Jugendliche Stratäter scheinen brutaler geworden zu sein. Kommt es zu gewalttätigen Übergriffen, wird schnell der Ruf nach härterem Durchgreifen gegen die Täter laut – in den Medien, in der Politik, in der Öffentlichkeit. Der Kriminologe und Jurist Wolfgang Heinz skizziert die Jugendkriminalität in Deutschland. Diese sei insgesamt nicht brutaler geworden. Und auch wenn die Zahl gewalttätiger Übergriffe durch Jugendliche in jüngster Zeit zugenommen hat, seien die Delikte im langjährigen Durchschnitt rückläufig.
Zusammenfassung
Jugendkriminalität ist in ihren leichten Formen ubiquitär, d.h. weit verbreitet, geringfügig und vor allem episodenhaft.
Es gibt bislang keine empirischen Belege für eine zunehmende Brutalisierung oder eine Zunahme des Anteils von Mehrfachtätern.
Vorliegende Zahlen zeigen, dass es keinen Anlass für eine Dramatisierung der Jugendkriminalität und für eine Verschärfung des Strafrechts gibt.
Die sich im Hellfeld und in der selbstberichteten Delinquenz abzeichnende höhere Belastung bestimmter Herkunftsgruppen im Gewaltbereich deutet auf Integrationsprobleme, insbesondere im Bildungsbereich, aber auch auf problematische Männlichkeitsnormen hin.
Hinweis
Der Beitrag ist eine aktualisierte Fassung des Artikels aus dem Jahr 2016. Berücksichtigt werden konnten Ergebnisse und Statistiken bis zum Jahr 2021 (StVerfStat 2021). Die Strafverfolgungsstatistik 2022 lag bei Redaktionsschluss noch nicht vor.
Über kriminelle Jugendliche wurde und wird zu allen Zeiten geklagt. Den wohl schönsten poetischen Ausdruck dieser Klage fand vor 400 Jahren Shakespeare: "Ich wollte, es gäbe gar kein Alter zwischen zehn und dreiundzwanzig, oder die jungen Leute verschliefen die ganze Zeit: Denn dazwischen ist nichts, als den Dirnen Kinder schaffen, die Alten ärgern, stehlen, balgen." Weniger poetisch, aber weitaus wirkmächtiger sind die Schlagzeilen heutiger Medien, wie etwa "Junge Männer: Die gefährlichste Spezies der Welt." Solche und ähnliche Berichte bestimmen weitgehend unser "Wissen" über Jugendkriminalität, unsere "Kriminalitätsfurcht" und unsere kriminalpolitischen Einstellungen.
Wie kann "Kriminalitätswirklichkeit" gemessen werden?
Kriminalität als soziales Phänomen bezeichnet Ereignisse, die einen Straftatbestand erfüllen. Diese Ereignisse sind nicht objektiv messbar. Die Zuschreibung "kriminell" ist das Ergebnis von Prozessen – der Wahrnehmung von Sachverhalten, deren Interpretation und Bewertung. Dementsprechend gibt es auch nicht "das Messinstrument" für Kriminalität. Im Wesentlichen gibt es zwei Gruppen von Datenquellen, die zur Messung von "Kriminalität" herangezogen werden können:
Zum einen handelt es sich um Befragungsdaten, bei denen im Idealfall bei einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe erhoben wird, ob die Befragten in einem bestimmten Zeitraum "Täter" (selbstberichtete Delinquenz) oder "Opfer" delinquenten Verhaltens waren. Vorteil dieser Studien ist, dass sie unabhängig davon sind, ob der Vorfall Dritten bekannt oder gar angezeigt wurde. Grenzen dieser Studien ergeben sich zum einen aus allgemeinen methodischen Problemen von Stichprobenbefragungen (z.B. der Erreichbarkeit bestimmter Bevölkerungsgruppen, Teilnahmebereitschaft, die u.U. gerade bei kriminalitätsbelasteten Personen geringer sein kann), zum anderen aus spezifischen Problemen dieses Befragungstyps, nämlich der eingeschränkten Erfragbarkeit bestimmter, schwerer Delikte, der (je nach befragter Person unterschiedlichen) Verständlichkeit der Deliktsfragen, der Erinnerungsfähigkeit der Befragten sowie des Wahrheitsgehalts der Aussagen, insbesondere im Hinblick auf ein mögliches sozial erwünschtes Antwortverhalten. "Kriminalitätswirklichkeit" wird aber auch in diesen Dunkelfeldstudien nicht gemessen, sondern immer nur die Selbsteinschätzung und Selbstauskunft der Befragten, d.h. es wird erfasst, wie die Befragten bestimmte Handlungen definieren, bewerten, kategorisieren, sich daran erinnern und bereit, willens und in der Lage sind, darüber Auskunft zu geben.
Zum anderen sind es die amtlichen Kriminalstatistiken, insbesondere die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) und die Strafverfolgungsstatistik (StVerfStat), in denen die Tätigkeit dieser Behörden dokumentiert wird. In der PKS werden die der Polizei (meist durch Anzeige) bekannt gewordenen und von ihr als strafbar bewerteten Vorfälle sowie die ermittelten Tatverdächtigen registriert. Die StVerfStat umfasst die Entscheidungen der Strafgerichte. Die Einschränkung dieser Hellfeldstatistiken besteht darin, dass der Polizei nur ein Teil der relevanten Sachverhalte gemeldet wird. Was der Polizei nicht bekannt wird, kann auch nicht angeklagt und verurteilt werden. Eingehend zu den verfügbaren Statistiken: Heinz 2019. S. 111 ff., S. 375 ff.
Jugendkriminalität und "gefühlte" Jugendkriminalität
Diese "gefühlte" Kriminalität stimmt mit der „Kriminalitätswirklichkeit“ nur begrenzt überein. Befragungsdaten zur selbstberichteten Delinquenz, also freiwillige Angaben zur persönlichen Straffälligkeit, zeigen zunächst, dass Jugendkriminalität ubiquitär, also weit verbreitet ist. In Schülerbefragungen gaben – je nach erfragtem Deliktsbereich – teilweise bis zu 70 Prozent (Prävalenzrate) an, in den vergangenen zwölf Monaten mindestens eines der dort erfragten Delikte verübt zu haben. In der letzten bundesweit repräsentativen Schülerbefragung, die 2007/2008 bei Schülerinnen und Schülern der 9. Jahrgangsstufe (Alter etwas über 15 Jahre) durchgeführt wurde, traf dies auf 43,7 Prozent der männlichen und 23,6 Prozent der weiblichen Befragten zu. Das Fahren ohne gültiges Ticket in öffentlichen Verkehrsmitteln und das illegales Herunterladen von Dateien, zwei verbreitete Jugenddelikte, wurden dabei nicht berücksichtigt. Aktuellere Daten liegen derzeit vor allem aus Niedersachsen vor. In der jüngsten repräsentativen Schülerbefragung der 9. Jahrgangsstufe aus dem Jahr 2019 gaben 22,9 Prozent der Schüler und 12,5 Prozent der Schülerinnen an, in den letzten zwölf Monaten mindestens eines der in Abbildung 1 dargestellten Delikte begangen zu haben. Zählt man illegales Downloaden (37,5 Prozent m, 27,6 Prozent w) und Fahren ohne Fahrschein (27,0 Prozent m, 26,8 Prozent w) hinzu, so waren es 53,5 Prozent der männlichen und 45,6 Prozent der weiblichen Jugendlichen, die angaben, im letzten Jahr straffällig geworden zu sein.
Abbildung 1 zeigt, dass schwere Formen der Jugendkriminalität selten sind. Die Jugendkriminalität bewegt sich innerhalb eines Kontinuums, an dessen einem Ende die große Mehrheit der Jugendlichen mit wenigen und leichten jugendtypischen Delikten steht und an dessen anderem Ende sich relativ wenige Jugendliche mit vielen und/oder schweren Delikten befinden. Aus Schaubild 1 lässt sich auch ablesen, dass Jugendkriminalität überwiegend Jungenkriminalität ist: Mit Ausnahme des Ladendiebstahls und des Fahrens ohne Ticket gibt es signifikante Unterschiede zwischen männlichen Jugendlichen und ihren Altersgenossinnen hinsichtlich der Häufigkeit, mit der sie bestimmte Delikte begehen. Die Unterschiede nehmen mit der Schwere der Delikte zu.
Die genannten Schülerbefragungen beschränken sich auf die 9. Jahrgangsstufe (überwiegend 15-Jährige) beschränkt. Ergebnisse für höhere Altersstufen und kumulierte Daten für das gesamte Jugendalter liegen in sogenannten Längsschnittstudien vor. Die bisher umfassendste Studie in Deutschland ist die Duisburger Längsschnittstudie. Sie nahm ihren Ausgang bei sämtlichen Schülerinnen und Schülern, die im Jahr 2002 die 7. Klasse einer Duisburger Schule besuchten. Diese Gruppe wurde dann bis zum Alter von 26 Jahren befragt, bis zum Alter von 20 in jährlichen, danach in zweijährigen Abständen (siehe Abbildung 2). 84 Prozent der Jungen und 69 Prozent der Mädchen gaben an, zwischen dem 13. und 18. Lebensjahr mindestens einmal straffällig geworden zu sein (ohne Internetdelikte und Drogenkonsum). Bei Gewaltdelikten (einschließlich Körperverletzung ohne Waffen) liegen die kumulierten Prävalenzraten bei 61 Prozent (Jungen) bzw. 37 Prozent (Mädchen).
Leichte und mittelschwere Delikte sind also ein – im statistischen Sinne – "normales" Phänomen dieser Entwicklungsphase. "Normal" bedeutet dabei nicht, so Bernd-Dieter Meier, dass delinquentes Verhalten den "Alltag prägt; auch unter Jugendlichen kommt es nur gelegentlich und ausnahmsweise zu Straftaten." "Anormal" (wiederum im statistischen Sinne) ist es, dabei erwischt oder dafür bestraft zu werden.
Kriminalstatistiken zeigen, dass junge Menschen in jeder Gesellschaft und zu allen Zeiten (insgesamt gesehen) deutlich häufiger polizeilich registriert werden als Erwachsene (siehe Abbildung 3). Dies zeigen Belastungszahlen, also Zahlen bezogen auf 100.000 der jeweiligen Altersgruppe.
Weshalb sind Belastungszahlen notwendig und wie werden sie ermittelt?
Vergleiche zwischen Gruppen, zwischen Regionen oder im Zeitverlauf setzen den Bezug auf eine einheitliche Bezugsgröße voraus. In der Kriminalstatistik werden zu diesem Zweck Belastungszahlen ermittelt, die auf jeweils 100.000 der zu vergleichenden Gruppe bezogen werden. Demografische Unterschiede oder Veränderungen werden dadurch relativiert. Allerdings sind damit methodische Probleme verbunden, die nicht vollständig befriedigend gelöst werden können. In den Kriminalstatistiken werden die Tatverdächtigen/Verurteilten unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zur Wohnbevölkerung erfasst. Registriert werden also auch Taten, die von Touristinnen und Touristen, Durchreisenden, Berufspendlerinnen und -pendlern oder sich illegal in Deutschland aufhaltenden Personen begangen werden. Diese Personengruppen sind jedoch nicht in der Wohnbevölkerung erfasst. Für die Berechnung von Belastungszahlen ergibt sich daraus:
Die für die Beurteilung der Entwicklung der registrierten Kriminalität wichtige Häufigkeitszahl (HZ) kann nur auf 100.000 der Wohnbevölkerung bezogen werden (jeweils 31.12. des Vorjahres). Da bei den nicht aufgeklärten Fällen unklar ist, wer die Tat verübt hat, ist eine weitere Differenzierung nicht möglich. Je größer also der Anteil der nicht erfassten Täterinnen und Täter an der Wohnbevölkerung ist, desto stärker wird die HZ überschätzt.
In den Kriminalstatistiken wird die Staatsangehörigkeit der Tatverdächtigen bzw. Verurteilten erfasst. Dies bietet die Möglichkeit, einigermaßen verlässliche Belastungszahlen für Tatverdächtige/Verurteilte mit deutscher Staatsangehörigkeit zu berechnen. Die PKS und die StVerfStat beschränken sich auf diese Berechnung.
Derzeit haben jedoch 10,6 Prozent der jugendlichen und 12,3 Prozent der heranwachsenden Wohnbevölkerung keine deutsche Staatsangehörigkeit. Die ihnen zur Last gelegten Straftaten bleiben bei einer Beschränkung auf Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft ausgeblendet. Werden sie dagegen einbezogen, indem Belastungszahlen für alle jugendlichen Tatverdächtigen berechnet werden, wird die Belastung wiederum überschätzt, weil auch die Straftaten von Ausländerinnen und Ausländern einbezogen werden, die nicht zur Wohnbevölkerung zählen.
Anders als in der PKS und der StVerfStat werden im Folgenden Tatverdächtigenbelastungszahlen für alle Tatverdächtigen berechnet und dargestellt. Nur so kann nachgewiesen werden, dass der Beitrag ausländischer Tatverdächtiger (mit oder ohne Erfassung in der Wohnbevölkerung) nicht der rückläufigen Entwicklung der Jugendkriminalität entgegensteht.
Das Jugendalter ist die Zeit höchster Aktivität, des Erkundens und Austestens von Grenzen. Allerdings unterscheiden sich die Belastungszahlen je nach Art des Delikts: So weisen laut Polizeilicher Kriminalstatistik (PKS) die 14- bis unter 16-Jährigen bei Ladendiebstahl die höchste Belastung auf, die 18- bis unter 21-Jährigen bei Körperverletzungsdelikten. Bei der Wirtschaftskriminalität weist wiederum die Gruppe der 50- bis unter 60-Jährigen die höchsten Raten auf.
Jugendkriminalität ist – bei beiden Geschlechtern – in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen. und fast wieder auf dem Niveau Ende der 1980er Jahre (siehe Abbildung 4). Die Höherbelastung junger Menschen mit registrierter Kriminalität setzt sich, wie Abbildung 3 zeigt, nicht weit in das Vollerwachsenenalter hinein fort. Dieses Muster zeigen auch alle nationalen wie internationalen Statistiken (sog. Age-Crime-Curve). Ein gegen Strafnormen verstoßendes Verhalten bleibt somit für die weit überwiegende Zahl der jungen Menschen eine Episode im Rahmen ihres Reifungs- und Anpassungsprozesses. Jugendkriminalität von heute ist nicht die Erwachsenenkriminalität von morgen.
Bei den Delikten, die junge Menschen typischerweise begehen, handelt es sich mehrheitlich um leichtere Delikte, vor allem im Bereich der Eigentums- und Vermögensdelikte. Das Spektrum der von Erwachsenen begangenen Straftaten ist dagegen deutlich breiter und schwerer als das junger Menschen. Erwachsene – und nicht Jugendliche – sind die typischen Täter des Drogen-, Waffen- und Menschenhandels und weiterer Arten der Organisierten Kriminalität, der Gewalt in der Familie, der Korruption, der Wirtschafts- und der Umweltkriminalität. Derartige Erwachsenendelikte sind allerdings schwieriger zu entdecken und nachzuweisen. Insofern ist die statistische Überrepräsentation junger Menschen auch eine Folge der Unterrepräsentation von Erwachsenen. Jugendliche sind zudem häufiger Opfer als Täter von Gewalt, insbesondere innerfamiliärer Gewalt.
Entwicklung von Jugendkriminalität im Hellfeld – registrierte Kriminalität
Auslöser der kriminalpolitischen Diskussion über Jugendkriminalität war und ist vor allem die deutliche Zunahme der Zahl der polizeilich registrierten tatverdächtigen jungen Menschen in den 1990er-Jahren. Dabei handelt es sich um Straftaten, die der Polizei zumeist durch Anzeigen bekannt geworden sind und zu denen auch ein Tatverdächtiger ermittelt werden konnte, also um Hellfeldkriminalität. Dieses Hellfeld der ermittelten Tatverdächtigen ist ein Ausschnitt aus einem "doppelten" Dunkelfeld – dem der nicht angezeigten Fälle und dem der nicht ermittelten Tatverdächtigen.
Umfang, Struktur und Entwicklung der polizeilich registrierten Fälle hängen fast vollständig von der Anzeigebereitschaft ab. Diese ist deliktspezifisch unterschiedlich hoch. Die Bandbreite reicht laut der letzten, bei der Wohnbevölkerung ab 16 Jahren durchgeführten Opferbefragung von einem Prozent bei Sexualdelikten, über 20 Prozent bei Betrug und 34 Prozent bei Körperverletzungsdelikten bis zu 92 Prozent bei Kfz-Diebstahl. Bei jugendlichen Opfern ist die Anzeigebereitschaft deutlich geringer. In der letzten Befragung in Niedersachsen gaben z.B. nur 12,5 Prozent an, eine "Körperverletzung durch eine einzelne Person" angezeigt zu haben (siehe unten Abbildung 8).
Die Crux jeder auf Hellfelddaten gestützten Aussage zur Kriminalitätsentwicklung besteht also darin, dass unklar bleibt, ob die statistischen Zahlen die Entwicklung der "Kriminalitätswirklichkeit" widerspiegeln oder ob sie lediglich das Ergebnis einer Verschiebung der Grenze zwischen Hell- und Dunkelfeld sind – ob sich also nur das Anzeigeverhalten, nicht aber die Häufigkeit strafbaren Verhaltens geändert hat. Würde zum Beispiel binnen eines Jahres die Anzeigebereitschaft bei "Körperverletzung durch eine einzelne Person" von 12,5 (wie im letzten Niedersachsensurvey) auf 15 Prozent steigen, dann würde die Zahl der registrierten Fälle "dramatisch" um 20 Prozent steigen. Bei einer insgesamt geringen Anzeigebereitschaft hat eine Veränderung also große Auswirkungen auf die Zahl polizeilich registrierter Delikte.
Umfang, Struktur und Entwicklung der registrierten Tatverdächtigen ist darüber hinaus auch noch eine Funktion der Aufklärungsquote. Die Aufklärungsquote (AQ), also der Anteil der Fälle, zu denen ein Tatverdächtiger ermittelt werden konnte, ist delikt- und täterspezifisch unterschiedlich. Im Schnitt werden derzeit 58,7 Prozent der Fälle aufgeklärt.
Inwieweit wird das Bild der registrierten Tatverdächtigen durch die Aufklärungsquote beeinflusst?
Im Sinne der PKS gilt ein Fall als aufgeklärt, wenn er nach dem Ergebnis der polizeilichen Ermittlungen von einem Tatverdächtigen begangen wurde, dessen Personalien (z.B. durch Ausweispapiere) bekannt sind. Die Aufklärungsquote (AQ) bezeichnet das Verhältnis von aufgeklärten zu bekannt gewordenen Fällen im Berichtsjahr. Da die Zeiträume beider Fallgruppen nur teilweise übereinstimmen (nur ein Teil der im Berichtsjahr bekannt gewordenen Fälle wird auch im selben Jahr aufgeklärt, ein großer Teil der aufgeklärten Fälle bezieht sich auf Fälle der Vorjahre), gibt es auch AQ von über 100 Prozent.
Die AQ weist deliktspezifisch eine sehr große Spannweite auf. Im Jahr 2021 lag sie bei vorsätzlichen Tötungsdelikten bei 94,6 Prozent, bei schwerem Diebstahl hingegen nur bei 15,6 Prozent. Innerhalb dieser Deliktsgruppen gibt es je nach Tatmodalität weitere erhebliche Abweichungen. So werden unter dem einfachen Diebstahl (AQ 39,9 Prozent) beispielsweise der einfache Ladendiebstahl (AQ 89,9 Prozent), der einfache Diebstahl an/aus Kraftfahrzeugen (AQ 10,1 Prozent) oder der Diebstahl von unbaren Zahlungsmitteln (AQ 7,5 Prozent) zusammengefasst. Eine überdurchschnittlich hohe Aufklärungsquote weisen naturgemäß Kontrolldelikte auf, bei denen mit der Entdeckung des Delikts zumeist auch der Tatverdächtige ermittelt wird (Ladendiebstahl, Rauschgiftdelikte). Ebenfalls überdurchschnittliche Aufklärungsquoten weisen vorsätzliche Tötungsdelikte auf, die zumeist Gegenstand polizeilicher Schwerpunktbildung sind.
Junge Menschen zeigen eine deutlich höhere Aussage- und Geständnisbereitschaft als Erwachsene und sind im Ermittlungsverfahren seltener durch einen Verteidiger vertreten. Die AQ beeinflusst sowohl Umfang und Struktur der registrierten Tatverdächtigen als auch deren Entwicklung. Denn steigt z.B. die Aufklärungsquote, dann steigt allein durch die Verschiebung der Grenze zwischen unaufgeklärten und aufgeklärten Fällen zwangsläufig auch die Zahl der ermittelten Tatverdächtigen. In den letzten Jahrzehnten haben Delikte mit relativ hoher AQ (z.B. Körperverletzungs- und Rauschgiftdelikte) zugenommen, während der Anteil von Delikten mit unterdurchschnittlicher AQ (z.B. Diebstahl) abgenommen hat. Die Gesamtaufklärungsquote stieg von 42,0 Prozent (1995) auf 58,7 Prozent (2021). Bei unveränderter AQ wären im Jahr 2021 16,9 Prozent weniger strafmündige Tatverdächtige registriert worden. Zu diesen Berechnungen vgl. Heinz 2019, S. 131 f.
Um den Einfluss dieser potenziellen Verzerrungsfaktoren abschätzen zu können, müssen die Ergebnisse von Dunkelfeldstudien zur Ergänzung, Erklärung und etwaigen Korrektur berücksichtigt werden.
In den Daten der PKS wird lediglich das Hellfeld der bekannt gewordenen Fälle und der ermittelten Tatverdächtigen abgebildet. Danach ist die registrierte Kriminalität der Jugendlichen (14 bis unter 18 Jahre), der Heranwachsenden (18 bis unter 21 Jahre) und der Jungerwachsenen (21 bis unter 25 Jahre) nicht nur wesentlich höher als die der Erwachsenen, sie ist bis Mitte der 2000er-Jahre auch stärker angestiegen (siehe Abbildung 4). Diese Anstiege registrierter Kriminalität werden seit einigen Jahren von deutlichen Rückgängen abgelöst. Angesichts der Vielzahl von Bedingungsfaktoren für registrierte Jugendkriminalität gibt es weder für den Anstieg der Jugendkriminalität ab 1990 noch für die aktuellen Rückgänge eine vollständige Erklärung.
In den letzten Jahren haben die Einschränkungen im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie den Rückgang verstärkt. Wo keine Versammlungen stattfinden können, keine Feste gefeiert werden, Schulen geschlossen sind, die Menschen mehr zu Hause arbeiten, gibt es auch insgesamt weniger Tatgelegenheiten für Jugenddelikte. Gestützt auf die Ergebnisse der Dunkelfeldforschung (vgl. weiter unten, Abschnitt "Entwicklung von Jugendkriminalität im Dunkelfeld") ist zudem davon auszugehen, dass ein Teil des Anstiegs in den 1990er und frühen 2000er-Jahren auf eine Zunahme der Anzeigen und damit der polizeilichen Registrierung zurückzuführen ist. Ein kleinerer Teil dürfte auf eine höhere Aufklärungsquote zurückzuführen sein. Auch bei den Rückgängen dürften verschiedene Faktoren eine Rolle spielen: so etwa Schulprojekte zur Gewaltprävention, weniger elterliche Gewaltausübung, eine vermehrte Ächtung von Gewalt und ein Rückgang der Gewaltbereitschaft insgesamt.
Der durch die Pandemie verstärkte deutliche Rückgang der polizeilich registrierten Kriminalität zeigt sich auch bei den Gewaltdelikten im Sinne der PKS sowie bei der vorsätzlichen leichten Körperverletzung.
Dabei können die Gesamtzahlen gegenläufige Entwicklungen bei einzelnen Delikten verdecken. Deshalb ist immer eine Einzeldeliktanalyse erforderlich (siehe Abbildung 5). Bei Raub/räuberischer Erpressung beispielsweise setzten die Rückgänge schon nach 1997 ein; leichte Anstiege nach 2016 wurden durch Rückgänge nach 2019 abgelöst. Vorsätzliche Tötungsdelikte (Mord/Totschlag) bewegen sich bei Jugendlichen auf einem weitgehend unverändert niedrigen Niveau. Jugendgewalt äußert sich vor allem durch Körperverletzungsdelikte, also in leichter vorsätzlicher sowie in "gefährlicher Körperverletzung", die 2021 etwa 50 Prozent aller Gewaltdelikte ausmachte.
Der letztgenannte Straftatbestand deckt freilich ein breites Handlungsspektrum ab, das von der meist folgenlosen gemeinschaftlichen Schlägerei auf dem Schulhof bis zu ernsthaften Verletzungsfolgen reicht. Aber auch diese beiden Deliktsgruppen der Körperverletzung sind nach 2007/2008 deutlich zurückgegangen. Die kurzzeitigen Anstiege zwischen 2015 und 2019 dürften zumindest teilweise auf die konflikthafte Sondersituation mit kurzzeitig stark ansteigenden Geflüchtetenzahlen in den Jahren 2015/2016 zurückzuführen sein. In diesen Jahren stiegen die Belastungszahlen bei Körperverletzungsdelikten sowohl bei deutschen als auch bei nichtdeutschen Jugendlichen an. Der seitherige Rückgang dürfte weitgehend ein Pandemieeffekt sein, bedingt vor allem durch die Kontakteinschränkungen.
Die These, dass zwar die Zahlen rückläufig seien, dafür aber eine "neue" Qualität, also eine zunehmende Brutalisierung eingetreten sei, stützt sich auf persönliche Eindrücke von sachbearbeitenden Beamten. Statistisch lässt sich diese These weder durch Hellfeld- noch durch Dunkelfelddaten bestätigen; diese zeigen vielmehr einen Rückgang der Schwere von Folgeschäden. Auch aus Schulen wird von Lehrerinnen und Lehrern von einer Zunahme von Gewalt berichtet. Aber auch hier zeigen die Daten der Unfallversicherer, dass zumindest Raufunfälle unter Schülerinnen und Schülern, die eine ärztliche Behandlung erforderten, in den vergangenen 30 Jahren insgesamt deutlich abgenommen haben, und zwar in allen Schulformen (siehe Abbildung 6).
Polizeilicher Verdacht, staatsanwaltschaftliche Prüfung und gerichtliche Verurteilung
Die Daten der PKS geben das Ergebnis der polizeilichen Ermittlungen, also die Situation des Verdachts wieder – es handelt sich nicht um Gerichtsurteile. Aufgabe der Staatsanwaltschaft (StA) ist es zu prüfen, ob dieser polizeiliche Verdacht bestätigt und so weit erhärtet werden kann, dass ein für die Anklageerhebung hinreichender Tatverdacht angenommen werden kann. Zu einer Verurteilung kommt es nur, wenn das Gericht von der Schuld überzeugt ist.
Dieser polizeiliche Verdacht führt im weiteren Verfahren nur zu einem geringen Teil zu einer Anklageerhebung. Beim überwiegenden Teil sieht die StA den polizeilichen Verdacht als nicht ausreichend für eine Anklageerhebung an. Bei einem weiteren Teil stellt die StA das Verfahren wegen Geringfügigkeit, oder weil bereits die erforderlichen erzieherischen Maßnahmen getroffen worden waren, ein. Und obwohl die StA bereits einen erheblichen Teil ausfiltert, wird ein weiterer Teil der Verfahren von den Gerichten durch Einstellung oder Freispruch beendet.
Das Strafverfahren – ein Prozess der stufenweisen Entkriminalisierung
Der Weg vom Tatverdächtigen zum Verurteilten ist durch zahlreiche Stufen der Ausfilterung gekennzeichnet. Das Trichtermodell dient dazu, die ungefähren Größenordnungen zu veranschaulichen. Aus methodischen Gründen können keine Untermengen der Tatverdächtigen gebildet werden, sondern nur nicht vollständig übereinstimmende Gruppen – Daten der PKS zu den Tatverdächtigen und Daten der StVerfStat zu den Verurteilten – einander gegenübergestellt werden.
Erstens gibt es eine zeitliche Verschiebung: Die Verurteilten des Jahres 2021 sind keine Untermenge der Tatverdächtigen des Jahres 2021. Wer in der zweiten Hälfte des Jahres 2021 ermittelt wird, wird vermutlich erst im Jahr 2022 rechtskräftig verurteilt werden.
Zweitens verwenden PKS und StVerfStat unterschiedliche Zählweisen. Werden im Berichtszeitraum mehrere Straftatbestände durch mehrere Tathandlungen erfüllt, so wird in der PKS für jeden Tatbestand ein Tatverdächtiger erfasst, in der StVerfStat hingegen nur für den schwersten Tatbestand. Wird bei einem Raubüberfall das Opfer zur Herausgabe von Geld gezwungen und bei der anschließenden Verfolgung ein Verfolger erschossen, so wird der Tatverdächtige in der PKS sowohl wegen räuberischer Erpressung als auch wegen Mordes erfasst, bei den Insgesamt-Zzahlen jedoch nur einmal. In der StVerfStat wird dagegen nur das schwerste Delikt, also Mord, erfasst. Ein Trichtermodell für die räuberische Erpressung wäre deshalb überschätzt, da auch bei einer Verurteilung entsprechend dem Tatvorwurf der PKS in der StVerfStat nur Mord ausgewiesen wird.
Abgesehen von Trichtermodellen mit Insgesamt-Zahlen oder mit vorsätzlichen Tötungsdelikten sind alle anderen Trichtermodelle etwas überschätzt. Das Ausmaß der Überschätzung lässt sich mit den verfügbaren Statistiken nicht ermitteln, weil die Daten der PKS und der StVerfStat nicht personenbezogen einander gegenübergestellt werden können. Nur mit Hilfe von Aktenanalysen lässt sich deliktspezifisch die Ausfilterung erkennen (vgl. Nachweise bei Heinz 2017, S. 447 ff.).
Eine Gegenüberstellung ist unter diesen Einschränkungen nur möglich für die Tatverdächtigen und Verurteilten. Die Staatsanwaltschaft (StA) stellt einen erheblichen Teil der Verfahren ein, teils mangels hinreichenden Tatverdachts, teils wegen geringer Schwere der Tat. Aufgrund der wiederum von der PKS und der StVerfStat abweichenden Zählweise der StA-Statistik ist es nicht möglich, die Art der Erledigung durch die StA darzustellen.
Bei deliktspezifischen Trichtermodellen darf die Differenz zwischen Tatverdächtigen und Verurteilten nicht mit der Zahl der "Nichtverurteilten" gleichgesetzt werden. Denn es ist möglich und sogar wahrscheinlich, dass ein Teil dieser tatverdächtigen Jugendlichen wegen eines anderen, weniger schweren Delikts verurteilt wird. Im Jahr 2021 wurden 173 Jugendliche als Tatverdächtige wegen Mordes oder Totschlags registriert. Verurteilt wurden im Jahr 2021 aber nur 18, also zehn Prozent. Dies bedeutet lediglich, dass von 100 Tatverdächtigen nur etwa zehn wegen eines Delikts verurteilt wurden, das dem polizeilichen Tatverdacht entspricht. Ein weiterer, statistisch nicht erfassbarer Teil dürfte wegen eines anderen, minder schweren Delikts (z.B. Körperverletzung mit Todesfolge, fahrlässige Tötung) verurteilt worden sein.
Dass und in welchem Ausmaß "ausgefiltert" wird, zeigt das "Trichtermodell" am Beispiel der als tatverdächtig registrierten Jugendlichen (siehe Abbildung 7). So standen im Jahr 2021 knapp 155.000 jugendlichen Tatverdächtigen weniger als 39.000 angeklagte Jugendliche gegenüber. Von diesen wurden gut 20.000 verurteilt, davon knapp 4.000 zu Jugendarrest oder unbedingter Jugendstrafe.
Welche strafrechtlichen Sanktionen sind gegenüber Jugendlichen möglich?
Für straffällig gewordene Jugendlichen gilt ausschließlich das im Jugendgerichtsgesetz geregelte Jugendstrafrecht. Für Heranwachsende gelten die meisten Vorschriften des materiellen Jugendstrafrechts, wenn sie in ihrer Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstanden oder "die Tat nach Art, Umständen oder Beweggründen eine Jugendverfehlung ist" (§ 105 JGG).
Das Jugendstrafrecht ist Erziehungsstrafrecht, d.h. es geht nicht primär um Schuldausgleich oder um Generalprävention. Ziel ist es, "vor allem erneuten Straftaten eines Jugendlichen oder Heranwachsenden entgegen[zu]wirken" (§ 2 I 1 JGG). Um dieses Ziel zu erreichen, enthält das JGG ein breites und flexibles Reaktionsinstrumentarium.
Bereits beim Inkrafttreten des JGG im Jahr 1923 wurde das Legalitätsprinzip, das zur Verwirklichung der Schuldstrafe einen unbedingten Anklage- und Verfolgungszwang enthielt, eingeschränkt. Statt einer Verurteilung sollte in minder schweren Fällen oder wenn die erforderliche erzieherische Maßnahme angeordnet oder durchgeführt ist, das Verfahren eingestellt werden.
Die Stärkung dieser informellen Reaktionsmöglichkeiten von Jugendstaatsanwalt und Jugendrichter war eines der wesentlichen Ziele der Reform des JGG von 1990. Vom Gesetzgeber wurde dies u.a. damit begründet, dass "Kriminalität im Jugendalter meist nicht Indiz für ein erzieherisches Defizit ist, sondern überwiegend als entwicklungsbedingte Auffälligkeit mit dem Eintritt in das Erwachsenenalter abklingt und sich nicht wiederholt. Eine förmliche Verurteilung Jugendlicher ist daher in weitaus weniger Fällen geboten. [...] Untersuchungen zu der Frage, inwieweit der Verzicht auf eine formelle Sanktion zugunsten einer informellen Erledigung kriminalpolitisch von Bedeutung ist, haben – jedenfalls für den Bereich der leichten und mittleren Jugenddelinquenz – zu der Erkenntnis geführt, dass informellen Erledigungen als kostengünstigeren, schnelleren und humaneren Möglichkeiten der Bewältigung von Jugenddelinquenz auch kriminalpolitisch im Hinblick auf Prävention und Rückfallvermeidung höhere Effizienz zukommt." Derzeit werden rund 78 Prozent aller jugendstrafrechtlichen Verfahren durch Einstellung mit/ohne Anordnung erzieherischer Maßnahmen beendet.
Bei den verbleibenden 22 Prozent der durch Verurteilung verhängten Sanktionen handelte es sich im Jahr 2021 überwiegend um nicht-freiheitsentziehende Sanktionen, also Weisungen oder ambulante Zuchtmittel. Die Möglichkeiten individualpräventiver Einwirkung sind hier sehr groß und reichen von einer Verwarnung über Therapieangebote, Weisungen zur Lebensführung, Täter-Opfer-Ausgleich usw. bis hin zur Verurteilung zu gemeinnütziger Arbeit oder zur Zahlung eines Geldbetrages. Diese machen 70 Prozent aller Verurteilungen aus. Weitere zehn Prozent waren Jugendstrafen, die zur Bewährung ausgesetzt und einem Bewährungshelfer unterstellt wurden. Verurteilungen zu stationären Sanktionen erfolgten in 20 Prozent, zu Jugendarrest in 14 Prozent und zu unbedingter Jugendstrafe in sechs Prozent.
Das allgemeine Strafrecht, das für einen Teil der Heranwachsenden und für alle Erwachsene gilt, versucht den Spagat zwischen Schuldstrafe und Spezialprävention. Auch hier überwiegen inzwischen mit 52 Prozent die Einstellungen aus Opportunitätsgründen, meist wegen geringer Schwere der Tat. Im Jahr 2021 wurden von den Verurteilten 85 Prozent zu einer Geldstrafe, weitere zehn Prozent zu einer bedingten Freiheitsstrafe und knapp fünf Prozent zu einer unbedingten Freiheitsstrafe verurteilt.
Entwicklung der Jugendkriminalität im Dunkelfeld
Das bisher gezeichnete Bild der "polizeilich registrierten Kriminalität" ist nur ein Ausschnitt der "Kriminalitätswirklichkeit". Zum Alltagswissen gehört, dass nicht jeder anzeigbare Vorfall auch tatsächlich angezeigt wird. Im Niedersachsensurvey 2019 wurden die Schülerinnen und Schüler gebeten, ob sie in den letzten zwei Jahren vor der Befragung Anzeige erstattet haben, wenn sie Opfer einer Straftat geworden sind. Abbildung 8 zeigt, dass ein erheblicher Teil nicht angezeigt wurde. Selbst Gewalttaten werden überwiegend nicht angezeigt, meist wegen geringer Schwere. Viele andere Studien kommen zu ähnlichen Ergebnissen.
Veränderungen bei derart geringen Anzeigeraten haben großen Einfluss auf das Bild der "registrierten Kriminalität". Ob deren Entwicklung eine reale Veränderung oder nur eine Verschiebung der Grenze zwischen Hell- und Dunkelfeld widerspiegelt, lässt sich nur durch regelmäßig wiederholte Dunkelfeldbefragungen prüfen. Ohne derartige Untersuchungen sind nur Spekulationen möglich.
Bei einer geringen Anzeigebereitschaft hat eine Veränderung großen Einfluss auf das Bild der "registrierten Kriminalität" (vgl. Entwicklung von Jugendkriminalität im Hellfeld – registrierte Kriminalität). Anhaltspunkte hierzu liefern derzeit vor allem die Befragungen des KFN. Diese sind allerdings regional und auf Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe 9 beschränkt. In den ersten Jahren handelt es sich um Befragungen in einzelnen Städten, danach um Daten aus der bundesweiten Schülerbefragung 2007/2008, seit 2013 um die alle zwei Jahre durchgeführten repräsentativen Befragungen in Niedersachsen. Unter diesen Einschränkungen deuten die Daten darauf hin, dass die Anzeigebereitschaft seit Ende der 1990er Jahre zunächst stark angestiegen, seit 2008 aber wieder rückläufig ist. Bundesweite Erhebungen werden in Deutschland erst seit kurzem bei repräsentativen Stichproben der Wohnbevölkerung ab 16 Jahren durchgeführt. In den beiden Viktimisierungssurveys von 2012 und 2017 konnten keine statistisch signifikanten Veränderungen der Anzeigequoten ermittelt werden. Der 2020 durchgeführte Survey, der nur bedingt mit den beiden vorherigen Erhebungen vergleichbar ist, soll in Zukunft regelmäßig wiederholt werden. Die in Abbildung 8 dargestellten Ergebnissen der vier Niedersachsensurveys weisen nur in wenigen Jahren statistisch signifikante Veränderungen auf. Insgesamt zeigen sie keine einheitliche Tendenz. Demnach ist der Rückgang der registrierten Jugendkriminalität (siehe Abbildung 4 und 5) nicht auf einen Rückgang der Anzeigebereitschaft zurückzuführen.
Übereinstimmend zeigen diese Studien, dass die Anzeigebereitschaft in der Regel mit zunehmendem Alter steigt und deutlich von der Schwere des Vorfalls abhängig ist. So wurden im Niedersachsensurvey 2019 Körperverletzungen durch eine einzelne Person zu 12,5 Prozent angezeigt, Körperverletzungen mit Waffe zu 20,9 Prozent, Körperverletzungen durch mehrere Personen zu 27,1 Prozent und bei Raub zu 37,7 Prozent.
Die PKS zeigt demnach erstens nur einen Ausschnitt der "Kriminalitätswirklichkeit", der zweitens zu den schweren Deliktsformen hin verschoben ist.
Einen weiteren Anhaltspunkt für die Übereinstimmung von Hellfeld- und Dunkelfeldentwicklungen bei Jugendkriminalität gibt die Entwicklung der Prävalenzraten in den verschiedenen Schülerbefragungen. Ergänzend zu den seit 2013 vorliegenden niedersächsischen Schülerbefragungen kann auf die bundesweit repräsentative Schülerbefragung 2007/2008 zurückgegriffen werden. Da es regionale Unterschiede in der Höhe der Prävalenzraten gibt, ist dieser Vergleich nur unter Vorbehalt möglich. Der Rückgang der Prävalenzraten zwischen 2007/2008 und 2013 ist indes so groß, dass er kaum allein durch regionale Unterschiede erklärt werden kann. Vielmehr deutet er darauf hin, dass auch im Dunkelfeld – und nicht nur im Hellfeld – die Delinquenz der Jugendlichen tatsächlich zurückgegangen ist. In Übereinstimmung mit den Hellfelddaten zeigen die Niedersachsensurveys einen weiteren Rückgang bis 2015 und seitdem einen Anstieg an (siehe Abbildung 9).
Die Schülerbefragungen beschränken sich auf die 9. Jahrgangsstufe, Aussagen über die weitere Entwicklung im Jugend-, Heranwachsenden- und Jungerwachsenenalter sind nicht möglich. Dies ermöglicht jedoch die Duisburger Längsschnittstudie zur Jugendkriminalität, in der die Delinquenzentwicklung der damals durchschnittlich 13-Jährigen bis zu ihrem 26. Lebensjahr dokumentiert wird (siehe Abbildung 10). Die bisherige Auswertung der Daten bis zum Alter von 24 Jahren ergab: "Die Verbreitung delinquenten Verhaltens nimmt bereits bis zum Erreichen des Strafmündigkeitsalters [...] deutlich zu [...]. Leichte bis mittelschwere Delikte wie Ladendiebstähle, Sachbeschädigungsdelikte und einfache Körperverletzungsdelikte lassen sich als ubiquitäre Verhaltensweisen bezeichnen. Der Altersverlauf der Delinquenzverbreitung zeigt, dass das Begehen jugendtypischer Delikte bei den meisten episodenhaft verläuft. Im Sinne der Spontanbewährung gehen die Täteranteile in allen Deliktgruppen schon ab dem 15. Lebensjahr deutlich zurück, bei Mädchen zügiger als bei Jungen, was die Richtigkeit einer weitreichenden Diversion im Jugendstrafverfahren für erstmalige und gelegentliche Täter unterstreicht."
Besondere Tatverdächtigengruppen
Jugendkriminalität wird häufig mit Ausländerkriminalität in Verbindung gebracht. Die Differenzierung nach Art der Staatsangehörigkeit, wie sie in den Kriminalstatistiken erfolgt, ist freilich unbrauchbar. Weder fördert noch hemmt die Farbe des Passes die Kriminalität. Entscheidender sind Integrationsprobleme, defizitäre Lebenslagen, bestimmte soziale Lagen oder kulturelle Wertvorstellungen. Eine stärkere Differenzierung wäre deshalb erforderlich, um eine Vergleichbarkeit mit der Gruppe der Tatverdächtigen mit deutscher Staatsbürgerschaft herzustellen, ist aber auf Grundlage der amtlichen Kriminalstatistiken nicht möglich.
Sind Personen mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit krimineller als Deutsche?
Mit Blick auf die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) scheint die Frage leicht zu beantworten. Im Jahr 2021 waren 12,7 Prozent der strafmündigen Wohnbevölkerung in Deutschland Ausländerinnen und Ausländer, bei den Jugendlichen waren 10,6 Prozent. Im selben Jahr waren jedoch 33,9 Prozent der strafmündigen Tatverdächtigen und 35,9 Prozent der Verurteilten (ohne Straßenverkehr) Ausländerinnen und Ausländer. Bei den jugendlichen Tatverdächtigen waren 22,8 Prozent und bei den Verurteilten 22,0 Prozent Ausländerinnen und Ausländer. Aus diesem Befund der Überrepräsentation von Ausländern sowohl bei den Tatverdächtigen als auch bei den Verurteilten werden teilweise kriminalpolitische Forderungen nach Verschärfung abgeleitet. Dies wird jedoch der Komplexität der Datenlage und des Problems nicht gerecht.
Diese Überrepräsentation relativiert sich zunächst etwas, wenn in die der Statistik vorhandenen Verzerrungsfaktoren korrigiert werden.
Ein Teil der Delikte, wegen derer Ausländerinnen und Ausländer ermittelt und registriert werden, kann praktisch nur von ihnen begangen werden (ausländer- und asylrechtliche Straftaten). Im Jahr 2021 wurden 20,4 Prozent der nicht-deutschen Tatverdächtigen (auch) wegen Verstößen gegen das Aufenthaltsgesetz, das Asylverfahrensgesetz und das Freizügigkeitsgesetz/EU registriert.
Ausländische und inländische Bevölkerung unterscheiden sich deutlich in ihrer Alters- und Geschlechtsstruktur. Insbesondere der Anteil junger Männer, die – zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften – überproportional hoch mit Kriminalität belastet sind, ist bei Ausländern deutlich höher als bei Deutschen.
Die Unterschiede zwischen den Belastungszahlen nach Alter und Geschlecht werden dann zwar geringer, verschwinden aber nicht. Die Schlussfolgerung, dass strafbares Verhalten unter Ausländerinnen und Ausländern verbreiteter ist als unter deutschen Staatsangehörigen, ist jedoch falsch, weil Unvergleichbares miteinander verglichen wird. Jeder seriöse Vergleich setzt voraus, dass Vergleichbares miteinander verglichen wird. Dies ist beim Vergleich von Tatverdächtigen- und Verurteiltenzahlen aus folgenden Gründen nicht möglich:
Die Ausschöpfung des Dunkelfeldes durch Anzeigen geht, so die Befunde in mehreren der Schülerbefragungen des KFN, zu Lasten von Nicht-Deutschen. Die bundesweit repräsentative Schülerbefragung des KFN 2007/2008 ergab z.B., dass deutsche Opfer einen Gewaltübergriff eines deutschen Jugendlichen zu 19,5 Prozent anzeigten, eines nicht-deutschen Täters hingegen zu 29,3 Prozent (Baier at al. 2009, S. 46, zuletzt Krieg 2020, S. 61). Ausgehend von diesen Werten hätten Nicht-Deutsche in vergleichbaren Fällen eine 50-prozentige höhere Anzeigewahrscheinlichkeit als Deutsche.
Ausländische Tatverdächtige werden auch dann in der PKS gezählt, wenn sie nicht in der Wohnbevölkerung erfasst sind (z.B. Touristen, Durchreisende oder Berufspendler/-innen, meldepflichtige, aber nicht gemeldete Nicht-Deutsche). Im Jahr 2021 hatten 5,1 Prozent der Tatverdächtigen ihren Wohnsitz außerhalb des Bundesgebietes. Bei weiteren 3,3 Prozent war der Wohnsitz unbekannt und 4,9 Prozent hatten keinen festen Wohnsitz.
Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft "leben eher in Großstädten, gehören zu einem größeren Anteil unteren Einkommens- und Bildungsschichten an und sind häufiger arbeitslos. Dies alles führt zu einem höheren Risiko, als Tatverdächtige polizeiauffällig zu werden" (PKS 2018, Bd. 3, S. 162 f.).
Hinsichtlich der in den letzten Jahren zugewanderten Flüchtlinge wird auf deren besonders schwierige Lage hingewiesen: "Geflüchtete (sind) häufig in großen Gemeinschaftsunterkünften untergebracht […], in denen u.a. wegen der vorherrschenden Enge, der gemeinsamen Unterbringung unterschiedlicher ethnischer Gruppen und der Anonymität das Risiko von Konflikten und tätlichen Auseinandersetzungen erhöht ist; Geflüchtete verbringen zudem ihre Freizeit häufiger im öffentlichen Raum; die fehlende Tagesstruktur, die fehlende berufliche Tätigkeit bzw. die fehlende Schul- und Berufsausbildung führen zu Langeweile, Frustration und Aggression" (Baier 2020, S. 16). Dunkelfeldbefragungen zufolgen weisen Kriegsflüchtlinge aus Afghanistan, Irak und Syrien eine weit niedrigere Belastung auf als Geflüchtete aus Nordafrika (Maghreb-Staaten). Deren weitaus geringere Bleibeperspektive erhöhe das Risiko, in die Illegalität abzutauchen (Baier 2020, S. 15).
Die beiden letztgenannten Punkte weisen darauf hin, dass "Ausländer" keine homogene Gruppe bilden, sondern dass sich die Zuwanderergruppen in ihrer Binnenstruktur erheblich sowohl hinsichtlich der Altersstrukturen, der Motivationsstrukturen für die Zuwanderung als auch der Integrationsfähigkeit und -bereitschaft erheblich unterscheiden. Die in Erhebungen festgestellten enormen Unterschiede in den Täterraten zwischen den Ausländergruppen belegen, dass "Ausländer" keine sinnvolle Analysekategorie ist. Von "der" Ausländerkriminalität kann deshalb seriös nicht gesprochen werden.
Insgesamt ist unstrittig, dass die in den Kriminalstatistiken messbare Kriminalitätsbelastung der Ausländerinnen und Ausländer deutlich überschätzt wird, dass aber nur in geringem Umfang Möglichkeiten bestehen, diese Überschätzung zu korrigieren. Die "wahre" Kriminalitätsbelastung sowohl der Ausländer insgesamt als auch einzelner Gruppen ist unbekannt.
Die täterzentrierte Betrachtung verstellt nicht zuletzt den Blick darauf, dass Ausländerinnen und Ausländer auch überproportional häufig Opfer von Straftaten sind. Im jüngsten Niedersachsensurvey wurde festgestellt: "Jugendliche mit Migrationsgeschichte sind sowohl in ihrem gesamten Leben als auch in den letzten zwölf Monaten signifikant häufiger Opfer von Eigentums- und Gewaltdelikten geworden als Jugendliche ohne Migrationshintergrund" (Krieg et al. 2020, S. 8).
In der Forschung wird nicht auf den Pass, sondern zumeist auf den Zuwandererstatus abgestellt, also darauf, ob ein Migrationshintergrund vorliegt.
Welche Informationen enthalten die Kriminalstatistiken über Personen mit Migrationshintergrund?
Als "Ausländer" gilt in der Kriminalstatistik, wer nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder staatenlos ist. Die zwischen 1990 und 2005 erfolgte Zuwanderung von (Spät-)Aussiedlern, die bereits kurz nach der Einreise die deutsche Staatsangehörigkeit erhielten, sowie die erleichterte Einbürgerung durch die Änderung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts zum 1. Januar 2000 (Gesetz zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vom 15. Juli 1999) führten dazu, dass die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit für sozialwissenschaftliche Analysen zunehmend an Aussagekraft verlor. Daher wurde in den Sozialwissenschaften verstärkt auf den Migrationshintergrund abgestellt.
In der Bevölkerungsstatistik zählen zu den Personen mit Migrationshintergrund im engeren Sinne "alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem nach 1949 zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil". Die Kriminalstatistiken können aber nicht erfassen, ob ein Migrationshintergrund vorliegt. Dazu müssten die Tatverdächtigen Angaben zu ihren Eltern machen, wozu sie nicht verpflichtet sind.
Staatsangehörigkeit und Migrationshintergrund sind nicht deckungsgleich. Viele Migrantinnen und Migranten besitzen nach Einbürgerung oder Geburt im Inland die deutsche Staatsangehörigkeit. Und umgekehrt sind nicht alle ausländischen Tatverdächtigen Migranten, so sind z.B. straffällige gewordene ausländische Touristen oder Pendler ausländische Tatverdächtige, aber keine Migranten.
Nach den Daten des Mikrozensus 2021 haben mittlerweile 27,5 Prozent der Wohnbevölkerung in Deutschland einen Migrationshintergrund. Davon sind 17,2 Prozent im Ausland geboren, hinzu kommen 10,3 Prozent, die im Inland geboren sind und deren Migrationshintergrund sich aus der Zuwanderung mindestens eines Teils der Familie ableitet. Bei den unter 15-Jährigen haben 40 Prozent, bei den 15- bis unter 20-Jährigen 36,7 Prozent einen Migrationshintergrund, von denen nur noch 11,2 Prozent eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzen (zur näheren Aufschlüsselung und zu weiteren Erläuterungen vgl. Interner Link: https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61646/bevoelkerung-mit-migrationshintergrund/).
Informationen zur Straffälligkeit von Personen mit Migrationshintergrund liegen lediglich aus Dunkelfeldstudien vor. Befragungen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund sind aber nur eingeschränkt valide. Denn gemessen wird immer nur die Selbstbeurteilung und Selbstauskunft. Bei Befragungen von Personen mit Migrationshintergrund und insbesondere Fluchtgeschichte kann nicht nur die sprachliche Verständigung problematisch sein, sondern vor allem ein möglicherweise kulturell geprägtes und vom Aufenthaltsstatus abhängiges Antwortverhalten. Ist der Aufenthaltsstatus unsicher, wird kriminelles Verhalten möglicherweise zurückhaltender berichtet. Systematische Verzerrungen gibt es bei Schülerbefragungen auch durch die Teilgruppe der "Schulschwänzer", die in den Erhebungen fehlen. Diese Gruppe ist häufig ethnisch ungleich verteilt, das heißt es sind darunter mehr Kinder mit Migrationshintergrund, die in den Befragungen nicht erfasst werden.
Unter diesen Vorbehalten zeigen die derzeit vorliegenden Schülerbefragungen:
Ebenso wenig wie von "den" Ausländern kann von "den" Migranten gesprochen werden. Denn die Unterschiede zwischen den verschiedenen Migrantengruppen hinsichtlich Migrations- oder Fluchtmotiv, -prozess und Aufnahmesituation sind enorm. Entsprechend unterschiedlich sind auch die in Befragungen festgestellten Täter- und Opferraten.
Bei Bagatelldelikten und leichter Kriminalität (Fahren ohne Fahrschein, Ladendiebstahl, leichte Eigentumsdelikte, Sachbeschädigung) gibt es kaum Unterschiede zwischen Personen mit und ohne Migrationshintergrund.
Bei den Gewaltdelikten zeigt sich dagegen kein einheitliches Bild. Während in der Duisburger Längsschnittstudie kaum Unterschiede zwischen beispielsweise türkeistämmigen und herkunftsdeutschen Jugendlichen festgestellt werden konnten, gaben in anderen Schülerbefragungen vor allem türkeistämmige Jugendliche zum Teil bis zu doppelt so häufig an, ein Gewaltdelikt begangen zu haben als Schüler ohne Migrationshintergrund; sie wiesen zudem höhere Mehrfachtäteranteile auf. Die deutschlandweit repräsentative Schülerbefragung des KFN aus den Jahren 2007/2008 erlaubte wegen der großen Zahl der Befragten erstmals eine differenzierte Analyse auch kleinerer Migrantengruppen. Die Gewalttäterrate reichte von 17,4 Prozent bis zu 36,7 Prozent. Jugendliche asiatischer und nord-/westeuropäischer Herkunft unterschieden sich hierbei in ihrem Gewaltniveau nicht signifikant von einheimischen Jugendlichen (Gewalttäterrate 17,6 Prozent).
Soweit Wiederholungsbefragungen dieser Studien vorliegen, zeigen sie bis 2015 einen Rückgang der Raten im Gewaltbereich auch bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Von 2015 auf 2017 sind sowohl bei herkunftsdeutschen Jugendlichen als auch bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund signifikante Anstiege zu verzeichnen. Die Veränderungen zwischen 2017 und 2019 sind hingegen nicht signifikant.
Bei der Gegenüberstellung von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund ist freilich zu berücksichtigen, dass sich diese beiden Gruppen in zahlreichen soziodemografischen Merkmalen unterscheiden. Auch bei Jugendlichen ohne Migrationshintergrund gibt es je nach Sozialstruktur Unterschiede. Dies zeigt sich zum Beispiel bei der Häufigkeit und den Formen von Gewalt in Abhängigkeit von der Schulform. Ein Teil der Jugendlichen mit Migrationshintergrund hat beispielsweise gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen verinnerlicht, verfügt über eine geringere Schulbildung, hat häufig eigene Gewaltopfererfahrungen gemacht und ist häufiger von staatlichen Transferleistungen abhängig.
Werden diese sogenannten Belastungsfaktoren, die häufiger bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund auftreten, beim Vergleich berücksichtigt, dann werden die Unterschiede in der Kriminalitätsbelastung geringer oder verschwinden sogar ganz. In der bundesweiten Schülerbefragung 2007/2008 wurde z.B. festgestellt, dass sich die Gewaltraten bei Jugendlichen ohne diese Belastungsfaktoren fast angeglichen haben. Im Niedersachsensurvey 2019 haben sich vor allem die folgenden Bedingungsfaktoren als delinquenzsteigernd erwiesen: Anzahl delinquenter Freunde, Schulschwänzen, elterliche Gewalt, problematischer Alkoholkonsum, Gewaltaffinität und gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen Prävention durch Integration ist daher angezeigt, wobei Integration auch Offenheit der Aufnahmegesellschaft voraussetzt.
Mehrfach- und Intensivtäter
Eine kleine Gruppe von Tatverdächtigen und Verurteilten fällt dadurch auf, dass sie innerhalb eines Jahres mehrere Straftaten begehen. Über das quantitative und qualitative Ausmaß liegen nur wenige genaue Angaben vor, da es keine eindeutige Definition gibt. In verschiedenen polizeilichen Studien und Projekten wurden zum Beispiel Personen als Mehrfachtäter erfasst, die mindestens zweimal im Berichtsjahr mit insgesamt mindestens fünf Straftaten registriert wurden. In anderen polizeilichen Projekten wurde das Kriterium teils weiter gefasst (es genügten bereits drei Straftaten), teils enger (mehr als zehn Ermittlungsfälle waren erforderlich).
In der neueren Forschung wird versucht, diese Gruppe durch quantitative, qualitative und zeitliche Kriterien besser einzugrenzen. Während zu den Mehrfachtätern diejenigen gezählt werden, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums, zum Beispiel eines Jahres, mehrere Delikte begehen, werden Intensivtäter als eine Untergruppe angesehen, die sich beispielsweise durch die wiederholte Verübung von Gewaltdelikten auszeichnet. Die in der Forschung verwendeten Definitionen weichen noch voneinander ab. Ein wesentliches Ergebnis der Längsschnittstudien ist, dass auch bei der kleinen Gruppe der Mehrfach- und Intensivtäter nicht von einer lang andauernden Persistenz, also einem Fortbestehen, sondern von einem generellen Abbruchsprozess auszugehen ist.
In der Duisburger Längsschnittstudie wurden z.B. für das Jugendalter folgende Gruppen unterschieden – die kaum oder nicht auffälligen Jugendlichen (66 Prozent), die mehrfach delinquenten Probanden (15 Prozent) sowie drei Gruppen von Intensivtätern: Im Jugendalter persistente Intensivtäter (8 Prozent), früh aufhörende Intensivtäter (6 Prozent) sowie späte Starter (6 Prozent).. Für alle drei Intensivtätergruppen waren aber nicht Persistenz, sondern Abbruchprozesse kennzeichnend.
Mehrfachauffällige bzw. Intensivtäter sind vor allem männliche Jugendliche. Die Situation dieser Jungen ist typischerweise gekennzeichnet durch soziale und individuelle Defizite und Mangellagen wie "Frühauffälligkeiten im Verhalten, familiäre Probleme, insbesondere auch durch erfahrene und beobachtete Gewalt in der Familie, materielle Notlagen bis hin zu sozialer Randständigkeit und dauerhafter sozialer Ausgrenzung, ungünstige Wohnsituation, Fehlen schulischer Abschlüsse und brauchbarer beruflicher Ausbildungen, dadurch (mit)bedingte subjektive wie objektive Chancen- und Perspektivlosigkeit". Hinzu kommen häufig noch persönliche Probleme durch Alkohol- oder Drogenkonsum.
Weite Teile der Öffentlichkeit und der Politik gehen davon aus, dass Kriminalität und damit die Gefährdung/Verletzung von Opfern dadurch vermieden werden kann, dass diejenigen, die am Beginn einer "kriminellen Karriere" stehen, gezielt behandelt und gegebenenfalls „sicher verwahrt“ werden. Dieser Ansatz ist gescheitert. Denn es ist bislang nicht gelungen, diese kleine Gruppe von Mehrfachauffälligen prognostisch von jenen Jugendlichen zu unterscheiden, die eine Spontanbewährung aufweisen, die also ohne Intervention durch Polizei oder Justiz ihr kriminelles Verhalten aufgeben. Die Forderung nach einem "Wegschließen" mehrfach auffälliger Jugendlicher geht daher zu Lasten einer unverantwortlich hohen Zahl zu Unrecht identifizierter Jugendlicher.
Außerdem gilt auch für die Tätergruppe der Mehrfach- und Intensivtäter, dass – entgegen der Annahme "einmal Verbrecher, immer Verbrecher" – die überwiegende Mehrheit nur in einer begrenzten Lebensphase polizeilich auffällig wird. Die Duisburger Verlaufsstudie hat gezeigt, dass dies nicht darauf zurückzuführen ist, dass die Mehrfach- und Intensivtäter geschickter werden und sich den polizeilichen Ermittlungen entziehen können. Denn auch im Dunkelfeld geht der Anteil der Intensivtäter bereits im Jugendalter deutlich zurück – auch ohne polizeiliche Intervention.
Als Intensivtäter wurden hier alle Jugendlichen eingestuft, die angaben, jeweils fünf oder mehr Gewaltdelikte in den letzten zwölf Monaten verübt zu haben. Diese Gruppe umfasste im 14. bis 15. Lebensjahr sechs Prozent ihrer Altersgruppe, verübte in dieser Gruppe aber über drei Viertel aller Gewaltdelikte. Ab dem 15. (weiblich) beziehungsweise dem 16. Lebensjahr (männlich) ging der Anteil der Intensivtäter durch Spontanbewährung zurück. Im 20. Lebensjahr waren nur noch 1,5 Prozent der männlichen Personen Intensivtäter und im 24. Lebensjahr nur noch 0,7 Prozent (siehe Abbildung 11). Damit wurde zugleich die Annahme widerlegt, dass vor allem Personen, die schon im Kindesalter auffällig werden, auch bis weit ins Erwachsenenalter hinein straffällig sind.
Sozialpolitik als wirksame Kriminalpolitik
"Kriminalität" – und zwar sowohl im Hell- als auch im Dunkelfeld – ist kein naturgegebenes und einfach zu messendes Phänomen. Die Wahrnehmung von "Kriminalität" ist sowohl das Ergebnis gesellschaftlicher Festlegungen als auch von (zumeist) mehrstufig erfolgenden Prozessen, Sachverhalte wahrzunehmen, zu interpretieren und zu bewerten. So gibt es mehrere, sich zumeist nur teilweise überlappende Vorstellungen von "Kriminalität" – entsprechend sind auch mehrere Messinstrumente erforderlich, um sie zu erfassen. Eine rationale Kriminalpolitik wird sich nicht nur auf ein "Bild" verlassen, sondern Ursachen statt Symptome angehen. Sie wird vor allem Prävention statt Repression betreiben und sich der begrenzten Leistungsfähigkeit eines Strafrechtssystems bewusst sein, das immer zu spät kommt und bestenfalls begrenzt wirkt.
Ziele und Mittel von Kriminalprävention
Jede Gesellschaft versucht, die Einhaltung sozialer Normen durch eine Vielzahl sozialer Kontrollmechanismen zu gewährleisten. Polizei und Justiz sind nur eine von vielen Institutionen, das Strafrecht nur eines von vielen Mitteln der Kriminalitätskontrolle, die Strafe bzw. der Jugendarrest nur eine von mehreren Sanktionsmöglichkeiten.
Kriminalitätskontrolle wird auch – und vor allem – von der Familie, der Schule, der Nachbarschaft, den Peer-Groups und der Öffentlichkeit wahrgenommen. An die Stelle staatlicher Sanktionen treten informelle Reaktionen, die von Spott und Missbilligung bis zum Abbruch von Beziehungen reichen. Begrifflich wird daher unterschieden zwischen formaler Sozialkontrolle, die durch Polizei und Justiz ausgeübt wird, und informeller Sozialkontrolle, deren Träger alle anderen (außergerichtlichen) Institutionen sind, die Verhaltenskontrolle ausüben.
Mit der aus der Medizin übernommenen Dreiteilung in primäre, sekundäre und tertiäre Kriminalprävention lassen sich die Zielsetzungen und Zielgruppen sozialer Kontrolle verdeutlichen. Primäre Kontrolle richtet sich an alle Mitglieder der Gesellschaft mit dem Ziel, positives Verhalten zu fördern. Sekundäre Prävention richtet sich an Personen/Gruppen, bei denen Risikofaktoren vorliegen, weshalb durch geeignete Maßnahmen Schutzfaktoren aufgebaut werden sollen. Tertiärprävention richtet sich an straffällig gewordene Personen mit dem Ziel, Rückfälle zu verhindern. Ziele der Prävention können nicht nur Personen, sondern auch Situationen oder Objekte sein (vgl. Heinz 2019, S. 1625 ff.).
Zusammenfassung
Welches der verschiedenen Messinstrumente auch immer gewählt wird – sie zeigen, dass Jugendkriminalität in ihren leichten Formen ubiquitär, also weit verbreitet ist, bagatellhaft und vor allem episodenhaft. Es gibt weder einen empirischen Beleg für eine zunehmende Brutalisierung noch für eine Zunahme des Anteils der Mehrfachtäter. Vor allem zeigen die vorliegenden Zahlen, dass es keinen Anlass für eine Dramatisierung der Jugendkriminalität und für eine Verschärfung des Strafrechts gibt. Die sich nicht nur im Hellfeld, sondern auch bei selbstberichteter Delinquenz abzeichnende Höherbelastung einiger Herkunftsgruppen im Gewaltbereich deutet freilich auf Integrationsprobleme hin, insbesondere im Bildungsbereich, aber auch auf problematische Männlichkeitsnormen. Die bereits vor 100 Jahren aufgestellte These, "Sozialpolitik (stellt) zugleich die beste und wirksamste Kriminalpolitik dar", ist deshalb immer noch und unverändert gültig.
Warum werden junge Männer häufiger kriminell als andere Bevölkerungsgruppen? Welche Zusammenhänge gibt es zwischen Migration und Kriminalität? Ein Interview mit dem Kriminologen Dr. Christian Walburg.
Der Film begleitet drei straffällig gewordene junge Männer vom Tag ihrer Entlassung aus der Justizvollzugsanstalt im brandenburgischen Wriezen über die darauffolgenden drei Jahre.
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Neukölln ist vieles – urbaner Ballungsraum und bürgerliche Vorstadt, Menschen verschiedener Kulturen leben hier. Eine fast unmögliche Mixtur, aber sie funktioniert. Nur wie lange und zu welchem…
Die Bundesregierung bringt Erleichterungen für die Zuwanderung ausländischer Fachkräfte auf den Weg. Die britische Regierung plant massive Einschränkungen des Asylrechts.
Die situative Kriminalprävention erforscht die konkreten Situationen, in denen es zu kriminellem Verhalten kommt. Ziel dieses Ansatzes ist es, Tatgelegenheiten zu reduzieren.
Prof. Dr. Wolfgang Heinz war von 1981 bis zu seiner Emeritierung 2007 Professor an der Juristischen Fakultät der Universität Konstanz. Seine Forschungsschwerpunkte hat er im Bereich der Kriminologie, der Rechtstatsachenforschung, des Jugendstraf- und Wirtschaftsstrafrecht. In zahlreichen empirischen Untersuchungen hat er sich mit Fragen der Jugendkriminalität, der Kriminalstatistik und der strafrechtlichen Sanktions- und Wirkungsforschung beschäftigt. U.a. hat Heinz das Konstanzer Inventar zur Kriminalitätsentwicklung sowie das Konstanzer Inventar zur Sanktionsforschung aufgebaut.