Einleitung
Am 20. August 1934 verkündete Hitler das Ende eines fünfzehnjährigen Kampfes "unserer Bewegung um die Macht in Deutschland. [...] Angefangen von der obersten Spitze des Reiches über die gesamte Verwaltung bis zur Führung des letzten Ortes befindet sich das Deutsche Reich in der Hand der Nationalsozialistischen Partei". Tatsächlich hatten Hitler und die NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) in knapp eineinhalb Jahren nach der Übernahme der Reichskanzlerschaft nicht nur das politische System völlig verändert, sondern auch die Herrschaft in einem Ausmaß erobert, daß kein Bereich von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur von dem Formierungswillen des Nationalsozialismus unberührt blieb. Durch eine Volksabstimmung vom 19. August 1934, bei der die Wählerinnen und Wähler keine echte Entscheidungsmöglichkeit besaßen, hatte sich Hitler unter dem Titel "Führer und Reichskanzler" seine neue Machtfülle als Staatsoberhaupt, Regierungschef, Oberbefehlshaber der Reichswehr und oberster Gerichtsherr mit 89,9 Prozent der Stimmen (bei einer für solche Abstimmungen noch ungewöhnlich großen Zahl von Nein-Stimmen) absegnen lassen. Wiederum vierzehn Tage später präsentierte der 6. Nürnberger Reichsparteitag der NSDAP, als "Triumph des Willens" von der Regisseurin Leni Riefenstahl filmisch in Szene gesetzt, Sieg und Herrschaft des Nationalsozialismus und seines Führers, der sein Regime nun auf Dauer einrichtete. Die improvisierte Parteitagskulisse in Nürnberg sollte durch eine kolossale Tempelarchitektur mit Ewigkeitsanspruch ersetzt werden.
Die Grundzüge der nationalsozialistischen Herrschaft und die wichtigsten Herrschaftstechniken waren damit ausgebildet. Mit der charakteristischen Doppelstrategie von Unterdrückung und organisierter Verlockung hatten die Nationalsozialisten mit Unterstützung oder Duldung von nicht unbeträchtlichen Teilen der Gesellschaft die parlamentarisch-demokratischen Institutionen im Reich, in den Ländern und Gemeinden völlig ruiniert sowie Parteien und Gewerkschaften gleichgeschaltet. Gleichzeitig hatten die Nationalsozialisten, gestützt auf den staatlichen Herrschaftsapparat wie auf die eigene ungeduldige Massenbewegung, den Verfassungs- und Rechtsstaat schrittweise ausgehöhlt. Dabei bedienten sie sich nicht nur der Notverordnungsmacht des Reichspräsidenten (nach Artikel 48 der Weimarer Verfassung) und anderer scheinlegaler Begründungen, sondern zogen alle Register moderner Massenmobilisierung bzw. -inszenierungen, die den Schein von politischer Partizipation und Demokratie erwecken sollten.
Die verfassungs- und sozialgeschichtlichen Folgen der nationalsozialistischen Machtübernahme der Jahre 1933/34 hätten kaum einschneidender sein können: Rechtsstaat und parlamentarische Demokratie waren beseitigt, die Gewaltenteilung war aufgehoben. Verschwunden waren auch die Sicherungen, die noch im März 1933 gegen eine Diktaturgewalt ausdrücklich in das Ermächtigungsgesetz zur Beruhigung der deutschnationalen Bündnispartner eingebaut worden waren (vgl. auch Informationen zur politischen Bildung Nr. 251 "Nationalsozialismus I", S. 42 f.). Die Legislative war zu einem bloßen Akklamationsorgan verkommen. Die Länder waren gleichgeschaltet und damit ohne eigenes Recht; die Regierungsstrukturen sollten sich weiterhin schrittweise verändern. Die Funktionen des Reichskabinetts wurden ausgehöhlt, und im Gegenzug entstanden immer neue Sonderbehörden, die weder dem Staat noch der Partei, sondern ausschließlich dem Führerwillen untergeordnet waren. Überdies beanspruchte Hitler, der nach dem Tode von Reichspräsident Paul von Hindenburg (1847–1934) nun auch Oberbefehlshaber der Reichswehr war, noch die Rolle des obersten Gerichtsherren.
Rivalisierende Machtträger
Wer nun annahm, daß das Deutsche Reich sich nach den blutigen Säuberungen des 30. Juni 1934 (Verhaftung und Ermordung der gesamten obersten SA-Führung, vgl. auch Informationen zur politischen Bildung Nr. 251 "Nationalsozialismus I", S. 53 ff.) im Sinne eines repressiven, konservativ-autoritären Regimes unter einer straffen Führerherrschaft stabilisieren würde, sah sich in mehrfacher Hinsicht getäuscht. Er unterschätzte einmal die innere Dynamik des nationalsozialistischen Führerstaates, zum anderen übersah er die Machtkämpfe, Kompetenzkonflikte und Auflösungserscheinungen, die sich hinter der Fassade der Führerherrschaft abspielten. Sie verliehen dem politischen System des "Dritten Reichs" zu keiner Zeit eine feste Form. Weder gab es ein einheitlich gestaltetes Konzept nationalsozialistischer Herrschaft noch ließ sich ein auf Regelhaftigkeit angelegtes Regierungs- und Verwaltungshandeln mit einem Führerwillen vereinbaren, der sich jeder Regel entzog.
Was in der NSDAP politische Praxis war, wurde schrittweise auf das staatliche Handeln übertragen. In der Partei hatte es nie eine geregelte Entscheidungs- und Befehlsstruktur gegeben, vielmehr bestand die "Reichsführung" aus einer Gruppe von Einzelpersonen oder Cliquen, die sich in einem persönlichen Treue- und Gefolgschaftsverhältnis gegenüber ihrem "Führer" befanden. Dieser verteilte umgekehrt seine Gunst willkürlich und lud seine Unterführer nie zu gemeinsamen Sitzungen, sondern nur zu Einzelgesprächen ein. Bald hingen politische Entscheidungen vom Zugang zu Hitler ab und waren nicht länger Sache eines förmlichen Beschlußverfahrens in einem dafür zuständigen Gremium. Das führte zur Verwischung von Kompetenzen und gab Hitler eine immer größere Machtfülle, da er in dem personenorientierten Herrschaftssystem als eine Art Schiedsrichter zwischen den rivalisierenden Machtträgern fungieren konnte (vgl. auch Seite 8).
Die Praxis der Ausnahmeverfügung und Ämtervielfalt, die sich durch die Einrichtung neuer Sonderbehörden und Kommissare immer unübersichtlicher gestaltete, bestimmte die weitere Entwicklung des Regimes und den permanenten, schleichenden Wandel seiner politischen und sozialen Strukturen. Der außerordentliche Führerwille mit seinen delegierten Sondervollmachten wurde die eigentliche politische Triebkraft und überlagerte dabei die formalen Regierungs- und Verwaltungsstrukturen. Was als Mittel der Machtsteigerung und durch seine Form des ungeregelten Wettstreites um Macht und Gunst kurzfristig als Faktor der Beschleunigung und Leistungssteigerung durchaus wirkungsvoll war, führte mit zunehmender Dauer jedoch zu immer größeren Reibungsverlusten und zerstörte jede Regelhaftigkeit und Planbarkeit. Die bald gebräuchliche Propagandaformal "Ein Volk, ein Reich, ein Führer" erweckte zwar nach außen den Eindruck eines starken und von einem einheitlichen Führerwillen beherrschten Staates.
Hinter dieser Fassade entfaltete sich jedoch ein Durcheinander und Gegeneinander von einzelnen Personen und Machtgruppen aus Partei, SS, Wehrmacht und neuen Sonderbehörden, das sich im Rückblick fast als eine autoritäre Anarchie darstellt. Darum sorgte sich auch der "Sekretär" des Führers, der Leiter der Reichskanzlei Martin Bormann (1900–1945), während des Krieges um den inneren Zusammenhalt des Regimes: "War ursprünglich die Gesetzgebung des Reiches zu schwerfällig und an zu viele Formvorschriften gebunden, so hat sie im Laufe der letzten Jahre eine Auflockerung erfahren, deren mögliche Auswirkungen rechtzeitig erkannt werden müssen, wenn für die Staatsführung ernste Gefahren vermieden werden sollen."
Daß trotz dieser unverkennbaren "Auflockerung", von der Bormann auf Dauer offenbar eine Gefährdung der Machtverhältnisse befürchtete, das NS-Regime bis zu seinem Ende eine immer größere Radikalisierung seiner Herrschaftsziele und -methoden erlebte und eine unvorstellbare Eroberungs- und Vernichtungsenergie entfalten konnte, bedarf der Veranschaulichung und der Erklärung. Zwar wurde Hitler mehr und mehr zum "Herren des Dritten Reiches" (Norman Rich). Doch läßt sich Hitlers Macht weder allein aus seinem Machtwillen und seinen Herrschaftszielen ableiten noch ohne die innere Wirkungsweise des Regimes und ohne die wachsende Bereitschaft von immer größeren Teilen der Bevölkerung zur Unterstützung des Nationalsozialismus erklären.
Radikalisierung und Machtausdehnung
Die Radikalisierung und weitere Machtausdehnung vollzog sich schrittweise, wobei in den Jahren 1934 bis 1938 wichtige Weichenstellungen stattfanden. Stärker als andere Abschnitte in der Geschichte des NS-Regimes sind diese Jahre von einer Diskrepanz zwischen der Außen- und Innenansicht geprägt. Das äußere Bild des Dritten Reiches in den Jahren 1935 und 1938 war von einer vermeintlichen Stabilisierung und scheinbaren politischen Mäßigung im konservativ-autoritären Sinne bestimmt, und so hat es sich in der Wahrnehmung und Erinnerung der Zeitgenossen auch häufig festgesetzt.
Noch längst nicht alle Ministerien waren mit Nationalsozialisten besetzt. Auch erhielt die Reichswehr, nachdem sie sich durch einen persönlichen Eid Hitler unterstellt hatte, eine (zweifelhafte) Garantie ihrer Autonomie. Von der Öffentlichkeit wurde diese Zeit darum sowohl als die normalen, guten (Friedens-)Jahre wahrgenommen als auch als die Phase einer deutlichen wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Besserung. Sie galt als die Zeit glanzvoller Inszenierungen einer vermeintlichen Volksgemeinschaft und außenpolitischer Erfolge, die von der "Heimkehr" des Saarlandes über die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, den Einmarsch in die entmilitarisierte Zone des Rheinlandes bis zum "Anschluß Österreichs" reichten.
Fast alle außen- und militärpolitischen Aktionen und Entscheidungen verstießen gegen völkerrechtliche Verträge, aber sie ließen sich mit dem Wunsch nach Revision des als Diktat empfundenen Versailler Vertrages von 1919 scheinbar rechtfertigen (vgl. auch Informationen zur politischen Bildung Nr. 261, "Weimarer Republik", S. 18 ff.). Vor allem mehrten sie Hitlers Mythos und trugen zur Entstehung des schönen Scheines eines sicherlich autoritären, aber dafür aufstrebenden Industrie- und Wohlfahrtsstaates bei, der sich des von ihm forcierten Autobahnbaus sowie der populären Freizeitorganisation "Kraft durch Freude" rühmte. Hinter dieser Fassade verbarg sich jedoch das "häßliche Gesicht" der Diktatur in Gestalt der sich radikalisierenden Judenverfolgung und der permanenten Unterdrückung jeder Opposition.
Auch für die Außenpolitik gilt, daß sich die scheinbar friedlichen Jahre einer vermeintlich gemäßigten Revisionspolitik des Deutschen Reichs bis 1937/38 nicht von den Jahren der Aggression und Expansion, die 1938 beginnen, trennen lassen. Vielmehr diente die erste Phase nur der verdeckten Vorbereitung und Absicherung der auf Eroberung und Vernichtung zielenden Lebensraumpolitik. Sie bestimmte als Herrschaftsziel stets Hitlers Denken und muß als Triebkraft seiner Politik ernst genommen werden. Ihre Realisierung rückte in dem Maße näher, indem sich die machtpolitischen Voraussetzungen dafür ergaben. Zu den inneren Voraussetzungen gehörte die wachsende Macht des Diktators gegenüber den Bündnispartnern aus Bürokratie, Wirtschaft und Militär, die zwar ein großdeutsches Reich anstrebten, aber für eine zurückhaltendere Strategie und Politik bei der Aufrüstung und der Durchsetzung der außenpolitischen Ziele eintraten. Zu den äußeren Voraussetzungen gehörten die Schwächen und Krisenherde der internationalen Politik. Sie boten günstige Bedingungen für eine Revision des Versailler Vertragssystems, aber auch für eine Revolutionierung der Außenpolitik. Diese bestand in einer bewußten Außerkraftsetzung der Spielregeln der internationalen Politik, die trotz vielfacher Verstöße noch immer von der Idee der kollektiven Konfliktregelung durch Konferenzen und Verträge sowie von den Prinzipien des Gleichgewichts und der Beachtung der Integrität der anderen Staaten bestimmt war.
Vor allem galt im wechselseitigen Verkehr der Staaten miteinander ein unausgesprochener Grundsatz europäischer Politik. Danach sollten sich allein aus Gründen der Selbsterhaltung des eigenen Staates und der eigenen Gesellschaft die Mittel der Politik in einem kalkulierbaren und rationalen Verhältnis zu den Zielen der Politik befinden. Um so bedrohlicher für die internationale Ordnung mußte es werden, wenn eine skrupellose politische Spielernatur wie Hitler, der von sich sagte, er habe immer "Vabanque gespielt", die politische, wirtschaftliche und militärische Macht erobern konnte, um die sich aus der Labilität der internationalen Konstellation bietenden Gelegenheiten zur Erpressung und zur Aggression zu nutzen. Genau dies tat die nationalsozialistische Führung ab 1935 schrittweise. Sie erzielte damit zunächst bedeutende nationalpolitische Erfolge, die das Regime auch innenpolitisch immer weiter festigten. Langfristig führte die Außenpolitik des NS-Regimes, die immer mehr von dem Prinzip des Alles oder Nichts bestimmt war, jedoch in eine ungebremste und sich immer weiter beschleunigende Dynamik, die die Grenzen des Möglichen übersah und in Krieg, Vernichtung und Selbstzerstörung endete.
Auszug aus: Informationen zur politischen Bildung (Heft 266) - Beseitigung des Rechtsstaates