdischen Wohnbezirk“. [...]
Seit dem Frühjahr 1942 hatten sich Vor-fälle, Maßnahmen und Gerüchte gehäuft, die von einer geplanten generellen Veränderung der Verhältnisse im Getto zeugten. [...]
Am 22. Juli fuhren vor das Hauptgebäude des „Judenrates“ einige Personenautos vor und zwei Lastwagen mit Soldaten. Das Haus wurde umstellt. Den Personenwagen entstiegen etwa fünfzehn SS-Männer, darunter einige höhere Offiziere. Einige blieben unten, die anderen begaben sich forsch und zügig ins erste Stockwerk zum Amtszimmer des Obmanns, Adam Czerniaków.
[...] Auf der einen Seite des langen, rechteckigen Tisches [im Konferenzzimmer] nahmen acht SS-Offiziere Platz, unter ihnen Höfle*, der den Vorsitz hatte. Auf der anderen saßen die Juden: neben Czerniaków [...] fünf oder sechs Mitglieder des „Judenrates“, ferner der Kommandant des Jüdischen Ordnungsdienstes, der Generalsekretär des „Judenrates“ und ich als Protokollant.[...]
Höfle eröffnete die Sitzung mit den Worten: „Am heutigen Tag beginnt die Umsiedlung der Juden aus Warschau. Es ist euch ja bekannt, dass es hier zu viel Juden gibt. Euch, den ,Judenrat‘, beauftrage ich mit dieser Aktion. Wird sie genau durchgeführt, dann werden auch die Geiseln wieder freigelassen, andernfalls werdet ihr alle aufgeknüpft, dort drüben.“ Er zeigte mit der Hand auf den Kinderspielplatz auf der gegenüberliegenden Seite der Straße. [...]
So schnoddrig und sadistisch Höfle die Sitzung eingeleitet hatte, so sachlich diktierte er einen mitgebrachten Text, betitelt „Eröffnungen und Auflagen für den ,Judenrat‘“. [...] [I]ch schrieb, dass „alle jüdischen Personen“, die in Warschau wohnten, „gleichgültig welchen Alters und Geschlechts“, nach Osten umgesiedelt würden. Was bedeutete hier das Wort „Umsiedlung“? Was war mit dem Wort „Osten“ gemeint, zu welchem Zweck sollten die Warschauer Juden dorthin gebracht werden? Darüber war in Höfles „Eröffnungen und Auflagen für den ,Judenrat‘“ nichts gesagt. [...]
Höfle diktierte weiter. Jetzt war davon die Rede, dass die „Umsiedler“ fünfzehn Kilogramm als Reisegepäck mitnehmen dürften sowie „sämtliche Wertsachen, Geld, Schmuck, Gold usw.“. Mitnehmen durften oder mitnehmen sollten? – fiel mir ein. Noch am selben Tag, am 22. Juli 1942, sollte der Jüdische Ordnungsdienst, der die Umsiedlungsaktion unter Aufsicht des „Judenrates“ durchführen musste, 6000 Juden zu einem an einer Bahnlinie gelegenen Platz bringen, dem Umschlagplatz. Von dort fuhren die Züge in Richtung Osten ab. Aber noch wusste niemand, wohin die Transporte gingen, was den „Umsiedlern“ bevorstand.
Im letzten Abschnitt der „Eröffnungen und Auflagen“ wurde mitgeteilt, was jenen drohte, die etwa versuchen sollten, „die Umsiedlungsmaßnahmen zu umgehen oder zu stören“. Nur eine einzige Strafe gab es, sie wurde am Ende eines jeden Satzes refrainartig wiederholt: „ ... wird erschossen“.
Wenige Augenblicke später verließen die SS-Führer mit ihren Begleitern das Haus. Kaum waren sie verschwunden, da verwandelte sich die tödliche Stille nahezu blitzartig in Lärm und Tumult: Noch kannten die vielen Angestellten des „Judenrates“ und die zahlreichen wartenden Bittsteller die neuen Anordnungen nicht. Doch schien es, als wüssten oder spürten sie schon, was sich eben ereignet hatte – dass über die größte jüdische Stadt Europas das Urteil gefällt worden war, das Todesurteil.
Ich begab mich schleunigst in mein Büro, denn ein Teil der von Höfle diktierten „Eröffnungen und Auflagen“ sollte innerhalb von wenigen Stunden im ganzen Getto plakatiert werden. Ich musste mich sofort um die polnische Übersetzung kümmern. Langsam diktierte ich den deutschen Text, den meine Mitarbeiterin Gustawa Jarecka sofort polnisch in die Maschine schrieb.
Ihr also, Gustawa Jarecka, diktierte ich am 22. Juli 1942 das Todesurteil, das die SS über die Juden von Warschau gefällt hatte. [...]
Die in den Vormittagsstunden des 22. Juli 1942 begonnene Deportation der Juden aus Warschau nach Treblinka dauerte bis Mitte September. Was die „Umsiedlung“ der Juden genannt wurde, war bloß eine Aussiedlung – die Aussiedlung aus Warschau. Sie hatte nur ein Ziel, sie hatte nur einen Zweck: den Tod.
* SS-Sturmbannführer und Leiter der allgemein „Ausrottungskommando“ genannten Hauptabteilung Reinhard beim SS- und Polizeiführer Marcel Reich-Ranicki, „Ein Tag in meinem Leben“. Rede vor dem Deutschen Bundestag zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2012, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. Januar 2012, S. 29 und unter www.bpb.de/apuz/141894/ein-tag-in-meinem-leben
QuellentextMord in Bełz´ec
Kurt Gerstein berichtet über den Tötungsprozess:
Kurt Gerstein war ein engagierter Christ, der, um den Verbrechen des NS-Regimes auf die Spur zu kommen, in die SS eintrat und wegen seines Medizinstudiums der Abteilung Hygiene im Sanitätswesen der Waffen-SS zugeordnet wurde. Mehrmals versuchte er, vergeblich, sein Wissen über die Vernichtung der Juden der Vertretung des Vatikans in Deutschland mitzuteilen. Seinen Bericht schrieb er im Mai 1945 in französischer Gefangenschaft und beging kurze Zeit danach im Militärgefängnis in Paris Selbstmord.
„Dicht bei dem kleinen zweigleisigen Bahnhof war eine große Baracke, die so genannte Garderobe, mit einem großen Wertsachenschalter. Dann folgte ein Zimmer mit etwa 100 Stühlen, der Friseurraum. Dann eine kleine Allee im Freien unter Birken, rechts und links von doppeltem Stacheldraht umsäumt, mit Inschriften: Zu den Inhalier- und Baderäumen! – Vor uns eine Art Badehaus mit Geranien, dann ein Treppchen, und dann rechts und links je 3 Räume 5x5 Meter, 1,90 Meter hoch, mit Holztüren wie Garagen. An der Rückwand, in der Dunkelheit nicht recht sichtbar, große hölzerne Rampentüren. Auf dem Dach als ‚sinniger kleiner Scherz’ der Davidstern!! […] Nach einigen Minuten kam der erste Zug von Lemberg aus an. 45 Waggons mit 6700 Menschen, von denen 1450 schon tot waren bei ihrer Ankunft. Hinter den vergitterten Luken schauten, entsetzlich bleich und ängstlich, Kinder durch, die Augen voll Todesangst, ferner Männer und Frauen. Der Zug fährt ein: 200 Ukrainer reißen die Türen auf und peitschen die Leute mit ihren Lederpeitschen aus den Waggons heraus. Ein großer Lautsprecher gibt die weiteren Anweisungen: Sich ganz ausziehen, auch Prothesen, Brillen usw. Die Wertsachen am Schalter abgeben, ohne Bons oder Quittung. Die Schuhe sorgfältig zusammenbinden […]. Dann die Frauen und Mädchen zum Friseur, der mit zwei, drei Scherenschlägen die ganzen Haare abschneidet und sie in Kartoffelsäcken verschwinden läßt. ‚Das ist für irgendwelche Spezialzwecke für die U-Boote bestimmt, für Dichtungen oder dergleichen!’ sagt mir der SS-Unterscharführer, der dort Dienst tut.
Dann setzt sich der Zug in Bewegung. Voran ein bildhübsches junges Mädchen, so gehen sie die Allee entlang, alle nackt, Männer, Frauen, Kinder, ohne Prothesen. Ich selbst stehe mit dem Hauptmann Wirth oben auf der Rampe zwischen den Kammern. Mütter mit ihren Säuglingen an der Brust, sie kommen herauf, zögern, treten ein in die Todeskammern! — An der Ecke steht ein starker SS-Mann, der mit pastoraler Stimme zu den Armen sagt: Es passiert Euch nicht das Geringste! Ihr müßt nur in den Kammern tief Atem holen, das weitet die Lungen, diese Inhalation ist notwendig wegen der Krankheiten und Seuchen. […] Die Kammern füllen sich. Gut vollpacken – so hat es der Hauptmann Wirth befohlen. Die Menschen stehen einander auf den Füßen. 700-800 auf 25 Quadratmetern, in 45 Kubikmetern! Die SS zwängt sie physisch zusammen, soweit es überhaupt geht. – Die Türen schließen sich. […] Aber der Diesel funktioniert nicht! Der Hauptmann Wirth kommt. Man sieht, es ist ihm peinlich, dass das gerade heute passieren muss, wo ich hier bin. Jawohl, ich sehe alles! Und ich warte. Meine Stoppuhr hat alles brav registriert. 50 Minuten, 70 Minuten – der Diesel springt nicht an! Die Menschen warten in ihren Gaskammern. Vergeblich.
Man hört sie weinen, schluchzen. [...] Der Hauptmann Wirth schlägt mit seiner Reitpeitsche dem Ukrainer, der dem Unterscharführer Heckenholt beim Diesel helfen soll, 12, 13mal ins Gesicht. Nach 2 Stunden 49 Minuten – die Stoppuhr hat alles wohl registriert – springt der Diesel an. Bis zu diesem Augenblick leben die Menschen in diesen 4 Kammern, viermal 750 Menschen in viermal 45 Kubikmetern! – Von neuem verstreichen 25 Minuten. Richtig, viele sind jetzt tot. Man sieht das durch das kleine Fensterchen, in dem das elektrische Licht die Kammer einen Augenblick beleuchtet. Nach 28 Minuten leben nur noch wenige. Endlich, nach 32 Minuten ist alles tot!“
Auszug aus dem Augenzeugenbericht von Kurt Gerstein (1905-1945) über seinen Besuch im Vernichtungslager Bełz´ec 1942
in: Hans Rothfels, „Augenzeugenberichte zu den Massenvergasungen“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (1953), S. 177 ff.
Auschwitz
Insbesondere Auschwitz steht als Name für das schrecklichste Verbrechen in der Menschheitsgeschichte. 1939 zunächst als Lager für polnische politische Häftlinge eingerichtet, wurde es 1941 für Tausende sowjetische Kriegsgefangene ausgebaut. Morde an Häftlingen hatte es in diesen Jahren stets gegeben, aber in der Planung des neuen Lagers in Auschwitz-Birkenau ab September 1941 waren auch zwei Krematorien vorgesehen. Erste Morde mit Zyklon B wurden an sowjetischen Kriegsgefangenen im September 1941 verübt. Ab Juli 1942 liefen dann regelmäßig Züge mit deportierten Juden aus ganz Westeuropa ein. An der Rampe in Birkenau selektierten SS-Ärzte die Menschen in "arbeitsfähig" und "arbeitsunfähig", wobei die "Arbeitsunfähigen", in erster Linie alte Menschen und Mütter mit ihren Kindern, in zwei umgebauten Bauernhäusern, deren Räume als Gaskammern dienten, sogleich ermordet wurden. Später, im Frühjahr 1943, wurden zwei neue große Krematorien, die jeweils über eigene Gaskammern verfügten, fertiggestellt. Ein drittes Lager, Monowitz, entstand in Auschwitz, als der Chemiekonzern I. G. Farben einen Produktionsstandort für ein neues Werksgelände suchte, das kriegswichtiges synthetisches Gummi herstellen sollte. Zwar wurde in Auschwitz kein einziges Kilogramm synthetischer Kautschuk produziert, aber es wurden Pläne für eine deutsche Musterstadt mit einem gigantischem Zwangsarbeitslager entwickelt. Siedlungsvisionen und Vernichtungspolitik gingen stets Hand in Hand.
Die wohl am wenigsten zutreffende Metapher für die Vernichtungslager ist die der "Todesfabrik". So industriell das Verfahren des Tötens in den Gaskammern erscheinen mag, so wenig griff hier ein Rädchen ins andere. Weder in Auschwitz noch in Bełz˙ec, Sobibór oder Treblinka funktionierte eine "saubere", anonyme Vernichtungsmaschinerie; vor und in den Gaskammern spielten sich grauenvolle Szenen ab. Das Ermorden der Menschen, das Lüften der Gaskammern, das Verbrennen der Leichen, das Sortieren der Habseligkeiten dauerte mehrere Stunden. Hunderte von jüdischen Zwangsarbeitern wurden für diese "Arbeit" eingesetzt. Die Vorstellung einer "Todesfabrik", des reibungslosen Ineinandergreifens vieler Teile einer großen Maschine, verschleiert das tatsächliche, brutale Geschehen und entlastet die Phantasie, sich das Unvorstellbare vor Augen zu führen. Die Ordnung, die das Bild von der Vernichtungsmaschinerie suggeriert, hat es jedenfalls nie gegeben.
QuellentextVernichtung durch Arbeit
Julius Bendorf überlebt Auschwitz-Monowitz:
Julius Bendorf wird am 4. Januar 1915 in Ober-Ramstadt im Odenwald geboren. Bis zu deren Schließung 1938 arbeitet er als Angestellter einer jüdischen Privatbank in Darmstadt. Versuche, mit der Familie in die USA auszuwandern, schlagen fehl. Ab April 1938 wird Julius Bendorf zur Zwangsarbeit herangezogen, zunächst in Darmstadt, dann – gemeinsam mit seinem Bruder Manfred – in Paderborn und Bielefeld. Vor dort werden die beiden Brüder im März 1943 nach Auschwitz deportiert. Julius Bendorf überlebt Lager und Todesmarsch. 1948 wandert er in die USA aus. – Sein Bericht wird 1985 in Ober-Ramstadt aufgezeichnet.
„Wir kamen in Auschwitz mitten in der Nacht an: Scheinwerfer machten die Gegend taghell, dann scharfe Kommandos, Türen auf, aussteigen. Die schrien: sofort raus, sofort raus, raus. Man hat die Koffer gar nicht mehr mitnehmen können. In der Nacht haben die Ärzte schon entschieden, wer in welche Richtung zu gehen hatte. Wir mussten uns alle ausziehen und bekamen so eine Art Häftlingsuniform. Sie haben alte Leute und Kinder aussortiert. Also, wir sind dann herausgestiegen und sofort in Viererreihen losmarschiert und dann an diesen Ärzten vorbei, und die haben dann immer gebrüllt: nach links, nach rechts, nach links, nach rechts. Es war die erste Selektion, und ich stand zusammen mit meinem Bruder Manfred, und die rechte Seite kam nach Monowitz. [...]
Das Lager Monowitz, das für die IG-Farben Buna erzeugen sollte, bestand noch nicht lange. Die Häftlinge mussten es in Handarbeit aufbauen. [...] Das Lager diente vorwiegend den Produktionsaufgaben der IG-Farben. Was mich da erwartete, war nun wirklich entsetzlich, etwas ganz anderes, als ich vorher erlebt hatte. Ich sah also z. B. auch Hinrichtungen hier, dem sogenannten Lager IV, in dem weitgehend die IG-Farben für ihre Produktion Menschen durch Arbeit vernichtete.
Der Arbeitstag sah so aus, dass man um 4.00 Uhr morgens geweckt wurde, dann musste man zum Appellplatz gehen. Insassen der einzelnen Wohnblocks wurden abgezählt. Dann kam der Kommandant, und der Stubenälteste meldete, so und so viele Häftlinge angetreten. Das musste übereinstimmen mit der Liste. [...] Dann ging es zur Arbeit mit SS-Begleitung. Wenn die Arbeit so gegen 17.00 oder 18.00 Uhr beendet war, marschierten wir wieder geschlossen herein, mussten dort antreten im Lager, und es wurde wieder gemeldet, wieviele Häftlinge zurückgekommen sind, und dann wurde gezählt und wieder gezählt. Die Toten mussten mitgeschleppt werden; sie wurden dann mitgezählt. Manchmal haben die sich verzählt, und dann musste alles von vorne anfangen. [...]
Auf die Dauer konnte es in Monowitz nicht gelingen, seine Arbeitskraft zu erhalten, denn man konnte sich der Antreiberei nicht entziehen. Dafür sorgten schon die unmenschlichen Bewacher, die zusätzliche Ängste verursachten durch Bestrafungen oder Drohungen, nach Auschwitz-Birkenau – und das hieß Gaskammer, was jeder wusste – verladen zu werden. Die Bestrafungen, die von uns allen mitangesehen werden mussten, waren Prügel oder Hinrichtungen durch den Strick. [...] An einem einzigen Abend haben sie in Monowitz vier Leute aufgehängt. [...]
Im Laufe der Zeit erlosch bei sehr vielen Häftlingen der Überlebenswille, und ich habe gesehen, wie einige Mithäftlinge aus meiner Bielefelder Zeit an die elektrisch geladenen Zäune sprangen, um ihrem Leben ein Ende zu setzen.
In meinen Unterlagen steht, dass ich im Häftlingskrankenhaus in Monowitz behandelt worden bin, und zwar vom 28. August 1943 bis 20. Oktober 1943. Ich hatte in dieser Zeit eine Reihe von Geschwüren. Meine Behandlung bestand darin, dass auf diese Geschwüre Salz gepackt wurde und ein paar Papierbinden darüber kamen. Um diese Zeit waren für Häftlinge keinerlei Verbandsstoffe mehr zu haben. Hätte ich etwas Ernsteres gehabt, wäre ich also wirklich ins Krankenhaus gekommen, dann wäre das mein Ende gewesen. Ich wäre sofort mit einem Lastwagen ins Todeslager Auschwitz-Birkenau überführt worden und dort vergast worden. Meinem Bruder ist es so ergangen. Manfred hatte eine Verletzung am Bein, und die war nicht richtig behandelt worden. So konnte er seinen Fuß überhaupt nicht mehr belasten. Er konnte also nicht mehr laufen. Sein Schicksal hat sich dann in Auschwitz vollendet, er ist dort vergast worden. Ich habe das, als er abgeholt wurde, nicht sicher gewusst, weil ich immer noch einen Funken Hoffnung hatte, dass er vielleicht zurückkommen würde, um hier weiterarbeiten zu können. Da jeder in Monowitz wusste, was in Auschwitz passiert, gab es nur eine einzige Parole: Gehe nicht ins Krankenlager! Und so haben die Menschen, die erkrankt waren, bis zuletzt versucht, ihre Krankheit zu vertuschen, nur um nicht auf diesen Weg geschickt zu werden. Meine Krankenbehandlung hatte mich nicht arbeitsunfähig gemacht, und so blieb mir dieser Weg erspart. [...]“
Helmut Beier, Ober-Ramstadt und seine Juden. Dokumente und Berichte. Hg. vom Magistrat der Stadt Ober-Ramstadt 1988, S. 255 ff.
Holocaust in West- und Südeuropa
Der erste Deportationszug aus Westeuropa verließ am 27. März 1942 mit über tausend jüdischen Menschen das Lager Compiègne bei Paris in Richtung Auschwitz. Die französische Polizei beteiligte sich an der Verhaftung von Juden. In Frankreich hielten sich 1940 etwa 300.000 Juden auf, zu einem großen Teil Menschen aus Deutschland und anderen Ländern Europas, die vor den Nationalsozialisten dorthin geflüchtet waren. Annähernd 75.000 von ihnen wurden deportiert und ermordet. Viele wurden noch ergriffen, als Deutschland im November 1942 nach der Landung der Alliierten in Westafrika auch in die bislang unbesetzte Zone einmarschierte.
In den Niederlanden war es das Lager Westerbork, aus dem die holländischen Juden nach Auschwitz in den Tod deportiert wurden. Von den 140.000 Anfang 1941 in den Niederlanden lebenden Juden betraf dieses Schicksal 107.000 Menschen, von denen nicht mehr als 5200 überlebten. Aus Belgien, wo zahlreiche Juden untertauchen konnten, wurden etwa 25.000 Menschen deportiert; in Norwegen gelang es vielen, rechtzeitig ins neutrale Schweden zu flüchten, sodass dort nur ein Bruchteil der jüdischen Gemeinde den Nationalsozialisten in die Hände fiel. Und in Dänemark konnten die Juden auf die Solidarität und den Widerstandswillen ihrer nichtjüdischen Nachbarn bauen, denn kurz vor der geplanten Deportation im Oktober 1943 gelang es den meisten, mit Booten nach Schweden zu entkommen. Nur 500 der knapp 8.000 jüdischen Dänen gerieten in deutsche Hände und wurden nach Theresienstadt deportiert, wo der größte Teil von ihnen überlebte.
Im besetzten Serbien begegneten die Militärs dem aufflammenden Partisanenkampf mit dem Befehl, für jeden getöteten Deutschen 100 Juden zu ermorden. Bis zum Jahresende 1941 lebte fast keiner der 6.000 jüdischen Männer mehr, die etwa 8500 Frauen und Kinder wurden in das Lager Sajmište in Belgrad verschleppt und dort im Frühjahr 1942 von SS und Polizei in Gaswagen qualvoll umgebracht. Der kroatische Ustascha-Staat, der gleichermaßen mörderisch gegen die serbische Minderheit im Land wie gegen die Roma vorging, raubte die kroatischen Juden gnadenlos aus und tötete sie dann im Lager Jasenovac. War der Süden Kroatiens zunächst noch von italienischen Truppen besetzt, die sich weigerten, Juden an die deutschen Behörden auszuliefern, so fiel auch dieser Schutz weg, als das faschistische Regime Italiens im September 1943 zusammenbrach. Auch die Juden, die dort bislang überlebt hatten, wurden nun von den Deutschen in den Tod deportiert.
Griechenland geriet mit dem Balkanfeldzug im Frühjahr 1941 ebenfalls unter deutsche und italienische Gewalt. Hier agierte die Militärbesatzung mit äußerster Härte gegen Widerstandsaktionen. Als zum Beispiel in der Region Kalavryta im Dezember 1943 kommunistische Partisanen eine deutsche Kompanie angriffen und dabei etwa 80 deutsche Soldaten erschossen, befahl der kommandierende Wehrmachtsgeneral, Kalavryta sowie all diejenigen Orte, die angeblich die Partisanen unterstützt hätten, "dem Erdboden gleichzumachen". Innerhalb weniger Tage wurden 24 Ortschaften und drei Klöster niedergebrannt und deren Bewohner erschossen. Insgesamt wurden während der deutschen Besatzungszeit 180.000 Griechen getötet; von den etwa 71.000 griechischen Juden wurden 55.000, nachdem sie systematisch ausgeraubt worden waren, nach Auschwitz und Treblinka deportiert, zunächst aus den von Deutschland besetzten Westteilen Griechenlands, später, nach Mussolinis Sturz im September 1943, auch aus den übrigen, vordem italienisch besetzten Landesteilen.
Bulgarien und Rumänien als verbündete Mächte erließen harte antisemitische Gesetze, lieferten aber ihre jüdischen Minderheiten, soweit sie die jeweilige Staatsbürgerschaft besaßen, nicht aus – im Unterschied zur Slowakei, die ihre Juden in die Gewalt der Deutschen übergab. Gegenüber den Juden in den eroberten und besetzten Gebieten dagegen verhielten sich die Rumänen äußerst brutal. Zehntausende wurden aus Czernowitz und der Bukowina nach Transnistrien verschleppt und dort entweder erschossen oder dem Tod durch Hunger, Kälte und Seuchen preisgegeben. Über 211.000 jüdische Menschen fielen der Verfolgung zum Opfer.
Von den 3,3 Millionen polnischen Juden wurden mehr als zwei Millionen in den Vernichtungslagern Chełmno, Sobibór, Bełz˙ec, Treblinka, Auschwitz und Majdanek ermordet. Weitere etwa 700.000 Menschen starben in Gettos, Arbeitslagern und durch Erschießungen. Aber in Polen und der Sowjetunion gab es auch Widerstand durch Partisanen, und der jüdische Aufstand im Getto Warschau im Mai 1943 zeigte, obwohl er brutal niedergeschlagen wurde, dass die Macht der Deutschen nicht uneingeschränkt und unverwundbar war.
Im März 1944 marschierte die Wehrmacht in Ungarn ein, weil die NS-Führung zum einen befürchtete, Ungarn könne wegen der militärisch aussichtslosen Lage aus dem Bündnis mit Deutschland ausscheren. Zum anderen war die deutsche Kriegswirtschaft dringend auf die dortigen Rohstoffe, Nahrungsmittel und vor allem Arbeitskräfte angewiesen. Ein Sonderkommando unter Adolf Eichmann organisierte zusammen mit der ungarischen Polizei die Deportation von über 430.000 ungarischen Juden nach Deutschland, nachdem sie all ihrer Habe beraubt worden waren. Etwa 100.000 wurden zur Sklavenarbeit auf die wichtigsten Rüstungsbetriebe verteilt, während alle anderen in Auschwitz ermordet wurden. Als im Oktober sowjetische Truppen auf Budapest vorrückten, unterstützten die deutschen Besatzer einen Putsch der faschistischen "Pfeilkreuzler" gegen den ungarischen Diktator Miklós Horthy und trieben mit ihren ungarischen Helfershelfern, da Züge nicht mehr fahren konnten, über 75.000 Menschen auf Todesmärschen zum Arbeitseinsatz in Richtung Deutsches Reich. Von den über 700.000 Juden, die im März 1944 in Groß-Ungarn gelebt hatten, überlebten nur 293.000.
QuellentextDie „Auschwitzlüge“
Das Ausmaß des nationalsozialistischen Völkermords, die Massenerschießungen von Juden zu Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion im Sommer 1941 und die spätere fabrikmäßige Tötung mit Giftgas haben die Vernichtung der europäischen Juden zu einem einzigartigen Phänomen in der Geschichte Europas gemacht, mit dem es sich nach Kriegsende auseinanderzusetzen galt. Gerichtsprozesse, wissenschaftliche Forschungen und Erinnerungsberichte führten zu immer differenzierteren und umfangreicheren Kenntnissen über den Holocaust bzw. die Shoah. Die Öffnung der Archive in den ehemaligen Ostblockstaaten gab der Forschung neue Impulse und brachte insbesondere auf dem Gebiet der Täterforschung weitere und detailliertere Erkenntnisse über die Vernichtungsmaschinerie.
Obgleich eine unglaubliche Fülle von wissenschaftlichen Publikationen, autobiografischen Zeugnissen und Zeitungsartikeln zum Thema erschienen ist und es selbst vor bundesdeutschen Gerichten seit einigen Jahren eines Nachweises über die Zahl der jüdischen Opfer – zwischen 5,1 und 6 Millionen – nicht mehr bedarf, funktionieren in Teilen der deutschen Bevölkerung noch immer Verharmlosungs- und Verdrängungsmechanismen, die zugunsten eines Schlussstriches eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ausblenden wollen. Eine Minderheit allerdings gibt sich damit nicht zufrieden, sie verharmlost nicht nur durch Aufrechnung mit anderen Verbrechen, sondern stellt den Genozid an den Juden insgesamt in Frage. In der Öffentlichkeit vertreten wird diese Methode durch ein Netzwerk von Publizisten, die behaupten, die historischen Erkenntnisse über den Holocaust müssten einer grundlegenden Revision („Revisionisten“) unterzogen werden, deren Ergebnis sei, dass der Holocaust nicht stattgefunden habe, sondern von jüdischer Seite als der Betrug des 20. Jahrhunderts lanciert worden sei. Dieses Phänomen allerdings beschränkt sich nicht nur auf Deutschland, sondern es ist längst über seine Grenzen hinaus zu beobachten und insbesondere im internationalen Rechtsextremismus zum einigenden ideologischen Faktor geworden. [...]
Die Holocaust-Leugnung hatte vor allem in den 70er- und 80er-Jahren Konjunktur, blieb jedoch weitgehend auf einen kleineren Kreis von Alt- und Neonazis beschränkt. [...] Erst der Erfolg des World Wide Web verhalf den Revisionisten zu neuen, bisher unbekannten Möglichkeiten, ungehindert ihre Propaganda international zu verbreiten und mit den technischen Errungenschaften attraktiv insbesondere für junge Leute zu werden.
Die meisten rechtsextremen Internet-Pages beschäftigen sich mit dem Versuch, den Holocaust zu leugnen, Zahlenspiele zu betreiben, deren Ergebnis entweder ein Bruchteil der tatsächlichen Opferzahl wiedergibt oder durch unterschiedliche Angaben seriöser Institutionen oder abweichender Forschungsresultate den Genozid an den Juden überhaupt bezweifelt, wobei die angebliche Nichtexistenz von Gaskammern eine zentrale Rolle spielt. Die Vorgehensweise entspricht der bekannten Taktik der Holocaust-Leugner, vermeintliche Spezialisten und Pseudowissenschaftler ins Feld zu führen, diese immer wieder wechselweise zu zitieren, sodass sich ein Zirkelschluss ergibt, der angeblich wissenschaftlich fundierte Tatsachen vermitteln soll. Die vordergründig naive Frage, ob es schon Antisemitismus sei, wenn man die Geschichte des Holocaust hinterfragt, will auf Wissenschaftlichkeit abheben. [...]
Die Revisionisten vermitteln den Anschein, wissenschaftlich zu arbeiten, einige unter ihnen bedienen sich des wissenschaftlichen Umfelds, aus dem sie kommen, um auf ihre vermeintliche Seriosität abzuheben. [...] Das Negieren von Quellen und ihre selektive Auswahl als Beleg für eine vorab intendierte These, die Verfälschung von Dokumenten, die Diskreditierung von Zeugenaussagen der Täter (etwa des Kommandanten von Auschwitz Rudolf Höß) wie der Opfer und der wissenschaftlichen Forschung zum Nationalsozialismus, das Stützen auf unseriöse Gutachten, all dies hat mit Wissenschaft nichts gemein, es sind vielmehr Methoden einer politischen Propaganda, der jeglicher Wille einer wissenschaftlichen Erkenntnis fehlt und deren alleiniger Zweck die Verbreitung antisemitischer Stereotypen ist. [...]
Durch bewusste Entstellungen der historischen Tatsachen werden scheinbare Widersprüche in den Forschungen und Darstellungen der seriösen Historiografie produziert. Die Revisionisten bezweifeln: die Zahl der Ermordeten; die Techniken der Ermordung; die Existenz der Gaskammern – ein Thema, das in den letzten Jahren den zentralen Platz im revisionistischen Umfeld einnimmt; einzelne Dokumente und Abbildungen; die Orte der Vernichtung; den Holocaust überhaupt; die Verantwortung Hitlers (Hitler habe nichts gewusst, es gebe schließlich keinen Befehl).
Der Genozid wird in revisionistischen Veröffentlichungen zum Nationalsozialismus nicht erwähnt oder nur als eines von vielen Kriegsereignissen eingestuft und gegen die angeblichen „Kriegsverbrechen der Alliierten“ aufgerechnet. [...] Ähnliche Ziele verfolgen die Revisionisten auch mit dem Hinweis auf die „Vertreibungsopfer“. Die Verbrechen an den Juden werden zwar zugegeben, aber als Kriegsfolge eingestuft, als legitime Abwehrmaßnahme gegen die Angriffe des „Internationalen Judentums“, die schließlich Deutschland den Krieg erklärt hätten. Wenn Revisionisten den Judenmord und den Einsatz der Vernichtungsmaschinerie als Fakten anerkennen, dann geben sie zumindest die Zahl der Opfer deutlich geringer an. [...]
Im europäischen Rechtsextremismus nimmt die Holocaust-Leugnung eine zentrale Rolle ein, hier wird unterstellt, der Holocaust habe nie stattgefunden, die „Auschwitzlüge“ werde aber von jüdischer Seite benutzt, um mit Hilfe ihres Opferstatus moralischen Druck vor allem auf europäische Regierungen auszuüben (Restitution, Unterstützung der israelischen Politik), aber auch Einfluss auf die Israelpolitik der USA zu nehmen. Zudem negiert die These von der „Auschwitzlüge“ natürlich auch die Behauptung, die Gründung des Staates Israel sei historisch notwendig gewesen, um den Überlebenden des Holocaust und Juden generell eine sichere Heimstätte zu schaffen. [...]
In Deutschland [...] ist die gewalttätige Umsetzung antisemitischer, verschwörungstheoretischer Indoktrination, also dessen, was rechtsextreme Parteien und Druckerzeugnisse des Spektrums regelmäßig thematisieren, noch immer im Wesentlichen auf die rechtsextreme Szene begrenzt. Angriffe auf Mahnmale und Gedenkstätten sind Versuche, die deutsche Geschichte reinzuwaschen und die Erinnerung an die Vergangenheit auszulöschen. Dies gilt ebenso für die Schändung jüdischer Friedhöfe, Ersatzhandlungen also, die besonders perfide anmuten, weil sie sich gegen die Toten richten, obwohl die Lebenden gemeint sind.
Juliane Wetzel, „Die Auschwitzlüge“, in: Wolfgang Benz / Peter Reif-Spirek (Hg.), Geschichtsmythen. Legenden über den Nationalsozialismus, 2. Aufl., Metropol-Verlag Berlin 2005, S. 27 ff.