„Rasse“, Rassismus, Grundgesetz
Zur Debatte um einen ambivalenten Rechtsbegriff
Doris Liebscher
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Der Begriff "Rasse" verweist auf die rassistische Geschichte des Rechts, zugleich reproduziert der Begriff die Logik und die Verletzungen des Rassismus. Das Diskriminierungsverbot "wegen seiner Rasse" in Artikel 3 Grundgesetz enthält damit einen höchst widersprüchlichen Rechtsbegriff. Der Streit um seine Bedeutung und über Alternativen bewegt Recht und Politik weltweit seit langem.
Hinweis
Der Beitrag erschien zunächst unter dem Titel: "Mit 'Rasse' gegen Rassismus? Zur Debatte um den Rassebegriff (nicht nur) im Grundgesetz". Um eine mögliche Verwechslung des Beitrags zu vermeiden, haben wird den Titel geändert (Anm. d. Red., 28.08.2023).
Vom Schweigen des Rechts zu einer rassismuskritischen Rechtswissenschaft in Deutschland
Die Diskriminierungsverbote in Externer Link: Art. 3 Abs. 3 GG führten ein "merkwürdiges Schattendasein", konstatierte 1983 das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 63, 266, 303, -juris Rn. 81). Während sich für die Diskriminierungskategorien Geschlecht, Religion und seit 1994 auch Behinderung eine durchaus umfangreiche Kasuistik und Dogmatik entwickelt hat, gilt das Diktum des Bundesverfassungsgerichts bis heute. Das Gericht selbst äußerte sich bisher nur zweimal ausführlich zum Diskriminierungsverbot "wegen seiner Rasse", wie es in Art.3 Abs. 3 S. 1 GG heißt: 1968 im Zusammenhang mit der Externer Link: Ausbürgerung deutscher Juden durch die nationalsozialistische Rassegesetzgebung und 2020 angesichts einer arbeitsrechtlichen Kündigung wegen Externer Link: rassistischer Beleidigungen eines Kollegen. In den juristischen Kommentierungen des Grundgesetzes war zum Diskriminierungsgrund "Rasse" jahrzehntelang wenig zu lesen – und was da stand war oft befremdlich. So wird etwa "Rasse" in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG in solchen Kommentaren bis heute definiert als "Gruppen mit bestimmten wirklich oder vermeintlich biologisch vererbbaren Merkmalen" (für viele Jarras/Pieroth, Grundgesetz, 17. Aufl. 2022, Art. 3, Rn. 122). Das steht in offenem Widerspruch zur internationalen Anthropologie, Humangenetik und Rassismusforschung. Eine Auseinandersetzung mit alltagsrassistischen Handlungen und/oder deren institutioneller Verankerung – zum Beispiel bei der Interner Link: Polizei, an Schulen oder Hochschulen – vermieden sowohl die rechtswissenschaftliche Fachöffentlichkeit als auch die Rechtsprechung lange. Auch die seit 1969 in Deutschland geltende UN-Konvention gegen Rassismus (Externer Link: Internationales Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung, ICERD) wurde als wichtiges Instrument zur Auslegung des aus Artikel 3 GG hervorgehenden Diskriminierungsverbots wegen der "Rasse" lange vernachlässigt. Eine deutschsprachige Kommentierung von ICERD erschien erst 2020. Woher kommt diese Leerstelle? Rassismus und Antisemitismus galten vielen Jurist:innen zuvorderst als Relikte des historischen Nationalsozialismus, die entsprechend strafrechtlich abzuwehren seien. Zudem klag(t)en von Rassismus betroffene Menschen in Deutschland selten, die Anreize für die Inanspruchnahme des Rechts zur eigenen Interessenverfolgung sind zu gering, oft sind es auch mangelnde Ressourcen zur Rechtsmobilisierung.
Doch seit der Jahrtausendwende zeichnet sich eine Veränderung ab. Ausgangspunkt waren die Verabschiedung der Externer Link: Antirassismus-Richtlinie 2000/43/EG der Europäischen Union im Jahr 2000 und der darauf zurückgehende Erlass des Externer Link: Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) im Jahr 2006. Sie förderten juristische Fachbeiträge, die ein Verständnis von rassistischer Diskriminierung als strukturelle Alltagserfahrung etablierten und die Verfasstheit der Diskriminierungsverbote "aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft" kritisch diskutierten. Dabei griffen Autor:innen auch auf die Erkenntnisse der neueren britischen und französischen Rassismusforschung, der feministischen Rechtswissenschaft und der US-amerikanischen Externer Link: Critical Race Theory zurück. Dies ebnete den Weg zu einer rassismuskritischen, interdisziplinären Rechtswissenschaft im deutschsprachigen Raum.
Die Diskussion um "Rasse" im Recht ist also immer auch eine um das Rassismusverständnis des Rechts. Recht spielt im Prozess der Herstellung, Aufrechterhaltung, Verhinderung und Wiedergutmachung von Rassismus eine zwiespältige Rolle. Als rassistisches Recht – also Recht, dass auf "Rasse" als Kern von rassistischen Ideologien der Ungleichwertigkeit setzt – war und ist es an der Etablierung rassischer und ethnischer Unterscheidungen beteiligt und an der Legitimierung von rassistischer Diskriminierung und Gewalt. Zugleich ist Recht ein wichtiges Mittel, um Diskriminierung "aus Gründen der Rasse […] zu verhindern und zu beseitigen", wie es etwa in § 1 AGG heißt. Und auch ein Blick in die Geschichte zeigt: Versklavte Menschen auf Interner Link: Haiti und in den Amerikas, als "Eingeborene" rassifizierte Menschen in den Interner Link: deutschen Kolonien, Interner Link: Schwarze Bürgerrechtler:innen in den USA, jüdische Menschen in Deutschland – sie alle beriefen sich im Kampf gegen Ausbeutung, Segregation und Entrechtung auf die menschenrechtliche Trias aus Würde, Freiheit und Gleichheit. Heute ist Recht gegen Rassismus Teil des weitestgehend international etablierten Antidiskriminierungsrechts. Damit sind Rechte bezeichnet, die mit besonderen Schutzverpflichtungen, Kompensationsansprüchen und Fördergeboten auf strukturelle Benachteiligungen reagieren. In den Worten des Bundesverfassungsgerichts will Antidiskriminierungsrecht "Angehörige strukturell diskriminierungsgefährdeter Gruppen vor Benachteiligung" schützen (Externer Link: BVerfG 2017: Rn. 59).
Gemeinsam ist den meisten rechtlichen Instrumenten gegen Rassismus, dass sie Schutz vor Diskriminierung über sogenannte Merkmale, Gründe oder Kategorien herleiten, z.B. "Rasse", "Geschlecht" oder "Behinderung". Dieses sogenannte kategoriale Recht gegen Rassismus verbietet also in der Regel nicht "rassistische Diskriminierung", sondern statuiert ein Verbot von Diskriminierung "wegen der Rasse" (Externer Link: Art. 14 EMRK), "aufgrund der Rasse" (§ 1 AGG) oder "wegen seiner Rasse" (Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG). Eine Ausnahme ist bisher § 2 des Berliner Externer Link: Landesantidiskriminierungsgesetzes (LADG): es enthält ein Diskriminierungsverbot u.a. "aufgrund einer rassistischen und antisemitischen Zuschreibung" und wählt damit eine postkategoriale Formulierung.
Kategoriales Antidiskriminierungsrecht setzt dagegen auf die im rassistischen Recht vorgefundene gesellschaftliche Ordnungskategorie "Rasse". Deutlich zeigt das die Entstehungsgeschichte von Artikel 3 Abs. 3 GG, der eine Reaktion auf die Interner Link: Nürnberger Rassengesetze von 1935 war; vorangegangen war dem das Kontrollratsgesetz Nr. 1 des Interner Link: Alliierten Kontrollrats von 1945, wonach keine deutsche Gesetzesverfügung mehr anzuwenden sei, durch die "irgendjemand auf Grund seiner Rasse [...] Nachteile erleiden würde". Ähnliches gilt für die Externer Link: UN-Konvention gegen Rassismus (ICERD), die in der Präambel deutlich macht, dass sie als Reaktion auf "Interner Link: Kolonialismus und alle damit verbundenen Praktiken der Rassentrennung und der Diskriminierung" entstanden ist. Auch der Externer Link: 14. und 15. Zusatzartikel der U.S. Verfassung verbieten – seit 1868/70 – Diskriminierung on account of race. Sie zielten darauf ab, nach der Interner Link: Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1865 fortwirkende rassistische Segregation zu verhindern. Auf diese Verfassungsgrundsätze bezogen sich Interner Link: Bürgerrechtsorganisationen dann in den folgenden Jahrzehnten im juristischen Kampf gegen die Segregation an Schulen oder das Verbot der Ehen zwischen Schwarzen und Weißen.
Der Begriff hat "Rasse" hat also eine affirmative Bedeutung, da er die Vorstellung von "Rassen" überhaupt erst setzt, sie womöglich verabsolutiert und damit Diskriminierung und Gewalt rechtfertigen kann. Andererseits zielen kritische Bezugnahmen auf den Begriff auf den Abbau von Rassismus. Deutlich wird das an der in Externer Link: Art. 1 Abs. 1 ICERD gewählten Formulierung: in dem Übereinkommen bezeichnet "‚Rassendiskriminierung‘ jede auf der Rasse, der Hautfarbe, der Abstammung, dem nationalen Ursprung oder dem Volkstum beruhende Unterscheidung", die zum Ziel oder zur Folge hat, das gleichberechtigtes Ausüben von Menschenrechten zu beeinträchtigten. Auch das Adjektiv critical in Critical Race Theory weist eine rassismuskritische und sozialkonstruktivistische Bezugnahme aus.
Letztlich aber bleibt ein Dilemma: mit der Verwendung von Antidiskriminierungskategorien, die zugleich Diskriminierungskategorien sind, geht immer auch die Gefahr einher, die benannten Zuschreibungen und Stratifizierungen zu festigen. Diese Doppelwirkung von kritischer Sichtbarmachung und Reproduktion des Kritisierten ist allen kategorialen Zuordnungen eingeschrieben – auch und besonders rechtlichen, was mit der hohen Symbolkraft des Rechts (welche Werte und Normen teilt eine Gesellschaft?), der demokratischen Legitimation und des spezifischen Objektivitätsanspruchs des Rechts sowie der staatlichen Durchsetzbarkeit von Recht zu tun hat. Versuche, mit Recht gegen Rassismus vorzugehen, können auch böse enden, wenn Gerichte "Rasse" rassistisch interpretieren. So geschehen zum Beispiel in der Entscheidung Externer Link: Plessy v. Ferguson, in der der U.S. Supreme Court 1896 die rassistische Segregation in Eisenbahnzügen in Louisiana u.a. damit rechtfertigte, die Unterscheidung gründe "in der Farbe der beiden Rassen" und müsse solange existieren, "solange weiße Menschen sich durch ihre Farbe von der anderen Rasse unterscheiden". Das Urteil hielt bis Mitte der 1960er Jahre die rassistische Segregation in den Südstaaten aufrecht. Auch das Externer Link: Bundessozialgericht urteilte noch 2007 in einem Fall, in dem es um die Entschädigung nationalsozialistischen Unrechts ging: "Unter Rasse wird allgemein eine Gruppe von Lebewesen verstanden, die sich durch ihre gemeinsamen Erbanlagen von anderen Artangehörigen unterscheiden".
Der Streit um "Rasse" und Rassismus ist international
Eine ersatzlose Streichung des Begriffs "Rasse" würde diese widersprüchliche Entstehungs- und Wirkgeschichte rassischer Zuordnungen unsichtbar machen und Schutz- und Fördermaßnahmen für rassistisch diskriminierte Gruppen erheblich erschweren, wenn nicht gar verunmöglichen. Die Critical Race Theory kritisiert ein solches Unterfangen daher als "colorblind". Als Alternative wird der Terminus "rassistisch" diskutiert: Er enthält die gewaltförmigen und zugleich emanzipatorischen Bezugnahmen auf "Rasse", er hebt die soziale Konstruktion des Begriffs hervor und er verweist auf strukturelle Ungleichheiten und daraus resultierende Diskriminierung. Dass er in antidiskriminierungsrechtlichen Abkommen, Verfassungen und Gesetzen bisher kaum vorkommt, hat schlicht begriffshistorische Gründe. Der Begriff "Rassismus" gewinnt um einiges später als "Rasse" an Bedeutung, erst im frühen 20. Jahrhundert wird er in wissenschaftliche Debatten eingeführt, erst Ende der 1960er Jahre findet er Eingang in internationale Dokumente.
Dass sich der Begriff "rassistisch" Externer Link: bisher international nicht als Rechtsbegriff durchgesetzt hat, bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass der Begriff "Rasse" unstrittig wäre. Seit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Diskriminierungsverbote international kodifiziert wurden, standen das "ob" der Verwendung und das "wie" der Definition von race bzw. "Rasse" zur Diskussion. Dabei drehte sich die Diskussion um zwei zentrale Fragestellungen: "Gibt es Rassen?" und "Wer ist alles vom Schutzbereich des Rechtsbegriffs Rasse umfasst?" Bereits anlässlich der Verabschiedung der Interner Link: Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) von 1948 stritten sich die Delegierten der internationalen Staatengemeinschaft, ob diese den wissenschaftlich obsoleten Rassebegriff verwenden sollte. Und auch Anfang der 1960er Jahre bewegte diese Frage die Delegierten anlässlich der Formulierung der UN-Konvention gegen Rassismus, ICERD. Während der sowjetische Staatenvertreter betonte, rassische Diskriminierung basiere nicht nur auf der Annahme von rassischer Überlegenheit, sondern werde gerade auch mit vermeintlichen rassischen Differenzen zwischen Gruppen oder Individuen begründet, vertrat der US-amerikanische Delegierte, "die Wurzel rassischer Diskriminierung" sei "die Doktrin der rassischen Überlegenheit". Die Unterscheidung menschlicher Rassen sei dagegen wissenschaftlich nicht falsch, im Gegenteil sei es "der eigentliche Zweck der Abschaffung rassischer Diskriminierung, die für jeden Beobachter sichtbaren Unterschiede zwischen Rassen zu schützen." Zum Zeitpunkt dieser Äußerung bestanden in den USA noch in 16 Bundesstaaten Gesetze, die Ehen zwischen Schwarzen und Weißen Menschen verboten, erst 1967 erklärte der U.S. Supreme Court in der Entscheidung Externer Link: Loving v. Virginia, diese Gesetze seien wegen Verstoßes gegen den 14. Zusatzartikel der U.S. Verfassung verfassungswidrig und aufzuheben.
Spätestens seit der der Verabschiedung der EU-Antirassismus-Richtlinie RL 2000/43/EG im Jahr 2000 haben wir es auf Rechtsebene auch mit einer europäischen Debatte zu tun. Eine Anzahl von Mitgliedsstaaten fürchtete seinerzeit, die Nennung der Kategorie "Rasse" werde verbreitete biologistische Konzeptionen juristisch legitimierten. Das Europäische Parlament hatte deshalb schon 1996 eine Entschließung verabschiedet, wonach der Begriff in amtlichen Texten zu vermeiden sei.
Einige Staaten der Europäischen Union haben bereits auf den Begriff "Rasse" in ihren Verfassungen und Antidiskriminierungsgesetzen verzichtet. Die finnische Verfassung etwa beschränkt sich auf das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der "Herkunft"; damit werden sowohl rassistische Diskriminierungen als auch solche wegen der ethnischen Herkunft erfasst. In der schwedischen Verfassung wurde "Rasse" durch "ethnische Herkunft, Hautfarbe und andere ähnliche Umstände" ersetzt. Das österreichische Gleichbehandlungsgesetz nennt nur "ethnische Zugehörigkeit", stellt in der Gesetzesbegründung aber klar, das Diskriminierungsverbot knüpfe "überwiegend an Unterschiede an, die auf Grund von Abstammungs- oder Zugehörigkeitsmythen als natürlich angesehen werden und die die betroffenen Personen nicht ändern können. Häufige Erscheinungsformen sind Diskriminierung wegen der […] Hautfarbe, Herkunft, Religion, Sprache, Kultur oder Sitten". Auf diese Weise wird "ethnische Herkunft" nicht nur sehr weit, sondern auch sozialkonstruktivistisch ausgelegt und gilt als Oberbegriff für alle Erscheinungsformen rassistischer Diskriminierung. Den Begriff "Rasse" befürwortende Stimmen, insbesondere aus Großbritannien, wenden dagegen ein, der Begriff race entspreche dem gewöhnlichen Sprachgebrauch, sei international gebräuchlich und seine Verwendung sei gerade notwendig, um klarzustellen, dass die Richtlinie Rassismus bekämpfe.
In aller Deutlichkeit treten hier unterschiedliche regionale und nationale Begriffstraditionen und Verwendungsweisen zu Tage. Im angloamerikanischen Sprachraum hat race eine lange (auch) antidiskriminierungsrechtliche Tradition, und es gibt eine etablierte Praxis der Erfassung von race oder ethnicity im nationalen Zensus. Race wird daher mit großer Selbstverständlichkeit, aber auch zumeist unhinterfragt verwendet. Im kontinentaleuropäischen Verständnis ergibt sich der Bedeutungsgehalt des Begriffs stärker aus seiner essentialistisch-rassistischen Tradition. Das gilt insbesondere für jene Staaten und Gebiete in Ost- und in Westeuropa, in denen nationalsozialistisches Rasserecht Anwendung fand. Das Interner Link: Ende des Zweiten Weltkrieges beendete hier auch die offizielle Erfassung von rassischen Kategorien durch den Staat. Eine mit dem Zensus in Großbritannien oder den USA vergleichbare Erhebung von Daten über race oder ethnicity zu Gleichstellungszwecken gibt es nicht. Ebenso wenig kam es in Kontinentaleuropa zu einer breiten antirassistischen Aneignung des Begriffs "Rasse" im Sinne einer Critical Race Theory.
Positionen in der "Rasse-Debatte" und ihre Auswirkungen auf den Schutzbereich von Antidiskriminierungsrecht
Der Blick über den Tellerrand zeigt: "Rasse" ist auch im internationalen Kontext weder unumstritten noch begrifflich klar definiert. Das Argument, "So haben es alle schon immer gemacht" ist also wenig überzeugend. Doch welche Argumente werden in der Debatte um "Rasse" im Grundgesetz noch angeführt? Unterschieden werden können vier Positionen:
Positionen in der Debatte um "Rasse"
Position
Vorschlag
Eliminatorisch
Rasse durch (ethnische) Herkunft ersetzen
Konservativ-Kategorial
Rasse als Negativbegriff zum Nationalsozialismus und biologisches Merkmal behalten
Rekonstruktivistisch-Kategorial
Rasse als soziale Konstruktion und Strukturkategorie behalten
Postkategorial
Rasse durch rassistisch ersetzen
Rassismusblinde Positionen
Die (i) eliminatorische Position will "Rasse" durch Herkunft oder ethnische Herkunft ersetzen. Bekannt ist der – bislang nicht umgesetzte – Beschluss der französischen Nationalversammlung vom 12. Juli 2018, „la race“ aus Artikel 1 der französischen Verfassung zu streichen, nur der Begriff "Herkunft" würde dann noch auf Rassismus verweisen. Kritisiert wird daran die Unsichtbarmachung des Rassismus: so würde die Verwendung von (ethnischer) Herkunft eine universale Betroffenheit aller Menschen von ethnischer Diskriminierung suggerieren, während es doch in Wirklichkeit v.a. People of Color und andere von historisch verankerten Rassismen, wie z.B. Interner Link: antislawischer Rassismus, betroffene Menschen sind, die rassistisch diskriminiert werden – etwas, wovon als "weiß" oder westeuropäisch eingeordnete Personen in der Regel nicht betroffen sind.
Die (ii) konservative Position möchte an der in der deutschen Verfassungsrechtslehre verbreiteten Definition festhalten: "Der Begriff Rasse bezeichnet Menschengruppen mit bestimmten tatsächlichen oder vermeintlichen vererbbaren Eigenschaften". Dabei soll der Schutzbereich der Norm auf ausdrückliche Bezugnahmen auf biologistische Rassenideologeme beschränkt werden. Das Problem der konservativen Position ist: Eine Definition von "Rasse" die auf "vererbbare Merkmale" rekurriert, stellt Betroffene von anderen Formen des Rassismus – z.B. des kulturalistischen Rassismus – schutzlos oder zwingt sie, dass sie sich strategisch in rassische Kategorien einordnen, die ihrer Selbstdefinition fundamental entgegenstehen. Interner Link: Das betrifft z.B. Juden:Jüdinnen oder Betroffene von Interner Link: antimuslimischem Rassismus, denen auch unabhängig von Abstammung und eigener Religiosität, essentielle Eigenschaften als Juden:Jüdinnen oder Muslime zugeschrieben werden. Ein weiterer Einwand gegen die konservative Position ist, dass die Kategorie "Rasse" als wertfreie vorstellbare Eigenschaft gilt. Wenn alle Menschen eine "Rasse" haben, könnten sich dann auch alle auf das Diskriminierungsverbot "wegen seiner Rasse" berufen – zum Beispiel, wenn Menschen mit Migrationsgeschichte/People of Color bei gleicher Eignung bevorzugt eingestellt werden sollen, was eine individuelle Benachteiligung von "weißen" Bewerbenden bedeutet. Eine derartige symmetrische Konzeption, so die Kritiker:innen, würde es unmöglich machen, mit positiven Maßnahmen gegen historisch gewachsene und/oder aktuell wirksame strukturelle Nachteile vorzugehen. Befürworter einer solchen Bevorzugung sehen hierin wiederum einen notwendigen Ausgleichsmechanismus struktureller Nachteile zur Herstellung gesellschaftlicher Repräsentation und vertreten die Auffassung, dass das daher keine rechtliche Diskriminierung darstellen sollte.
Rassismuskritische Positionen
Eine dritte, (iii) rekonstruktivistische Position möchte "Rasse" als rechtliche Kategorie erhalten, aber die Kategorie als Ergebnis von Rassifizierung interpretieren und so rassismuskritisch aneignen. Die Unterschiede zur konservativen Position bestehen neben dem dezidiert sozialkonstruktivistischen Zugang darin, das "Rasse" unter Verweis auf die weite Begriffsdefinition im internationalen Recht als Oberbegriff auch für ethnische Herkunft angesehen und damit für Formen des kulturalistischen Rassismus geöffnet wird. Gegen die rekonstruktivistische Position lässt sich einwenden, dass sie im Ergebnis, wie die konservative, dazu führt, dass "Rasse" als symmetrische rechtliche Kategorie – auch "Weiße" haben eine Rasse – funktioniert und sich auch nicht von Rassismus betroffene Individuen auf das Diskriminierungsverbot berufen dürfen. Die Zulässigkeit nachteilsausgleichender Maßnahmen, wenn diese, wie oben beschrieben aufgrund des symmetrischen Verständnisses von "Rasse" verfassungsrechtlich angefochten werden, begründet die rekonstruktivistische Position damit, dass das Ziel strukturelle rassistische Ungleichheit abzubauen, eine Bevorzugung rechtfertige.
Auch die Vertreter:innen der vierten, (iv) postkategorialen Position distanzieren sich vom biologistischen Gehalt der Terminologie "Rasse". Deutlicher als die rekonstruktivistische Position adressieren sie "Rassismus" als Realität von Menschen, die als Folge von sozialen Zuschreibungsprozessen und Dominanzverhältnissen rassifiziert werden. In diesem Sinne setzen sie sich für Formulierungen wie "rassistische Diskriminierung" oder "rassistische Zuschreibung" ein. Denn damit können auch besser die vielfältigen rassistischen Zuschreibungen erfasst werden, die nicht nur an rassenbiologischen, sondern ebenso an ethnisch-kulturell, national oder sozialdarwinistisch begründeten Abstammungsmythen anknüpfen und die aus einer langen, über den Nationalsozialismus hinausweisenden Geschichte von Rassismus und Antisemitismus resultieren. Im Unterschied zu "ethnischer Herkunft" enthält die Formulierung "rassistisch" diese Geschichte. Weil im Mittelpunkt der juristischen Betrachtung nun gesellschaftliche Zuschreibungs- und Stigmatisierungsprozesse stehen würden, und nicht mehr Eigenschaften oder Zugehörigkeiten der diskriminierungsbetroffenen Personen, mindert die Formulierung "rassistisch" überdies auch die Gefahren der Reproduktion rassistischer Stereotype.
Die postkategoriale Formulierung verschiebt den Fokus rechtlicher Beurteilung aber nicht nur von Zugehörigkeit zu Zuschreibung, sondern auch von Symmetrie zu Asymmetrie. Das Bundesverfassungsgericht ist dieser Einsicht in eingangs zitierter Entscheidung bereits mit Blick auf die Geschlechtsidentität gefolgt. So heißt es in der Entscheidung zur geschlechtlichen Identität aus dem Jahr 2017: "Zweck des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ist es, Angehörige strukturell diskriminierungsgefährdeter Gruppen vor Benachteiligung zu schützen. Entsprechend dem Sinn und Zweck dieses Diskriminierungsverbots argumentieren Vertreter:innen des postkategorialen Ansatzes, dass sich nur strukturell und historisch benachteiligte Personen auf das Diskriminierungsverbot berufen können sollten. Denn rassistisch bevorzugt werden könnten nur Menschen, die strukturelle Vorteile haben, der Ausgleich struktureller Nachteile sei dagegen keine Bevorzugung, sondern ein Ausgleich, der gleiche Teilhabe erst ermöglichen soll. In anderen Worten: Wer nicht strukturell rassistisch diskriminiert wird, brauche auch keinen Schutz durch Antidiskriminierungsgesetze. Entsprechend wären nachteilsausgleichende positive Maßnahmen zugunsten gesellschaftlicher Gruppen, die auf eine Geschichte rassistischer Diskriminierung zurückblicken, nach dieser Position tatbestandlich kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, weil letztere nicht rassistisch bevorzugt werden. Mit einer Änderung in "rassistisch" würde auch eine überfällige Angleichung an Art. 3 Abs. 2 GG (Sexismus) und an Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG (Behinderung) einhergehen – denn in beiden Fällen sind bereits jetzt positive Maßnahmen zum Ausgleich struktureller Nachteile ausdrücklich möglich. Um dies noch deutlicher zu machen, fordern Vertreter:innen des postkategorialen Ansatzes eine ausdrückliche Verankerung eines Externer Link: Gewährleistungsauftrags und Fördergebotes zum Schutz vor Diskriminierung in Artikel 3 Grundgesetz.
Ein Argument gegen den Begriff "rassistisch" ist die nicht unberechtigte Sorge, Richter:innen könnten die Formulierung so ausgelegen, dass sie nur vorsätzliche Diskriminierungen erfasst. Hintergrund dieser Befürchtung ist, dass Rassismus im Alltagsverständnis und so auch im Verständnis vieler Jurist:innen oft noch als feindlicher Akt, der mit Rechtsextremismus in Verbindung steht, angesehen wird. Dem wiederum wird entgegengehalten, dass gerade das Antidiskriminierungsrecht, im Unterschied zum Strafrecht weder Gesinnung noch Vorsatz verlangt, sondern sich vor allem für die Folgen von sozialen Zuschreibungen interessiert und damit auch für die diskriminierenden Effekte von Regelungen und Praktiken, die nicht absichtlich oder ausdrücklich rassistisch sind. Antidiskriminierungsrecht geht es also nicht um die Feststellung moralischer Schuld, sondern um die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung zur Herstellung gleicher Teilhabe. Die Neuformulierung "rassistisch" im Grundgesetz würde daher auch die Möglichkeit bergen, die gerade begonnene Diskussion über ein aktualisiertes, aus interdisziplinären Bezügen hervorgehenden Verständnis von Rassismus im deutschen Rechtsdiskurs weiter voranzubringen.
Dr. Doris Liebscher leitet die Ombudsstelle für das Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz bei der Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung, zuvor forschte und lehrte sie an der Humboldt Law Clinic für Grund- und Menschenrechte. Ihre Dissertation "Rasse im Recht. Recht gegen Rassismus. Genealogie einer ambivalenten Kategorie" erschien 2021 bei Suhrkamp.
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