Über kriminelle Jugendliche wurde und wird zu allen Zeiten geklagt. Die wohl schönste poetische Ausdrucksform dieser Klage hat vor 400 Jahren Shakespeare gefunden: "Ich wollte, es gäbe gar kein Alter zwischen zehn und dreiundzwanzig, oder die jungen Leute verschliefen die ganze Zeit: Denn dazwischen ist nichts, als den Dirnen Kinder schaffen, die Alten ärgern, stehlen, balgen."
Jugendkriminalität und "gefühlte" Jugendkriminalität
Diese "gefühlte" Kriminalität stimmt mit der Realität nur begrenzt überein. Befragungsdaten über selbstberichtete Delinquenz, also freiwillige Angaben zur persönlichen Straffälligkeit, zeigen zunächst, dass Jugendkriminalität ubiquitär ist, das heißt im "statistischen Sinne" (wie zum Beispiel Karies) "normal". "Anormal" ist es, dabei erwischt oder deshalb bestraft zu werden. In Schülerbefragungen gaben – in Abhängigkeit vom erfragten Deliktsbereich – teilweise bis zu 70 Prozent an beziehungsweise zu, in den vergangenen zwölf Monaten mindestens eines der dort erfragten Delikte verübt zu haben. In der jüngsten Studie, die 2007/2008 bei einer deutschlandweit repräsentativen Schülerstichprobe in Jahrgangsstufe 9 durchgeführt wurde, war dies bei 43,7 Prozent der männlichen und 23,6 Prozent der weiblichen Befragten der Fall (siehe Schaubild 1). Diese selbstberichtete Delinquenz bietet Einblick in das sogenannte Dunkelfeld, nämlich hinsichtlich jener Delikte, die der Polizei nicht bekannt werden.
Nimmt man auch Schwarzfahren, ein typisches Jugenddelikt, in die Befragung auf, liegen die Zahlen noch darüber: In einer im Jahr 2000 in fünf deutschen Städten beziehungsweise Landkreisen durchgeführten Befragung hatten insgesamt 71,4 Prozent der männlichen und 67,6 Prozent der weiblichen Jugendlichen angegeben, mindestens ein Delikt begangen zu haben; 53,2 Prozent der männlichen und 38,5 Prozent der weiblichen Jugendlichen hatten hierbei auch Schwarzfahren zugegeben. Jugendkriminalität ist danach kein Minderheitenphänomen.
Interner Link: Dunkelfeldkriminalität - Selbstberichtete Delinquenz von Jugendlichen
Schaubild 1: Dunkelfeldkriminalität - Selbstberichtete Delinquenz von Jugendlichen (bpb, Wolfgang Heinz - Konstanzer Inventar Kriminalitätsentwicklung) Lizenz: cc by-nd/3.0/de
Schaubild 1: Dunkelfeldkriminalität - Selbstberichtete Delinquenz von Jugendlichen (bpb, Wolfgang Heinz - Konstanzer Inventar Kriminalitätsentwicklung) Lizenz: cc by-nd/3.0/de
Schaubild 1 zeigt, dass schwere Formen der Kriminalität selten sind. Jugendkriminalität bewegt sich innerhalb eines Kontinuums, an dessen einem Ende die große Mehrzahl der Jugendlichen mit jugendtypischen, wenigen und leichten Delikten steht, und an dessen anderem Ende sich relativ wenige Jugendliche mit vielen und/oder schweren Delikten befinden. Aus Schaubild 1 lässt sich auch ablesen, dass zwischen weiblichen und männlichen Jugendlichen bei einem Delikt wie Ladendiebstahl die Unterschiede in der Begehungshäufigkeit gering sind. Mit der Schwere des Delikts werden aber die Unterschiede größer. Jugendkriminalität ist überwiegend Jungenkriminalität. Diese ist höher und in der Regel schwerer als diejenige der jeweiligen Altersgenossinnen.
Kriminalstatistiken zeigen, dass junge Menschen in jeder Gesellschaft und zu allen Zeiten (insgesamt gesehen) sehr viel häufiger kriminell werden als Erwachsene (siehe Schaubild 2).
Interner Link: Kriminalität im Altersverlauf
Schaubild 2: Kriminalität im Altersverlauf (bpb, Wolfgang Heinz - Konstanzer Inventar Kriminalitätsentwicklung) Lizenz: cc by-nd/3.0/de
Schaubild 2: Kriminalität im Altersverlauf (bpb, Wolfgang Heinz - Konstanzer Inventar Kriminalitätsentwicklung) Lizenz: cc by-nd/3.0/de
Die Höherbelastung junger Menschen mit registrierter Kriminalität setzt sich, wie Schaubild 2 zeigt, nicht weit in das Vollerwachsenenalter hinein fort. Dies zeigen alle nationalen wie internationalen Statistiken. Ein gegen Strafnormen verstoßendes Verhalten bleibt für die weit überwiegende Zahl der jungen Menschen eine Episode im Rahmen ihres Reifungs- und Anpassungsprozesses. Diese Episode wird zumeist ohne Intervention durch Polizei und Justiz beendet.
Bei den von jungen Menschen typischerweise verübten Delikten handelt es sich mehrheitlich um leichtere Delikte, vor allem aus dem Bereich der Eigentums- und Vermögensdelikte. Das Deliktspektrum der Erwachsenen ist demgegenüber wesentlich breiter und schwerer als das junger Menschen. Erwachsene – und nicht Jugendliche – sind die typischen Täter des Drogen-, Waffen- und Menschenhandels und weiterer Spielarten der Organisierten Kriminalität, der Gewalt in der Familie, der Korruption, der Wirtschafts- und Umweltkriminalität. Derartige Erwachsenendelikte sind allerdings schwerer zu entdecken und schwerer nachzuweisen. Insofern ergibt sich eine statistische Überrepräsentation junger Menschen auch als Folge der Unterrepräsentation von Erwachsenen. Jugendliche sind übrigens häufiger Opfer von Gewalt, insbesondere von innerfamiliärer Gewalt, als Täter von Gewalt.
Entwicklung von Jugendkriminalität im Hellfeld – registrierte Kriminalität
Auslöser der kriminalpolitischen Diskussion über Jugendkriminalität war und ist vor allem die deutliche Zunahme der Zahl der polizeilich registrierten tatverdächtigen jungen Menschen seit den 1990er-Jahren. Es handelt sich dabei um Straftaten, die der Polizei bekannt geworden sind, zumeist durch Anzeigen, und zu denen auch ein Tatverdächtiger ermittelt werden konnte. Dieses Hellfeld der ermittelten Tatverdächtigen ist ein Ausschnitt aus einem "doppelten" Dunkelfeld – dem der nicht angezeigten Fälle und dem der nicht ermittelten Tatverdächtigen. Die Aufklärungsrate, also der Anteil der Fälle, zu denen ein Tatverdächtiger ermittelt werden konnte, ist deliktspezifisch unterschiedlich. Im Schnitt werden derzeit 55 Prozent der Fälle aufgeklärt.
In der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) wird lediglich dieser Ausschnitt abgebildet, also das Hellfeld der bekannt gewordenen Fälle und der ermittelten Tatverdächtigen. Den Daten der PKS zufolge ist die registrierte Kriminalität der (deutschen) Jugendlichen (14 bis unter 18 Jahre), der Heranwachsenden (18 bis unter 21 Jahre) und der Jungerwachsenen (21 bis unter 25 Jahre) nicht nur wesentlich höher als die der Erwachsenen, sondern bis Mitte der 2000er-Jahre auch stärker angestiegen (siehe Schaubild 3). Diese Anstiege registrierter Kriminalität sind seit einigen Jahren durch Rückgänge abgelöst worden. Es wird angenommen, dass die in den vergangenen Jahren verstärkten Präventionsbemühungen Wirkung zeigen. Angesichts der Vielzahl von Bedingungsfaktoren für registrierte Jugendkriminalität gibt es weder eine vollständige Erklärung für den Anstieg der Jugendkriminalität ab 1990 noch für die aktuellen Rückgänge. Gestützt auf die Ergebnisse der Dunkelfeldforschung (vgl. weiter unten, Abschnitt "Entwicklung von Jugendkriminalität im Dunkelfeld"), kann begründet angenommen werden, dass jedenfalls ein nicht unerheblicher Teil des Anstiegs in den vergangenen beiden Jahrzehnten darauf beruht, dass vermehrt angezeigt und infolgedessen auch polizeilich registriert wurde. Ein kleiner Teil dürfte Folge einer gestiegenen Aufklärungsquote sein. Auch hinsichtlich der Rückgänge dürften verschiedene Faktoren eine Rolle spielen: Schulprojekte zur Gewaltvermeidung, weniger elterliche Gewaltausübung, vermehrte Ächtung von Gewalt und ein Rückgang der Gewaltbereitschaft insgesamt.
Schaubild 3: Deutsche Tatverdächtige (bpb, Wolfgang Heinz - Konstanzer Inventar Kriminalitätsentwicklung) Lizenz: cc by-nd/3.0/de
Schaubild 3: Deutsche Tatverdächtige (bpb, Wolfgang Heinz - Konstanzer Inventar Kriminalitätsentwicklung) Lizenz: cc by-nd/3.0/de
Interner Link: Deutsche Tatverdächtige nach Altersgruppen
Dieser Rückgang polizeilich registrierter Kriminalität zeigt sich auch bei Gewaltdelikten im Sinne der PKS.
Schaubild 4: Entwicklung der Jugendkriminalität bei Gewaltdelikten (bpb, Wolfgang Heinz - Konstanzer Inventar Kriminalitätsentwicklung) Lizenz: cc by-nd/3.0/de
Schaubild 4: Entwicklung der Jugendkriminalität bei Gewaltdelikten (bpb, Wolfgang Heinz - Konstanzer Inventar Kriminalitätsentwicklung) Lizenz: cc by-nd/3.0/de
Interner Link: Entwicklung der Jugendkriminalität bei Gewaltdelikten
Die These, die Zahlen seien zwar rückläufig, im Gegenzug sei es aber zu einer "neuen" Qualität gekommen, also zu einer zunehmenden Brutalisierung, stützt sich auf persönliche Eindrücke von sachbearbeitenden Beamten. Statistisch kann diese These weder durch Hellfeld- noch durch Dunkelfelddaten bestätigt werden.
Polizeilicher Verdacht, staatsanwaltschaftliche Prüfung und gerichtliche Verurteilung
Die Daten der PKS geben das Ergebnis der polizeilichen Ermittlungen wieder, also die Situation des Verdachts – es handelt sich nicht um Gerichtsurteile. Dieser polizeiliche Verdacht führt im weiteren Fortgang des Verfahrens nur teilweise zu einer Verurteilung. Bei einem erheblichen Teil kann von der Staatsanwaltschaft kein hinreichender Tatverdacht festgestellt werden oder aber das Verfahren wurde von der Staatsanwaltschaft eingestellt, weil der Fall nicht schwer war oder weil bereits die erforderlichen erzieherischen Maßnahmen getroffen worden waren. Dass und wie sehr "ausgefiltert" wird, zeigt das "Trichtermodell" am Beispiel der wegen gefährlicher/schwerer Körperverletzung als tatverdächtig registrierten Jugendlichen (vgl. Schaubild 5).
Schaubild 5: Trichtermodell - Tatverdacht, Verurteilung, Jugendstrafe (bpb, Wolfgang Heinz - Konstanzer Inventar Kriminalitätsentwicklung) Lizenz: cc by-nd/3.0/de
Schaubild 5: Trichtermodell - Tatverdacht, Verurteilung, Jugendstrafe (bpb, Wolfgang Heinz - Konstanzer Inventar Kriminalitätsentwicklung) Lizenz: cc by-nd/3.0/de
Interner Link: Trichtermodell - Tatverdacht, Verurteilung, Jugendstrafe
Entwicklung von Jugendkriminalität im Dunkelfeld
Das bisher gezeichnete Bild der "polizeilich registrierten Kriminalität" ist nur ein Ausschnitt der "Kriminalitätswirklichkeit". Zum Alltagswissen gehört, dass nicht jeder anzeigbare Vorfall auch tatsächlich angezeigt wird. In der bundesweiten Schülerbefragung 2007/2008 wurden bei leichter Körperverletzung 19 Prozent der Delikte, bei schwerer Körperverletzung 37 Prozent von den Schülern angezeigt. Ein erheblicher Teil also wird der Polizei nicht bekannt, bleibt im sogenannten Dunkelfeld.
Das bedeutet gleichzeitig, dass Veränderungen der Anzeigebereitschaft in der Bevölkerung – selbst bei unveränderter "Kriminalitätswirklichkeit" – zu Veränderungen der polizeilich registrierten Kriminalität führen. Würde zum Beispiel binnen eines Jahres die Anzeigebereitschaft bei leichter Körperverletzung von 19 auf 21 Prozent steigen, dann würde die Zahl der registrierten Fälle "dramatisch" um 10 Prozent steigen. Bei einer geringen Anzeigebereitschaft hat also eine Veränderung große Auswirkungen auf die Zahl polizeilich registrierter Delikte (siehe Schaubild 6).
Schaubild 6: Anzeigebereitschaft bei Körperverletzung von Jugendlichen (bpb, Wolfgang Heinz - Konstanzer Inventar Kriminalitätsentwicklung) Lizenz: cc by-nd/3.0/de
Schaubild 6: Anzeigebereitschaft bei Körperverletzung von Jugendlichen (bpb, Wolfgang Heinz - Konstanzer Inventar Kriminalitätsentwicklung) Lizenz: cc by-nd/3.0/de
Interner Link: Anzeigebereitschaft bei Körperverletzung von Jugendlichen
Die Krux einer jeden auf Hellfelddaten gestützten Aussage zur Kriminalitätsentwicklung besteht darin, dass unklar ist, ob die statistischen Zahlen die Entwicklung der "Kriminalitätswirklichkeit" widerspiegeln oder ob sie lediglich das Ergebnis einer Verschiebung der Grenze zwischen Hell- und Dunkelfeld sind – ob sich also lediglich das Anzeigeverhalten geändert hat, nicht aber die Kriminalität. Dies kann nur durch regelmäßig wiederholte Befragungen geprüft werden. Derartige Untersuchungen finden in Deutschland aber (derzeit) weder regelmäßig noch bei repräsentativen Stichproben statt.
Anhaltspunkte, inwieweit Hellfeld- und Dunkelfeldentwicklungen übereinstimmen, geben deshalb gegenwärtig nur Befunde aus wiederholt durchgeführten, aber zumeist auf einzelne Städte beschränkte, regelmäßig auf Schüler beschränkte Befragungen zu selbstberichteter Delinquenz. Entgegen den in der PKS ausgewiesenen Anstiegen zeigen sämtliche neueren, seit Ende der 1990er-Jahre durchgeführten Schülerbefragungen bei keinem der untersuchten Delikte einen Anstieg, die Raten gehen überwiegend sogar zurück, teilweise deutlich.
Besondere Tatverdächtigengruppen
Jugendkriminalität wird häufig auch mit Ausländerkriminalität in Verbindung gebracht. Die Differenzierung nach Art der Staatsangehörigkeit, wie sie in den Kriminalstatistiken erfolgt, ist freilich unbrauchbar. Weder fördert noch hemmt die Farbe des Passes die Kriminalität. Entscheidender sind Integrationsprobleme, defizitäre Lebenslagen oder auch bestimmte soziale Situationen.
In der Forschung wird deshalb nicht auf den Pass, sondern zumeist auf den Zuwandererstatus abgestellt, also darauf, ob ein Migrationshintergrund vorliegt.
Informationen zur Straffälligkeit von Personen mit Migrationshintergrund liegen lediglich aus Befragungen vor. Insgesamt sind Untersuchungen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund begrenzt valide. Denn auch hier spielen Hell- und Dunkelfell eine Rolle: Es ist zum Beispiel zu hinterfragen, ob junge Migranten tatsächlich häufiger straffällig oder nur häufiger angezeigt und entdeckt werden. Aus Opferbefragungen ist beispielsweise belegt, dass die Anzeigebereitschaft höher ist, wenn der Verdächtige nicht der eigenen ethnischen Gruppe angehört.
Unter diesen Vorbehalten zeigen die derzeit vorliegenden Schülerbefragungen:
Für Bagatelldelinquenz sowie leichtere Kriminalität (Schwarzfahren, Ladendiebstahl, leichtere Eigentumsdelikte, Sachbeschädigung) gibt es kaum Unterschiede zwischen Personen mit und ohne Migrationshintergrund.
Hinsichtlich der Gewaltdelikte ergibt sich dagegen kein einheitliches Bild. Während in einer in den Jahren 2002 bis 2009 jährlich wiederholten Duisburger Schülerbefragung zwischen türkischstämmigen und einheimischen Jugendlichen kaum ein Unterschied feststellbar war,
gaben in anderen Schülerbefragungen vor allem türkischstämmige Jugendliche und Befragte, deren Familien aus dem ehemaligen Jugoslawien stammen, zum Teil bis zu zweimal häufiger an, ein Gewaltdelikt begangen zu haben, als Schüler ohne Migrationshintergrund; sie wiesen zudem höhere Mehrfachtäteranteile auf. Die deutschlandweit repräsentative Schülerbefragung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) aus den Jahren 2007/2008 erlaubt wegen der großen Befragtenzahl erstmals eine differenzierte Analyse auch kleinerer Migrantengruppen. Danach unterscheiden sich die Jugendlichen asiatischer und die nord-/westeuropäischer Herkunft in ihrem Gewaltniveau nicht signifikant von einheimischen Jugendlichen: "Die meisten Gewalttäter sind prozentual bei den Jugendlichen aus dem ehemaligen Jugoslawien zu finden. Aber auch bei Jugendlichen südeuropäischer, südamerikanischer, türkischer und italienischer Herkunft ist von deutlich erhöhten Gewalttäteranteilen auszugehen." Soweit es Wiederholungsbefragungen dieser Studien gibt, zeigen sie einen Rückgang der Raten im Gewaltbereich auch bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund.
Bei der Gegenüberstellung von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund ist freilich zu beachten, dass sich diese beiden Gruppen in zahlreichen soziodemographischen Merkmalen unterscheiden. Auch bei Jugendlichen ohne Migrationshintergrund gibt es je nach Sozialstruktur Unterschiede. Dies zeigt sich zum Beispiel bei Häufigkeit und Formen von Gewalt je nach Schultypus. Ein Teil der Jugendlichen mit Migrationshintergrund hat beispielsweise gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen internalisiert, besitzt eine geringere Schulbildung, hat oft eigene Gewaltopfererfahrungen gemacht, ist häufiger von staatlichen Transferleistungen abhängig und so weiter. Werden diese sogenannten Belastungsfaktoren, die häufiger bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund auftreten, beim Vergleich berücksichtigt, dann werden die Unterschiede in der Kriminalitätsbelastung geringer oder verschwinden sogar ganz. So zeigt Schaubild 7, dass sich die Gewaltraten bei Jugendlichen ohne diese Belastungsfaktoren fast angleichen.
Schaubild 7: Gewalttätigkeit und Migrationshintergrund im Kontext der Lebensbedingungen (bpb, Wolfgang Heinz - Konstanzer Inventar Kriminalitätsentwicklung) Lizenz: cc by-nd/3.0/de
Schaubild 7: Gewalttätigkeit und Migrationshintergrund im Kontext der Lebensbedingungen (bpb, Wolfgang Heinz - Konstanzer Inventar Kriminalitätsentwicklung) Lizenz: cc by-nd/3.0/de
Interner Link: Gewalttätigkeit und Migrationshintergrund im Kontext der Lebensbedingungen
Mehrfach- und Intensivtäter
Eine kleine Gruppe von Tatverdächtigen und Verurteilten fällt durch mehrfache Straftatbegehung innerhalb eines Jahres auf. Über die quantitativen und qualitativen Ausmaße gibt es nur wenig präzise Angaben, weil es keine eindeutige Definition gibt. In verschiedenen polizeilichen Studien und Projekten wurde zum Beispiel als Mehrfachtäter erfasst, wer mindestens zweimal im Berichtsjahr mit insgesamt mindestens fünf Straftaten registriert wurde. In anderen polizeilichen Projekten wurde das Kriterium teils weiter (es genügten bereits drei Straftaten), teils enger gefasst (es waren mehr als zehn Ermittlungsfälle erforderlich). In der neueren Forschung wird versucht, durch quantitative, qualitative und zeitliche Kriterien diese Gruppe besser einzugrenzen. Während die mehrfache Deliktsverübung innerhalb eines bestimmten Zeitraums, zum Beispiel eines Jahres, die Mehrfachtätereigenschaft begründet, gelten Intensivtäter als eine Untergruppe, die sich beispielsweise durch die wiederholte Verübung von Gewaltdelikten auszeichnet.
Aber auch hier weichen die Definitionen noch voneinander ab. So wurden in einer etwas anderen Abgrenzung in der bundesweiten Schülerbefragung als Intensivtäter alle Jugendlichen gewertet, die mindestens drei Deliktstypen und insgesamt über zehn Delikte verübt haben. Dies waren 6,5 Prozent aller Jugendlichen, die aber nach eigenen Angaben 51,5 Prozent aller Ladendiebstähle, 55,7 Prozent aller Sachbeschädigungen und 60,6 Prozent aller leichten Körperverletzungen verübt hatten.
Mehrfach auffällig sind vor allem männliche Jugendliche. Die Situation dieser Jungen ist typischerweise durch soziale und individuelle Defizite und Mängellagen gekennzeichnet, wie "Frühauffälligkeiten im Verhalten, familiäre Probleme, insbesondere auch durch erfahrene und beobachtete Gewalt in der Familie, materielle Notlagen bis hin zu sozialer Randständigkeit und dauerhafter sozialer Ausgrenzung,
In weiten Teilen der Öffentlichkeit und der Politik wird angenommen, Kriminalität und damit die Gefährdung/Verletzung von Opfern könne dadurch vermieden werden, dass diejenigen, die am Beginn einer "kriminellen Karriere" stehen, gezielt behandelt und gegebenenfalls sicher verwahrt werden. Dieser Ansatz ist gescheitert. Denn prognostisch ist es bislang nicht gelungen, diese kleine Gruppe von mehrfach Auffälligen von jenen Jugendlichen zu unterscheiden, die eine Spontanbewährung aufweisen, die also ohne Intervention durch Polizei oder Justiz ihr kriminelles Verhalten aufgeben. Die Forderung nach einem "Wegschließen" mehrfach auffälliger Jugendlicher geht deshalb auf Kosten einer unverantwortbar hohen Zahl zu Unrecht Identifizierter.
Außerdem gilt auch für die Tätergruppe der Mehrfach- und Intensivtäter, dass – entgegen der Annahme "einmal Verbrecher, immer Verbrecher" – die große Mehrzahl nur während einer begrenzten Altersphase polizeilich auffällig wird. Die Duisburger Verlaufsstudie hat nunmehr gezeigt, dass dies nicht etwa darauf beruht, dass die Mehrfachtäter geschickter werden und den polizeilichen Ermittlungen entgehen können. Denn auch im Dunkelfeld gehen die Anteile an Intensivtätern bereits im Jugendalter deutlich zurück – auch ohne polizeiliche Intervention. Festgestellt wurde dies durch eine jährlich wiederholte Befragung, die ihren Ausgang nahm bei sämtlichen Schülern, die im Jahr 2002 die 7. Klasse einer Duisburger Schule besuchten. Diese Gruppe ist inzwischen bis zum 22. Lebensjahr befragt worden. Als Intensivtäter wurden hier alle Jugendlichen eingestuft, die angaben, jeweils fünf oder mehr Gewaltdelikte in den letzten 12 Monaten verübt zu haben. Diese Gruppe umfasste im 14. bis 15. Lebensjahr sechs Prozent ihrer Altersgruppe, verübte aber über drei Viertel aller Gewaltdelikte ihrer Altersgruppe. Schon ab dem 15. (weiblich) beziehungsweise dem 16. Lebensjahr (männlich) ging der Intensivtäteranteil im Wege einer Spontanbewährung zurück.
Sozialpolitik als wirksame Kriminalpolitik
"Kriminalität" – und zwar sowohl im Hell- als auch im Dunkelfeld – ist kein naturalistisch gegebener und einfach zu messender Sachverhalt. Was als "Kriminalität" wahrgenommen wird, ist sowohl das Ergebnis gesellschaftlicher Festlegungen als auch von (zumeist) mehrstufig erfolgenden Prozessen der Wahrnehmung von Sachverhalten, deren Interpretation und Bewertung. Es gibt deshalb auch nicht "das" eine Messinstrument. Dementsprechend gibt es mehrere, sich zumeist nur teilweise überlappende "Bilder" von "Kriminalität". Eine rationale Kriminalpolitik wird sich nicht nur auf ein "Bild" verlassen, wird Ursachen statt Symptome angehen, wird vor allem Prävention statt Repression betreiben und die begrenzte Leistungskraft eines Strafrechts in Betracht ziehen, das immer zu spät kommt und bestenfalls begrenzt wirkt.
Zusammenfassung
Welche der verschiedenen Messinstrumente auch immer gewählt werden – sie zeigen, dass Jugendkriminalität in ihren leichten Formen ubiquitär ist, dass sie bagatellhaft und vor allem episodenhaft ist. Einen empirischen Beleg gibt es weder für eine zunehmende Brutalisierung noch für eine Zunahme des Anteils der Mehrfachtäter. Vor allem zeigen die vorliegenden Zahlen, dass für eine Dramatisierung der Jugendkriminalität und für eine Verschärfung des Strafrechts kein Anlass besteht. Die sich nicht nur im Hellfeld, sondern auch bei selbstberichteter Delinquenz abzeichnende Höherbelastung einiger ethnischer Gruppen im Gewaltbereich deutet freilich auf Integrationsprobleme hin, insbesondere im Bildungsbereich. Die bereits vor 100 Jahren aufgestellte These "Sozialpolitik (stellt) zugleich die beste und wirksamste Kriminalpolitik dar",
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